Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, meine sehr verehrten Damen und Herren!


Aus dem alten China erzählt man sich folgende Geschichte: "Ein zum Tode Verurteilter wird aufs Schafott geführt und trifft dort auf einen hochgradig aufgeregten Scharfrichter. Als es diesem auch beim dritten Versuch nicht gelingen will, dem Verurteilten die Augenbinde umzulegen, wendet er sich mit folgenden Worten an den Delinquenten: "Kamerad, du mußt entschuldigen, ich mache das heut zum ersten Mal". Darauf der Delinquent: "Nur keine Aufregung! Ich auch" .

Ohne mich auf eine weitergehende Interpretation einlassen zu wollen, beschreibt die Geschichte doch eine Situation, mit der ich in den vergangenen zwei Jahren des öfteren konfrontiert war. Vieles in dieser Zeit war für mich genauso neu wie für Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten! Grundkurs, Studienfahrt, Abitur (auf der "anderen" Seite) und diese Urerfahrungen setzen sich fort bis in diese Minuten, zu dieser Rede, um die sie mich gebeten haben - eine Ehre, die ich wohl zu schätzen weiß.

Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, und ich haben viele Ereignisse der vergangenen zwei Jahre zum ersten Mal erlebt, aber doch auch anders. Eür mich waren Sie ein Anfang, für Sie der Abschluß Ihrer Schulzeit.

Die großen Anfänge stehen Ihnen noch bevor. Wenn ich nun im folgenden einige meiner "Urerfahrungen" der vergangenen zwei Jahre mitteile, so tue ich dies bewußt im Hinblick auf die Anfänge, die vor Ihnen liegen. Vielleicht fällt Ihnen der eine oder andere Gedanke wieder ein, wenn Sie in einer Anfangssituation stecken.

1. Anfänge sind gemeinhin eine erfreuliche Sache. Da ist der Reiz des Neuen, oft verbunden mit der Freude, das tun zu dürfen, worauf man sich lange Zeit vorbereitet hat. Man sieht sich vor neue Aufgaben gestellt, erfährt eigene Verantwortung, aber auch das Vertrauen derer, die einem die Aufgaben übertragen. Das Selbstbewußtsein steigt, man macht sich mit Schwung an die Arbeit und das ist gut so, denn die Schwierigkeiten lassen nicht lange auf sich warten.

2. Unter diesen sind mir zwei in Erinnerung geblieben. Zum einen die Erfahrung, daß das, was ich theoretisch gelernt hatte, für die Praxis ganz und gar nicht ausreichte. Selbst auf Gebieten, die ich zu meinen ureigensten Wissensbestand gerechnet hatte, entdeckte ich plötzlich Lücken, die zu schließen waren. Es galt nachzulernen und vor allem die Gegenstände so zu durchdringen, daß sie präsentabel waren. Ich kann sagen, daß ich mit Ihnen und für Sie eine ganze Menge gelernt habe.

3. Eine zweite Schwierigkeit, die mir mehr zu schaffen gemacht hat, war das Gefühl, daß ich trotz aller mühevollen Vorbereitung Sie, als mein Publikum, mit dem, was ich für wichtig und Mitteilens-wert hielt, manchmal nur schwer, bisweilen kaum erreichen konnte. Nun weiß man, daß für solche Kommunikationsstörungen die verschiedensten Faktoren verantwortlich sein können, nicht immer sind eindeutig Lehrer oder Schüler schuld. Trotzdem: Demonstrativ zur Schau getragenes Desinteresse bleibt ein Ärgernis, und es schmerzt, wenn Gegenstände, die einem selbst viel bedeuten, unverblümt abgelehnt werden. Etwas mehr Toleranz und Geduld auch gegenüber Inhalten, die einem nicht sofort einleuchtend erscheinen, wären manchmal wünschenswert gewesen.

4. Diese Kritik erscheint mir umso angebrachter, als ich erfahren habe, daß Sie durchaus zu Geduld und Toleranz fähig sind. Ich erinnere mich gern an die kritischen, aber konstruktiven Diskussionen über die Gestaltung des Unterrichts oder auch bei der Planung der Studienfahrt. Daß kontroverse, aber faire Auseinandersetzungen zu für alle Parteien akzeptablen Lösungen führen können, gehört für mich zu den positiven Erfahrungen der letzten beiden Jahre, und ich hoffe, daß Ihnen der Mut, Auseinandersetzungen kritisch und kontrovers zu führen, auch dann erhalten bleibt, wenn Sie sich nicht mehr auf den Rückhalt ihrer Klasse oder ihres Kurses stützen können, etwa in der viel anonymeren Atmosphäre der Universität.

Wenn ich meine Erfahrungen der letzten zwei Jahre im Hinblick auf die vor Ihnen liegenden Anfänge zusammenfassen sollte, so würde ich Ihnen folgende Empfehlungen mit auf den Weg geben:


- Genießen Sie die Anfänge !

- Stellen Sie sich auf Schwierigkeiten ein!

- Begegnen Sie Ungewohntem mit Geduld und Toleranz!

- Versuchen Sie, Konflikte offen und kritisch, aber fair auszutragen!


Es wird viel von Ihnen verlangt, liebe Abiturient1nnen und Abiturienten, bis in die letzten Minuten Ihrer Schulzeit hinein, und weit darüber hinaus.

Und weil soviel verlangt wird, möchte ich Ihnen zum Abschluß einen Gedanken mitgeben, den ich mir von Zeit zu Zeit vornehme, wenn mir meine Aufgaben zu viel werden.

Vielleicht hilft er auch Ihnen, sich bei allem Engagement, das von Ihnen gefordert wird, eine gewisse Leichtigkeit zu erhalten, eine kleine Reserve, die Sie nicht zum Sklaven ihrer Pflichten oder auch Ihre eigenen Absichten werden läßt. Der Gedanke findet sich in einen Gedicht des Schweizer Pfarrers und Dichters Fritz Gafner und schließt an eine Erfahrung an, die Sie vielleicht in den letzten Wochen und Monaten Ihres Schullebens gemacht haben.


Brief

Seit ich weiß,
daß ich nur eine Zeitlang noch da bin,
geht alles viel besser.
Nicht, daß ich meine Pflicht
nun nicht mehr erfüllte;
im Gegenteil: Was man von mir fordert,
das tu ich pünktlich.
Aber ich lache bei mir und denke:
Nur eine Zeitlang noch.
Auch all die sinnlosen Dinge,
die mich so belastet haben,
gehn nun fast leicht von der Hand.
Warum nicht noch diese Zeitlang.
Sogar die Anwürfe von da und dort
treffen mich kaum mehr.
Ich glaube, ich bin auch freundlicher
zu den Menschen.
Es geht mir ganz gut so.
Nur eben gestern fiel mir ein:
Warum denn erst jetzt unbeschwert leben9
Ist man nicht immer
nur eine Zeitlang noch da?

Dr.Dederding