ABITUR 1986 Worte zum Abschied

Könnten Sie sich, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, vorstellen, daß einer von uns Lehrern Ihnen in den letzten Jahren gesagt hätte: Sie arbeiten zuviel oder so intensiv sollten Sie nicht bei der Sache sein, das irritiert mich.

Könnten Sie nicht an Ihrem Weihnachtspullover weiterstricken, damit er noch vor dem Fest fertig wird? Oder gar: Sie sollten wieder einmal eine Zigarettenpause einlegen, damit die enorme geistige Spannung etwas abklingen kann!

Da lächeln Sie jetzt ein wenig, weil ihnen solche Fragen oder Aufforderungen in Verbindung mit Unterricht und Schule geradezu abwegig vorkommen. Und ich räume natürlich auch für mich selbst ein, daß ich in meiner langen Dienstzeit keinen meiner Schüler zur Unaufmerksamkeit stimulieren wollte, allenfalls ironisch - und das sollten Pädagogen ja nun wirklich nicht sein. Was sollen also meine Fragen? Ich lese jetzt ein Gedicht vor; es ist von Bertold Brecht, der Ihnen ja sicher allen gut bekannt ist:


Der Insasse

Als ich es vor Jahren lernte

Einen Wagen zu steuern, ließ mich mein Lehrer

eine Zigarre rauchen; und wenn sie mir

In dem Gewühl des Verkehrs oder in spitzen Kurven

Ausging, jagte er mich vom Steuer.

Auch Witze erzählte er während des Fahrens, und wenn ich

Allzu beschäftigt mit Steuern, nicht lachte, nahm er mir

Das Steuer. Ich fühle mich unsicher, sagte er.

Ich, der Insasse, erschrecke, wenn ich sehe

Daß der Lenker des Wagens allzu beschäftigt ist

Mit Lenken.


Ist dies nicht ein Gedicht mit vielen widersprüchlichen Aussagen? Viele von Ihnen haben wahrscheinlich mittlerweile auch ihren Führerschein gemacht und denken jetzt etwas überrascht: Wie kann der Beifahrer sich unsicher fühlen, gar erschrecken deswegen, weil der Fahrer besonders intensiv mit dem Fahren beschäftigt ist, weil er sich durch nichts und niemanden ablenken läßt, weil er, um sicherer zu lenken, auch die erloschene Zigarre nicht wieder anzündet oder durch eine frische ersetzt?

Mich irritiert auch die Zigarre in diesem Gedicht: Steht dieser Genuß, das Urbild deutscher Behaglichkeit, nicht in einem ganz besonderen Widerspruch zur Hektik des Fahrens. Aber Sie haben richtig gehört. B. Brecht spricht in der Tat von Zigarre, nicht von Zigarette. Diese könnten sich zumindest die Raucher unter Ihnen recht gut in diesem Zusammenhang vorstellen. Von einer Erklärung bin ich trotzdem noch weit entfernt, und so wäre ich also am Ende meines Lateins und müßte erklären: Ich komme mit diesem Gedicht nicht zurecht und kann es nur aus der Zeitsituation heraus erklären. Es ist im Jahr 1935 entstanden, als die Autos noch nicht so schnell fuhren und auch noch nicht so viele. Wenn ein Lehrer wie ich allerdings so tut, als könne er ein Gedicht überhaupt nicht verstehen, dann ist da natürlich etwas faul: Ich habe nämlich das Gedicht nicht ganz vorgelesen, aber das hole ich jetzt nach. B. Brecht fährt also fort:

Seitdem beim Arbeiten

Sehe ich zu, mich nicht allzu sehr in die Arbeit

zu vertiefen.

Ich achte auf mancherlei um mich herum

Manchmal unterbreche ich meine Arbeit, um

ein Gespräch zu führen.

Schneller zu fahren als daß ich noch rauchen kann

Habe ich mir abgewöhnt. Ich denke an

Den Insassen.

Sie merken jetzt, worauf ich hinaus will.

"Ich sehe zu, mich nicht allzu sehr in die Arbeit zu vertiefen, ich achte auf mancherlei um mich herum". Hier ist nicht von oberflächlicher Fahrweise die Rede, auch nicht von Nachlässigkeit, nur von dem "um ihn herum", das wahrgenommen wird. Wenn nicht mit verbissener Intensität gelenkt oder gearbeitet wird, dann nur deswegen, weil es außer-halb der eigenen Person noch etwas gibt, was man sehen, nicht vernachlässigen sollte. Ich unterbreche meine Arbeit, um ein Gespräch zu führen" - der Nachbar, in der Sprache der Bibel der Nächste, wird nicht nur bemerkt, man setzt sich eine Weile mit ihm zusammen, führt ein Gespräch mit ihm. Allein der Ausdruck macht ja schon deutlich: Es wird nicht nur oberflächlich parliert, die Gedanken des anderen regen zu eigenem Nachdenken an, sie helfen, Entscheidungen zu fällen, ermöglichen einen Dialog. Hier hört man zu und äußert sich auch selbst. Am Ende muß keine großartige Lösung stehen, aber ganz sicher sind zwei Menschen einander etwas näher gerückt. -"Schneller zu fahren, als daß ich noch rauchen kann, habe ich mir abgewöhnt". Wir sind natürlich nicht aufgefordert, uns das Rauchen anzugewöhnen. Im Jahr 1935 ist das Rauchen freilich das selbstverständliche Attribut des Mannes bzw. der Dame von Welt. Denken Sie nur an ältere Filme! Warum also wird geraucht? Die entscheidende Aussage liegt für mich im letzten Satz des Gedichts. Sie ist ganz kurz, aber bei B. Brecht ist Ihnen das sicher häufiger begegnet. Ich zitiere noch einmal: "Ich denke an den Insassen". Dieses Satzes wegen bin ich heute ein wenig auf dieses Gedicht eingegangen. Ich könnte ihn jetzt einfach so stehen lassen und Sie auffordern, selber darüber nachzudenken. Aber ich werde trotzdem noch kurz versuchen zu verdeutlichen, worum es mir geht: Schule ist sicherlich immer ein getreues Abbild des bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse gewesen. Wie könnte es auch anders sein? Was mir im großen bundesweit erleben, spiegelt sich in der kleinen und überschaubaren Welt der Schule. Wir beschwören die Gemeinschaft, den Gemeinschaftssinn und wissen gleichzeitig, daß die Welt um uns herum fast ausschließlich von Egoismen und Vorteilsdenken gelenkt wird. Die Schule und gerade die Kollegstufe fällt nicht aus diesem Rahmen. Verbal sind wir natürlich völlig auf der Höhe der Zeit und versuchen durch die Begriffe allenfalls zu verschleiern, sind weit davon, entfernt diese auch zu leben. Wir setzen mit der Sprache Zeichen, sind aber davon überzeugt, daß primär der andere darauf eingehen sollte. Im Gedicht machen der Fahrer und der Insasse Lernvorgänge durch, weil sie sich beide an den Zeichen orientieren. Beide erkennen die Schwierigkeiten des anderen und beide gehen aufeinander zu, ganz besonders aber der, der die Hauptverantwortung trägt. "Schneller zu fahren als daß ich rauchen kann, habe ich mir abgewöhnt" - ich ergänze: mit Rücksicht auf den anderen und die eigene Sicherheit. Wer nur an sich denkt, kann mit dem anderen nicht ins Gespräch kommen, aber er verkennt gleichzeitig, was für ihn selber von entscheidender Wichtigkeit ist. Wir sitzen, so behaupten unsere Politiker, spätestens seit Tschernobyl alle in einem Boot und sollten die gemeinsame Gefährdung bedenken. Gleichzeitig haben sie aber selbst vorwiegend den nächsten Wahltag im Auge und überlegen aus wahltaktischen Gründen, welche Aussage dem Sitz im Parlament oder in der Regierung am dienlichsten sein könnte.

Wer denkt da schon an den Insassen? Erinnern wir uns alle an Ihn nicht nur dann, wenn wir ihn brauchen, für unsere eigenen Zwecke, um eigenen Vorteil aus seinem wie immer gearteten Kapital zu schlagen?

Der Schulleiter ist sozusagen von Amtswegen verpflichtet, an alle Insassen seiner Schule zu denken. Und trotzdem werden Sie natürlich sagen, daß auch er gelegentlich taktiert, einzelne Insassen nicht in genügender Weise berücksichtigt. Er widerspricht Ihnen nicht. Die Kollegiaten eines Gymnasiums sind vielfach nur noch Einzelkämpfer. Im Rennen um möglichst viele Punkte bleibt die Rücksicht auf die anderen Insassen auf der Strecke. Wahrscheinlich sind wir alle - jeder auf seine Weise - daran schuld. Deswegen möchte ich Ihnen heute zum Abschied aus der Schule noch einmal nahelegen, und an Sie appellieren: Achten Sie bitte auf den Insassen, auf die Insassen. Ich bin sicher, Sie werden rasch erkennen:

Das Sehen und Zur-Kenntnis-Nehmen des anderen ist kein lästiger Zwang, dem man sich aus taktischen Gründen unterziehen muß. Das Gespräch mit dem Insassen und das Eingehen auf ihn wird Ihnen Erkenntnis und Zufriedenheit bringen, Sie werden sich nicht belästigt oder überfordert fühlen, sondern ganz das Gegenteil davon.

Unsere Welt ist in hohem Maße gefährdet, aber allzu sehr achten wir nur auf das Spektakuläre, auf Atomkraftwerke und Atombomben, auf Wiederaufbereitungsanlagen und Endlager. Ich halte die Probleme, die sich zwangsläufig daraus ergeben, wahrlich nicht für gering.

Aber ich sehe auch einen Auflösungsprozeß in unserer Gesellschaft ebenso wie im Mikrokosmos der Familien, Schulen, Klassen und Kollegstufengruppen. Es dürfte Ihnen nicht schwer fallen, noch weitere Gruppierungen, wo Sie Ähnliches feststellen können, aufzuzählen. Dieser Auflösungsprozeß hat wohl nicht zuletzt darin seine Ursache, daß wir alle nur ausschließlich uns selber sehen, Selbstverwirklichung mit Egozentrik verwechseln und erwünschte Eigenständigkeit mit Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber. Deshalb ein letztes Mal mein Appell: Lassen Sie die Insassen, mit denen Sie leben oder die Ihnen anvertraut sind, nicht aus dem Auge, jede und jeder von Ihnen an seinem Teil. vielleicht wird auch dadurch unsere Überlebenschance wieder ein wenig realistischer und unser Zusammenleben menschlicher.

Möhrlein