Ansprache des Abiturienten Rainer Hertwig

Sehr geehrte Eltern, sehr geehrte Lehrer, sehr geehrter Herr Direktor, sehr geehrter Herr Kollegstufenbetreuer, servus Kollegiaten!

Es ist eine große Verantwortung, hier als einziger Schüler eine Abiturrede zu halten, und ich fühle mich dieser Verantwortung auch nicht unbedingt gewachsen. Darum soll das jetzt auch keine wichtige und großartige Rede werden, sondern nur eine kleine, schäbige.

Ich mag nämlich keine harmonischen Abiturfeiern. Ich finde, es ist einfach Heuchelei, wenn man 13 Jahre immer wieder Konfrontation erlebt hat und man nun plötzlich versucht, all das den Eltern zuliebe in Sentimentalität zu ertränken. "Ach es war ja doch ganz schön, und ich trag es dem Lehrer auch gar nicht mehr nach, daß er immer wieder versuchte, mich vor der Klasse bloßzustellen".

Weiterhin stelle ich es den hier Anwesenden frei, jetzt schon den Saal zu verlassen - sozu­sagen zur Prophylaxe. Doch ich glaube nicht, daß es Probleme geben wird, denn viele von Ihnen sind es ja gewohnt, unangenehme Wahrheiten zu ignorieren.

Außerdem möchte ich vermeiden, mir einen bestimmten Lehrer oder Schüler herauszupicken, um ihn genüßlich zu sezieren. Darum belasse ich es dann lieber bei gnadenlosen Verallgemeinerungen und Rundumschlägen.

Ich will nicht fair sein, für eine sachliche differenzierte Argumentation ist zu wenig Zeit und es ist wohl auch zu spät. Die Diskussion über den Umgang zwischen Lehrern und Schü­lern ist an ganz anderer Stelle zu führen und wurde auch schon oft genug an dieser Stelle versäumt.

Es haben übrigens auch einige Lehrer das Gespräch gesucht. Das mag Sie überraschen. Es gibt Lehrer, mit denen man sich sehr gut unterhalten kann. Die nicht dauernd ihre Macht und Autorität beweisen müssen, die Noten nicht als Züchtigungsinstrument für vorlaute Schüler verwenden. Solche Lehrer nehmen den Schüler ernst mit seinen Problemen und Sor­gen, auch wenn es mir und meinen Kollegen oft zu spät aufgefallen ist, daß diese Lehrer es gut mit uns meinten. So waren oft peinliche Ausfälle von Seiten der Schüler dran schuld, daß die Verständigung stockte.

Jedenfalls sind diese Lehrer immer noch mehr Mensch geblieben, und ich finde, das sollte man respektieren und deshalb kommen sie in meiner Rede nicht vor. Die anderen möchte ich aber bewußt nur als Lehrer und nicht als Pädagogen bezeichnen, obwohl sich viele einbilden, sie wären es.

Ich habe mir eingebildet, daß man von erwachsenen Menschen, noch dazu studierten, etwas mehr Verständnis für die Probleme und gelegentlichen Disziplinlosigkeiten der Schüler er­warten könnte, daß sie den Vorbildcharakter, den sie ständig beschwören, auch ab und zu in die Tat umsetzen würden. Aber oft genug zeigen sie genausowenig Takt und Gespür im Um­gang mit Schülern wie andersherum die Schüler im Umgang mit Lehrern. Nur den Schülern fehlt die immense Lebenserfahrung, die uns die Lehrer nun wirklich voraus haben. Aber was soll man auch anderes erwarten, wo man sich in einem System befindet, dessen Attraktivität sich nicht durch ideelle oder moralische Ansprüche ausdrückt, sondern in einer Werteskala von 0 - 15 .

Ich habe auch noch ein paar aufbauende Worte zum Thema Direktor parat. Der Direktor, sozusagen der Überlehrer, der Mann hat wohl den schwersten Job in der ganzen Schule. Alle wollen sie was von ihm. Die Lehrer, die Schüler, die Eltern, der Hausmeister und die Vorgesetzten. Kein Wunder also, daß er bei Konflikten dazu neigt, der Seite, die den größ­ten Druck ausüben kann und mit der er auch noch eine Weile zusammenarbeiten muß, Recht zu geben. Seine Entscheidungen wenden sich also fast zwangsläufig gegen das schwächste Glied der Kette, den Schüler. Aber um so lobenswerter ist es, daß manche Direktoren sich den Standpunkt der Schüler wenigstens anhören und ganz im Gegensatz zum üblichen Phäno­men des Mauerns sogar Einsichten zeigen und die Argumente der Schüler ernst nehmen. Dafür möchte ich mich bedanken.

Das hier angesprochene Phänomen oder auch Prinzip des Mauerns ist ein durchdachter psycho­logischer Trick mit dem Lehrer normalerweise unangenehme Probleme verdrängen. Der Fach­mann unterscheidet hier zwei Varianten:

Erstens, falls sich im Konfliktfall eine offene Aussprache nicht mehr vermeiden läßt, hört sich der Lehrer die Probleme und Beschwerden der Schüler an, gibt ihnen vielleicht in einigen Punkten recht, nickt, zeigt Verständnis, wartet bis es gongt, geht hinauf ins Lehrer­zimmer und kaum, daß er die Schwelle übertritt, hat es das Ganze schon vergessen. Echte Profis unter den Lehrern schalten bei der aufziehenden Gefahr einer offenen Aussprache schon von vornherein auf Durchzug und sparen sich die mühevolle Verdrängungsarbeit. Die zweite Methode ist vielleicht etwas plump aber ebenso wirkungsvoll. Hier läßt es der Lehrer gar nicht erst zu einer Aussprache kommen, sondern er brüllt die Klasse gleich nieder, wird ein bißchen rot im Gesicht oder er kündigt eine unangekündigte Ex an. Und wenn das alles nichts hilft, verteilt er Verweise wegen ungebührlichen Betra­gens.

So wurden und werden immer wieder viele Verständigungsversuche erfolgreich unterdrückt. Ärgerlich wird das Ganze dann nur, wenn die Schüler partout der Meinung sind, daß ihre Beschwerden gerechtfertigt wären. Ihnen bleibt nur übrig, in der Hoffnung, daß dem Nicken endlich auch mal Einsichten folgen mögen, immer wieder festzustellen, daß man an eine Wand oder in den Wind gesprochen hat. Und der Sturmwind, der einem aus dem Lehrerzim­mer manchmal entgegenbläst,ist leider ziemlich eisig.

Und hier komme ich zur Erklärung des R-Wertes, der sogenannten Resignationskonstanten. Sie gibt die Anzahl der nutzlosen Bekehrungsversuche an, die ein Schüler braucht, um einzusehen, daß er ja doch nichts ändern kann. Und daß jedes weitere Insistieren auf der eigenen Meinung nur eine Schwächung der schulischen Leistungen zur Folge hat. Und wenn der Schüler dann aufgegeben hat, bemerkt er plötzlich, wie einfach es ist, nur dazusitzen, zu konsumieren und in Lethargie zu verfallen. Ich selbst machte immer wieder die Erfahrung, wieviel dankbarer es ist, nur Mist zu bauen, als verantwortlich zu handeln. Und so hat es dann auch die Praxis gezeigt.

Viele Schüler kamen nur in die Schule, um ohne große Pannen Jahr für Jahr hinter sich zu bringen, nur nicht anecken, nur nicht auffallen. Sie haben die Schule wohl immer nur als "Lernfabrik" gesehen und auch so behandelt. Andererseits wurden sie auch nicht gerade er­muntert, sie als etwas anderes zu betrachten. Der Umfang dieser Gruppe läßt sich viel­leicht ersehen aus der eher geringen Bereitschaft unserer Schülerschar, an der Abizeitung, Schülerzeitung oder SMV mitzuarbeiten. Viele haben wohl nicht begriffen, daß Spaß an der Schule auch eine Frage der Eigeninitiative ist.

Es gab auch andere, die immer auffielen, immer Lärm machten. Sie ordneten sich nicht unter und wurden deshalb oft vorzeitig aussortiert.

Dann gab es auch noch die Einzelkämpfer, die kleinen Rambos unter den Schülern. Diesen Ellenbogenfanatikern war keine Anstrengung zu groß und keine Anbiederung zu dreckig, um sich auf dem Weg zum schulischen Erfolg irgendwo im pädagogischen Darmtrakt fest­zubeißen. Ihre Abiturnote berechnet sich einfach aus der Höhe ihrer jährlichen Schleim­produktion.

Bei anderen wiederum flackerte zwischendurch mal so etwas wie Zivilcourage und Engage­ment auf. Dann setzte man sich in eine Ecke und wartete, bis der Anfall vorbei war. Manchmal hielt ein Schüler sein Engagement eisern durch. An dieser Stelle möchte ich all den Kollegen danken, die sich für längere oder kürzere Zeit trotz allem - und vielleicht gerade deshalb - für schulische Belange einsetzen.

Aber, was ein Schüler auch tat und anstellte, es hatte doch immer denselben Effekt. In der 12. Klasse war die Lethargie schon Volkskrankheit und von allen Seiten hörte man: "Warum sich noch aufregen, ist doch sowieso bald vorbei".

Und genau das ist es jetzt auch, liebe Eltern, die Schule respektive das Gymnasium ist vorbei.

Und zu diesem Zeitpunkt möchte ich auch an Sie erinnern, liebe Eltern. Sie, die Sie lange Jahre mit uns um den schulischen Erfolg gebangt haben. Mit unglaublichem Durchstehver­mögen haben sie Sprechstunden, Elternsprechtage und Elternabende hinter sich gebracht und mit allen Mitteln versucht, ihren Sprößling zu protegieren. Ich erinnere mich da gern zurück:

Was gab das nicht für eine Aufregung als Klein-Helmut eine Zwei in Mathematik heim­brachte. "Wo er doch sonst immer nur Einser geschrieben hat", wie die Mutter glaubhaft versicherte. Da wurde dann in höchster Not schon nach einem Hauslehrer telefoniert. Oder wie war Mutter entsetzt, als Klein-Erna eine Fünf in Religion hatte. In diesem Falle war alles Lernen und Üben sinnlos. Aber wie konnte die besorgte Mutter ahnen, daß Erna in den nächsten zwei Jahren nur einmal über die Fünf hinauskam. Das alles nur, weil Erna nicht verstand, daß, wenn in der Schulaufgabe die persönliche Meinung gefragt wird, darun­ter die des Lehrers zu verstehen ist. Dieser tragische Irrtum kam dem armen aber sturen Kind teuer zu stehen.

Und weinte Frau X nicht bittere Zähren, als Jens-Uwe das Klassenziel nicht erreichte. Wegen Mathe und Chemie. Nur weil beide Fächer vom selben Lehrer unterrichtet wurden und Jens-Uwe garantiert dann abgefragt wurde, wenn er gerade nicht aufgepaßt hatte. Dabei war Jens-Uwe durchaus nicht dumm. Der Lehrer mochte ihn bloß nicht. Warum weiß ich nicht; an der niedlichen Punkfrisur konnte es jedenfalls nicht gelegen haben.

Da gab es auch Fälle von Schülern, die sich gar nicht besonders anzustrengen brauchten, gute Zensuren zu bekommen, weil der Lehrer der Meinung war, sie hätten von dem Fach eine Ahnung. Da gab es Klein-Gerda, die im Kunstunterricht schon für jeden Furz eine Eins bekam. Oder jener Grundkurs, der regelmäßig die Fragen in den Schulaufgaben erst nach einigen Rücksprachen und im neckischen Frage-Antwort-Spiel verstand. Es gab da auch noch ... Aber es reicht jetzt ja wohl langsam. Auch wenn das alles nur böswillig sein sollte, sollten Sie, liebe Eltern, daran denken, bevor sie dann nachher an­fangen, mit Kommasteilen zu protzen.

Und bevor die ersten von ihnen anfangen, zu gähnen und auf die Uhr zu schauen, mache ich lieber Schluß. Und weil ich es gelernt habe, als braver Gymnasiast bei Reden und Refera­ten ein nettes Zitat von Goethe/Schiller oder so zu bringen, will ich dies auch jetzt tun. Und zwar ein Zitat von Bert Brecht aus der Dreigroschenoper:


Man schlage ihnen ihre Fressen
mit schweren Eisenhämmern ein.
Im übrigen will ich vergessen,
und bitte sie, mir zu verzeihn.