Mit den 95 Thesen gegen den Ablaßhandel hatte Luther
ein Feuer angezündet, dessen Ausbreitung ihn selbst überraschte.
"Schier in vierzehn Tagen liefen sie durch ganz Deutschland,"
sagt er selbst und sein Zeitgenosse Myconius bezeugt: "In
vier Wochen hatten sie schier die ganze Christenheit durchlaufen,
als wären die Engel selbst Botenläufer." Fast überall
wurden sie mit jubelnder Zustimmung aufgenommen; jeder fühlte,
daß hier den Gedanken und Stimmungen, welche sich in aller
Herzen regten ein offener kühner Ausdruck gegeben war. Wie
von einer drückenden Last befreit atmete alles auf und begrüßte
dankbar den Befreier von einem Joche, das man bisher widerwillig,
aber ohne Hoffnung auf Erlösung getragen hatte. Was Luther
lediglich als Gegenstand gründlicherer theologischer Erörterung
betrachtet hatte, wurde zur Sache des ganzen Volkes. Die allgemeine
Strömung riß auch die zaghaften und schwächlichen
Freunde Luthers mit sich, aber rief ebenso - nach einigem teils
aus vornehmer Gleichgültigkeit, teils aus Selbsttäuschung
über den Ernst der Bewegung stammenden Zögern - den
heftigen Widerspruch der offiziellen römischen Kirche hervor.
In den scharfen Disputationen mit Gegnern und freundschaftlichen
Verhandlungen mit Wohlgesinnten rang sich Luther zu immer größerer
Klarheit durch. Unter schweren inneren Kämpfen riß
er sich von den alten liebgewordenen Anschauungen los. Mit Schrecken
erkannte er den großen Widerspruch zwischen der gegenwärtigen
Form der Kirche und dem ursprünglichen Christentum, und was
er erst nur unbestimmt gefüllt, wurde ihm Schritt für
Schritt sichere Gewißheit: die Notwendigkeit einer Reformation
der Kirche und des ganzen christlichen Lebens. Er, der
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"immer den stillen Winkel geliebt und lieber einem schönen
Kampf der Geister zuschaute, als selber zu einem Schauspiel zu
werden," wurde von höherer Hand in den offenen Kampf
gegen daß Althergebrachte geführt. Und nun brach er
mit Heftigkeit los, mit einer Kraft, die den gewaltigen Reichtum
seines tiefen Geistes offenbarte, und immer kühner und feuriger
predigte er mit Wort und Schrift das alte unter dem Schutt der
römischen Lehrsatzungen neu entdeckte Evangelium. Er gab
die großen Reformationsschriften heraus die von des christlichen
Standes Besserung, die den deutschen Kaiser und Adel zur Reform
aufruft; die von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche,
die gegen das äußerliche Kirchentum und die geistlichen
Bande, mit denen Rom in seinen Gnadenmitteln die Seelen knechtet,
den alleinseligmachenden Glauben in sein Recht einsetzt und die
Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen, eine Schrift,
die nach Hases schönem Worte "erhaben über den
Streit und doch die ganze Reformation im Herzen" innig und
tief den festen Grund des christlichen Glaubens und Lebens aufweist,
auf dem Luther selbst stand und zu dem er sein Volk zurückführen
wollte. Dann wurde die Verbrennung der Bannbulle vor dem Elstertore
Wittenbergs das Feuerzeichen seiner unwiderruflichen Lossagung
von Rom, und auf dem Reichstage zu Worms legte er das unerschrockene
Bekenntnis seines in Gottes Wort gebundenen Gewissens ab.
Die Saat seines Wirkens ging in vollen Ähren auf. Eine ungestüme
Bewegung ergriff das deutsche Volk und erregte es in seinen Tiefen,
ein Strom entbrach der Quelle, der seine Wellen durch das ganze
Land ergoß und, ob auch vielfach trübe und unrein,
doch befruchtend weite Gebiete überflutete. Politische und
soziale Leidenschaften wurden entfesselt, eine neue, goldene Zeit
auf allen Gebieten des menschlichen Lebens schien heraufzuziehen,
"den Fürsten wurden Kirchengüter, den Priestern
Weiber, den Völkern Freiheit geboten." Und doch neben
und in dem allen war es das tiefste Verlangen gläubiger Seelen,
den sehnsüchtig begehrten Frieden des Herzens und eine sichere
Gewißheit des ewigen Heils zu finden, was der Reformationsbewegung
die Wege ebnete. Fahrende Schüler, zumeist Wittenberger Studenten,
wandernde Handwerksburschen, den Klöstern
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entlaufene Mönche brachten überallhin die Kunde des
neuen Geistesfrühlings und verbreiteten Luthers Schriften.
Deutsche Sangeslust trug die Lieder der Wittenberger Nachtigall
weiter, und die Reformation hat sich vielfach durch die Lieder
in das Herz des Volkes gesungen. Bald fehlten auch die Glaubenszeugen
nicht, und das Blut her Märtyrer wurde wieder der Same der
Kirche.
Die deutschen Städte waren es zuerst, die dem neuen Geiste die Tore öffneten - das Land ist erst später langsam nachgefolgt. In den Städten, dem Mittelpunkt deutscher Kultur und fortschreitender Bildung, hatte man den Druck der alten Zustände am härtesten empfunden. Gerade hier wurde am meisten über die Ausbeutung durch die Kirche, über die Verkommenheit des Klerus und der Mönche geklagt. Seit langen Jahren hatte man mit dem verderblichen Treiben der Bettelmönche, die sich überall einschlichen und zur Stadtplage wurden, auch den krassesten Aberglauben förderten, zu kämpfen und einen Streit nach dem andern mit der Geistlichkeit und den Bischöfen wegen des Mißbrauchs der geistlichen Gerichtsbarkeit geführt. Trotz aller Kirchlichkeit war doch ein sich immer noch steigernder Gegensatz zu der Kirche vorhanden. Verschärft wurde dieser Gegensatz durch die Rückständigkeit der Kirche auf ethischem Gebiete, die in der Verkehrung des Evangeliums wurzelte. Das städtische Leben stand mit den Lehren und Anschauungen der Kirche im Widerspruch. Zinsnehmen galt ihr als Sünde und wie sollte sich ohne Zins der Handel entwickeln? Wenn das Ideal des sittlichen Lebens das Mönchtum war, so konnte ein Bürger, ein Kaufmann und Handwerker nur mit schlechtem Gewissen seinem Berufe obliegen. Wie mußte hier die lutherische Anschauung, welche jede ehrliche Arbeit, jede treue Berufserfüllung als Gottesdienst wertet, befreiend wirken!
Nicht von oben, sondern von unten her ging die evangelische Bewegung aus. Es waren zunächst einzelne, die durch Luthers Schriften angeregt die Reformationsgedanken in ihrem Kreise verbreiteten und die Predigt des reinen Wortes forderten. Die Zunftstuben und Herbergen hallten wieder von der Erörterung religiöser Fragen. Dann rissen evangelische Prediger die Menge fort; in stetem Kampfe mit geistlicher und weltlicher
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Obrigkeit, mit Altgläubigen und hartnäckigen Priestern
wurde die Abschaffung des Messe durchgesetzt und deutscher Gottesdienst,
anfangs in wunderlichem Gemisch der Gebräuche, eingeführt.
Hier und da wurden die Magistrate oder wenigstens die größere
Zahl ihrer Glieder mit den Bürgern von der neuen Bewegung
ergriffen und ihre eifrigen Förderer. Das ging nicht ohne
Gewalttätigkeit ab. Unklare Prädikanten schürten
durch maßlose Angriffe auf die römische Kirche und
durch aufreizende, alles umstürzende Predigten das Feuer,
und es fehlte bald nicht an tumultuarischen Ausschreitungen gegen
Priester und Mönche. Das schon in 15. Jahrhundert in den
Städten aufkommende Proletariat, welches besonders unter
den wirtschaftlichen Nöten zu leiden hatte, ließ sich
mit Freuden zum Sturm auf die Klöster hetzen. An einzelnen
Orten wurden Mönche und Nonnen mißhandelt, wie in Nürnberg
unter Vorgehen des Magistrates die Insassinnen des Klaraklosters,
vor allem die edle Äbtissin Caritas Pirkheimer, unnütz
gekränkt wurden.
Die süddeutschen Städte gingen mit der Reformation voran,
vor allem die zahlreichen Reichsstädte, in denen der Volkswille
bestimmend war. Nürnberg, Straßburg, Ulm, Augsburg,
Schwäbisch-Hall wurden bald die Hochburgen des Evangeliums,
aber auch in Magdeburg, Breslau, Bremen und Hamburg regte sich
das neue Leben. Die Magistrate der süddeutschen Reichsstädte
berieten schon im Juli 1524 auf einer Tagung zu Speyer über
die Durchführung der Reformation und einigten sich in dem
Beschlusse, ungelehrte Prädikanten fern zu halten und ihre
Städte durch tüchtige Prediger zu versorgen. Die Fürsten
hielten sich einstweilen noch zumeist zurück. Luther selbst
vermied überaus vorsichtig jede Einwirkung auf sie und selbst
den Schein des Zusammenhanges mit ihnen. In Kursachsen breitete
sich die Reformation unter schweigendem Gewährenlassen Friedrichs
des Weisen rasch aus, dagegen trat in Pommern der Herzog für
die neue Lehre ein, in den pommerschen Städten, namentlich
Stettin und Stralsund, und in Schlesien seit 1522, in Preußen
seit 1523. In dem heutigen Baden wirkte in den Zwanziger Jahren
mit Kraft und Eifer Eberlin von Günzburg
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für die Reformation, in der Pfalz ließ Kurfürst
Ludwig durch Johann Schwebel das Evangelium predigen und Herzog
Ludwig von Zweibrücken richtete schon 1523 mit Hilfe Schwebels
Lehre und Kultus nach evangelischen Grundsätzen ein. Am kräftigsten
ging der feurige Philipp von Hessen vor. Er verfügte bereits
1524, daß in seinem Gebiete das Evangelium rein gepredigt
werden solle und versprach im folgenden Jahre bei einer Zusammenkunft
mit Herzog Johann und Johann Friedrich von Sachsen, daß
er eher Leib und Leben, Land und Leute lassen wolle, als daß
er vom Worte Gottes wiche. Zur Förderung der evangelischen
Sache gründete er 1527 die Universität Marburg. 1525
trat der Hochmeister des deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg,
zur Reformation über und verwandelte Preußen in ein
weltliches Herzogtum. Später (1544) wurde auch hier eine
lutherische Universität in Königsberg errichtet.
Entscheidend für die Stellung der evangelischen Fürsten wurden erst die Reichstage zu Speyer von 1526 und 1529. Dem Zusammenschluß katholischer Fürsten und Bischöfe zur Ausrottung der lutherischen Ketzerei gegenüber einigten sich der Landgraf von Hessen und der Kurfürst von Sachsen zu einem Bunde für das Evangelium, dem Lüneburg, AnhaltKöthen, Mansfeld, Preußen und Magdeburg beitraten. Dieser Bund wurde geschlossen gegen den entschiedenen Widerspruch Luthers, der jede Vermengung der religiösen Bewegung mit der Politik verabscheute. Unter dem Zwange der politischen Verhältnisse gab der Kaiser 1526 in Speyer zu, daß die Reichsstände in Sachen des Wormser Ediktes, welches die evangelische Bewegung vernichten sollte, also lebten, regierten und es hielten, wie sie solches vor Gott und Kaiserlicher Majestät verantworten könnten. Damit war der Rechtsgrund für die Bildung evangelischer Landeskirchen geschaffen, ein Grund, den die evangelischen Fürsten und Städte durch ihre Protestation zu Speyer 1529 siegreich behaupteten. Als der Kaiser auf der Höhe seiner politischen Macht im Bunde mit der katholischen Mehrheit die Reformation zum tödlichen Stillstand verurteilen wollte indem den Ständen, die bisher das Wormser Edikt gehalten, seine fernere Ausführung anbefohlen, den anderen Landschaften jede weitere Neuerung verboten und festgesetzt wurde, daß die Messe
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6 I. Die Anfänge der deutsch-lutherischen Kirche.
niemandem verwehrt und kein geistlicher Stand in seinem Rechte
verletzt werde -, erklärten die Evangelischen in Sachen,
die Gottes Ehre und der Seelen Seligkeit betreffen, eine Majorität
nicht anerkennen zu können.
Seit diesem Reichstage kann man von einer protestantischen oder
evangelischen Kirche reden. Freilich, die Einheitlichkeit der
deutschen Reformation war mit ihm auch dahin, die Hoffnung, daß
der Kaiser selbst noch das Reformationswerk in die Hand nehmen
werde, war zerstört und die Zersplitterung der evangelischen
Kirche Deutschlands in verschiedene Einzelkirchen gegeben. Wir
haben daher nicht mehr eine Geschichte der evangelischen Kirchen,
sondern der einzelnen Landeskirchen Deutschlands. Man mag diese
Entwicklung beklagen obwohl es zwecklos ist, geschichtlich
Gewordenes zu beklagen , aber man darf nicht vergessen, daß
die Ursache dieser Zersplitterung der evangelischen Kirche in
dem Versagen der politischen Zentralgewalt liegt. Sie hat ihre
Ursache auch in dem religiösen Individualismus, der mit vollem
Rechte in der Reformation sich gegen die Uniformität in der
römischen Kirche regte, und das um so kräftiger, je
gewaltsamer er niedergehalten war. Auf der anderen Seite hat gerade
diese Zersplitterung auch wieder Mannigfaltigkeit und einen Reichtum
des kirchlichen Lebens hervorgerufen, welche der gesamten evangelischen
Kirche zum Segen geworden sind. Es ist kaum zu bezweifeln, daß
eine einheitliche deutsch-evangelische Kirche in jenen Werdezeiten
der Reformation nur eine schlechte Kopie der römischen Kirche
- wenigstens was Verfassung und Organisation anbelangt - geworden
wäre. Das schlimme war nur, daß entsprechend der Anzahl
politischer Territorien auch eine Anzahl einzelner Landeskirchen
und Landeskirchlein entstand und die kirchenbildende Kraft sich
in Schöpfungen auf manchen kleinen Gebieten erschöpfte,
die im Grunde aus sich selbst heraus nicht lebensfähig waren,
kein gefundenes kirchliches Leben haben konnten, und nur geistig
verengende Gebilde wurden. Aber das war vor allem die Folge davon,
daß die politischen Gewalten die absolute Herrschaft in
den evangelischen Kirchen bekamen. Dadurch besonders sind diese
Zwergkirchlein entstanden, welche die Kraft der evangelischen
Kirche geschwächt haben.
7 Kap. 1. Gründung der lutherischen Kirche.
Mit der Trennung von den Römischen, wie sie durch die
Protestation von Speyer herbeigeführt war, waren die Evangelischen
also vor die Aufgabe gestellt, ihr Kirchenwesen neu zu ordnen.
Wie man aber jene Trennung nur als eine vorübergehende ansah
- man hielt die Hoffnung auf eine Einigung, bzw. auf Gewinnung
der noch römisch Gesinnten aufrecht -, so galt auch der Neubau
der evangelischen Kirche als ein Provisorium. Leider fehlte nur
der werdenden lutherischen Kirche der große Organisator.
Luther ist das nicht gewesen, er blieb immer der religiöse
Reformator - und in dieser Beschränkung liegt auch die Kraft
seines Wirkens -; er hat wohl für die kirchliche Neuordnung
auch eine Fülle von schöpferischen Gedanken ausgesprochen,
aber niemals ihre einheitliche Durchführung angestrebt. In
dieser Beziehung ist ihm Calvin weit überlegen. Calvin hat
in Genf wirklich ein kirchliches Gemeinwesen gegründet, das
auf mehr als ein Jahrhundert hinaus die Leuchte und das Bollwert
der evangelischen Kirche für den romanischen Westen bildete
und mit seinen regen kirchlichen Leben, mit feiner Zucht und Ordnung
vielen ernsten Evangelischen als ein Ideal galt; aber wie die
Lutheraner schon die alttestamentlich-theokratische Grundlage
dieser Kirchenbildung nicht anerkennen konnten, so mußte
sich das germanische individuelle Freiheitsgefühl gegen eine
solche Kirchenordnung sträuben, die lediglich dem romanischen
Charakter entspricht. Denn dieser ist im Gegensatz zu dem Germanischen
auf stramme Unterordnung und Disziplinierung angelegt.
Es ist von hoher Bedeutung, Luthers Ansichten über die neue
Kirchenbildung zu verfolgen. In der Leipziger Disputation mit
Eck (1519) wurde er sich klar, daß die christliche Kirche
etwas ganz anderes sei als die Papstkirche. Freilich noch ist
ihm der Bruch mit der bisherigen Kirche ein undenkbarer Gedanke,
aber immer stärker drängt sich ihm die Notwendigkeit
einer Reformation der gesamten Kirche auf. Schon früh hat
er eine vollständige Neugestaltung der Kirche, an ein unbedingtes
Zurückgehen auf die apostolische Zeit gedacht und diesen
feinen Reformationsplänen einen lebendigen Ausdruck geben,
vor allem in den beiden Schriften: "Sermon vom Neuen Testament
d.i. von der heiligen Messe" (1520)
8 I. Die Anfänge der deutsch-lutherischen Kirche.
und: "Daß eine christliche Versammlung oder Gemeinde
das Recht habe, alle Lehre zu urteilen" (1523). Diese beiden
Schriften entfalten ein Reformationsprogramm, das weit idealistischere
Pläne verfolgt, als Zwingli und Calvin sie je ausgesprochen
haben. Luther fordert hier nicht weniger als eine völlige
Neuordnung der Kirche, und das auf der Grundlage der Einzelgemeinde,
der die weitgehende Freiheit in bezug auf Ordnung des Gottesdienstes
und der kirchlichen Gemeindeangelegenheiten zugebilligt wird.
Aber er beschränkt sich in seinen Reformgedanken auch auf
die Einzelgemeinde. Die Frage nach der Gesamtheit der Kirche oder
Christenheit, wie er gern sagt, ihrer äußeren Zusammenfassung
und Organisation liegt ihm noch fern. In einem großartigen
Idealismus erwartet er, daß sich das alles von selbst machen
und der neue Geist sich schon selbst den neuen Leib schaffen werde.
Doch war er der Meinung, daß die Bischöfe, wie bisher,
so auch weiter die Kirche regierten, denn fortdauernd beherrschte
ihn die Pietät gegen die alte Kirche, von der er sich - ganz
anders als Zwingli - nur mit tausend Schmerzen losgerissen hatte,
und immer noch hegte er die Hoffnung, daß auch die Bischöfe,
ja selbst der Papst, für die Reformation der Kirche zu gewinnen
seien.
Diese Hoffnung wurde trotz der Feindseligkeit der Bischöfe
lange Zeit aufrecht gehalten. Der konservative Geist der lutherischen
Reformation wollte die bischöfliche Verfassung nicht beseitigen,
sondern nur reformieren. "Es würden die Bischöfe
leichtlich den Gehorsam erhalten, wo sie nicht darauf drängten,
diejenigen Satzungen zu halten, so doch ohne Sünde nicht
mögen gehalten werden", heißt es am Schlusse der
Augsburgschen Konfession. Die Wittenberger Theologen erklärten
in demselben Jahre 1530 sich für ein bischöfliches Kirchenregiment.
"So werden die weltlichen Fürsten des Kirchenregiments
nicht in die Länge warten, ist ihnen auch nicht möglich;
dazu kostet es sie viel, so dagegen die Bischöfe ihre Güter
darum haben, daß sie solch Amt ausrichten. Auch gebührt
uns nicht, diese Ordnung, daß Bischöfe über Priestern
sind, welche von Anfang in der Kirche gewesen, ohne große
und dringende Ursache zu zerreißen, denn es ist auch vor
Gott fährlich, Politien ändern und zerreißen."
Es war vor allem Melanchthon, der immer
9 Kap. 1. Gründung der lutherischen Kirche.
noch der Hoffnung auf Beibehaltung der bischöflichen Verfassung
Ausdruck gab. Er fürchtete, wenn das bischöfliche Amt
nicht wiederhergestellt werde, würde der Kirche eine viel
unerträglichere Tyrannei beschieden sein als je zuvor. Selbst
als Luther in den Schmalkaldischen Artikeln die Undurchführbarkeit
dieses Gedankens darlegte und die Unversöhnlichkeit Katholizismus
und Protestantismus klarer kannte, hielt Melanchthon noch daran
fest, und wollte Papst und Bischöfen, wenn sie nur das Evangelium
duldeten, das Kirchenregiment lassen. Ebenso urteilt auch die
Reformationsformel von 1545, die allerdings aus dem Wunsche der
Protestanten zu beurteilen ist, dem Kaiser und den katholischen
Ständen möglichst entgegenzukommen.
Was Melanchthon immer wieder auf diesen Gedanken zurückkommen
ließ, war der Wunsch, der Kirche dem Staate gegenüber
ein würdigere Stellung zu sichern, und das schien am leichtesten
durch das Bischofsamt, dem ein geschichtliches Recht zur Seite
stand, erreicht zu werden. Aber es ist sehr fraglich, ob man auf
diesem Wege zu einem wirklich selbständigen Kirchenregiment
gekommen wäre. Nach protestantischen Grundsätzen konnte
ein solches Episkopat nur nach menschlichem, aber nicht nach göttlichem
Rechte - wie es die römische Kirche beanspruchte - bestehen.
Das spricht Luther auch mit klarer Einsicht aus: "dennoch
wäre damit der Christenheit Nichts geholfen, und würden
viel mehr Rotten werden, denn zuvor, denn weil man solchem Haupte
nicht müßte untertan sein aus Gottes Befehl, sondern
aus menschlichem guten Willen, würde es gar leichtlich und
bald verachtet, zuletzt kein Glied behalten." Ein geistliches
Kirchenregiment bedurfte zu seiner Aufrechterhaltung entweder
einer andern allgemeinen göttlichen Ordnung, von deren Autorität
es getragen wurde, oder mußte sich lediglich auf die Wahl
und auf den Willen der Gemeinde stützen. Auf dem ersteren
Wege wäre nichts anderes herausgekommen als ein unter dem
landesherrlichen Summepiskopat stehendes Scheinepiskopat, wie
in den nordischen Reichen. Auf dem anderen Wege hätte man
gegen alle evangelischen Grundsätze verstoßen, die
ein ständiges, monarchisches, rein geistliches Kirchenregimentes
verwerfen und auch auf dem Gebiete des Kirchenregimentes das Laienelement
und seine Vertretung fordern.
10 I. Die Anfänge der deutsch-lutherischen Kirche.
Denn nach reformatorischen Anschauungen umfaßt die Kirche
nicht nur die Geistlichen, sondern auch die Laien und gibt es
nach göttlichem Rechte keine Abstufungen unter den Geistlichen.
Die geschichtliche Entwicklung hat für Luthers klare Einsicht
gezeugt. Einmal waren die römischen Bischöfe in ihrer
überwiegenden Mehrheit durchaus nicht geneigt, protestantisch
zu werden und dann machte jedem derartigen Versuche der Religionsfriede
zu Augsburg von 1555 ein Ende, der bestimmte, das jeder zur evangelischen
Kirche übertretende Bischof seine Würde verlor. Der
Versuch protestantische Bischöfe einzusetzen, scheiterte
erst recht, wie das Beispiel von Amsdorf zeigt. Als das Bistum
Naumburg erledigt wurde und das Domkapitel 1541 den katholischen
Dompropst Julius Pflug wählte, konnte der Kurfürst Johann
Friedrich der Versuchung nicht widerstehen, aus landesherrlicher
Vollmacht, Amsdorf als evangelischen Bischof einzusetzen. Der
Kanzler Brück hatte dem widerraten und auch die Theologen
wollten für eine endliche Feststellung des deutschen evangelischen
Kirchenwesens überhaupt die Frage nach dem Abschlußseiner
Verfassung noch dahingestellt sein lassen und fürchteten
durch ein voreiliges Vorgehen die natürliche Entwickelung
zu schädigen. Der hartnäckige Kurfürst setzte aber
seinen Willen durch. Zu seiner Gegenwart und der einer großen
Volksmenge, die mit ihre "Amen" die angekündigte
Wahl laut bestätigte, wurde Amsdorf im Naumburger Dom feierlich
eingeführt. Luther selbst weihte ihn ein "ohne allem
Chresem (Salböl), auch ohne Butter, Schmalz, Speck, Teer,
Schmeer, Weihrauch, Kohlen und was derselben großen Heiligkeit
mehr ist", und er hoffte, daß die Naumburger Sache
ein Exempel heilsamer kirchlicher Ordnungen und Maßregeln
sein würde. Die weltliche Verwaltung des Stiftes wurde einem
Stiftshauptmann übertragen. Aber Amsdorfs Stellung blieb
schief. Einfluß konnte er nur durch seine Persönlichkeit
ausüben, und seine Macht reichte nur so weit als der Beistand
der Landesobrigkeit. Er kam in Zwistigkeiten mit dem Stiftshauptmann
und der Geistlichkeit. Luther setzte zwar noch die Einrichtung
eines Konsistoriums für das Stift durch, aber zuletzt mußte
Amsdorf seinem Rivalen Pflug weichen. Auch in Preußen, wo
einige Bischöfe zur Reformation über-
11 Kap 1. Gründung der lutherischen Kirche.
traten, hat sich das bischöfliche Amt nicht halten können,
auch hier wurde es nur ein Organ des landesherrlichen Kirchenregimentes.
Ebenso unmöglich erwies es sich, die lutherische Kirche auf
dem Boden des Gemeindeprinzips aufzubauen. Durch eine Reihe schmerzlicher
Erfahrungen wurde Luther dahin gebracht, die Durchführung
seines Gemeindegedankens zu vertagen. Schon die Wittenberger Unruhen
(1521) unter den Zwickauer Propheten gaben ihm einen harten Stoß.
Das kaum begonnene Werk der Reformation drohte sich in Schwärmerei
aufzulösen, ein schrankenloser Subjektivismus alle Ordnung
über den Haufen zu werfen und eine Entwicklung aus dem Prinzip
der Freiheit schien ganz unmöglich zu sein. Dann brachte
ihm der Bauernkrieg eine schmerzliche Enttäuschung. Er hatte
in seinem hohen Idealismus erwartet, daß im Volke Einsicht
und redlicher Wille vorhanden sei, aus sich selbst heraus ein
neues Kirchenwesen zu schaffen. Aufgewachsen in den Anschauungen
des städtischen Bürgertums und in mönchischen Ideen
war ihm die bäuerliche Welt fremd geblieben. Zwischen dem
harten bäuerlichen Eigennutz und der Anschauung Luthers,
die auch alle wirtschaftlichen Tätigkeiten unter das Gesetz
der Nächstenliebe stellt, welche nicht das Ihre, auch nicht
das Eigenrecht, sucht, war ein klaffender Zwiespalt. Im tieffsten
Grunde war den Bauern nur die Opposition gegen das alte Kirchenwesen
mit Luther gemein, aber seinen religiösen und sozialen Ideen
standen sie gleichgültig gegenüber. Um so gewaltiger
brach dadurch auch sein Zorn gegen die Bauern hervor, um so härter
redete er jetzt von dem, "was hinter dem Pöbel steckte,
der Esel wolle Schläge haben und der Pöbel mit Gewalt
regiert sein." Seit dieser Zeit finden wir bei ihm die Vorsicht
und den Argwohn gegen den "Herrn Omnes" und gegen jede
Störung der äußeren Ordnung und Disziplin, die
beide durch spätere Erfahrungen nur noch verschärft
wurden. Einem allgemeinen Umsturz und ratloser Verwirrung zu steuern,
griff er aus Not nach der Hand der Obrigkeit, ihr die Ordnung
der kirchlichen Verhältnisse anzuvertrauen.
Dahin führte auch die Notwendigkeit und das Ergebnis der
Visitation. Eine solche mußte der kirchlichen Neuordnung
12 I. Die Anfänge der deutsch-lutherischen Kirche.
vorangehen, aber wer sollte sie halten? Nach Luthers Weisungen
wäre es die Pflicht der Bischöfe gewesen. "Wir
hätten auch gern, schreibt er, das selbe Bischofs- und Besuchsamt
als aufs höchste vonnöten, gern wieder angerichtet gesehen;
aber weil unser keiner dazu berufen oder gewissen Befehl hatte
- fand sich keiner dazu befugt." So legte er der weltlichen
Obrigkeit, die sich bis dahin um die kirchlichen Dinge in den
Gemeinden nicht bekümmert hatte, wiederholt die Pflicht zur
Visitation ans Herz. In den stärksten Ausdrücken spricht
er in einem Schreiben an den Kurfürsten vom 26. November
1526 über den erbärmlichen Zustand der Kirche und bittet
ihn um Beistand. Die nun vollzogene Visitation deckte die schwersten
kirchlichen Schäden auf, eine heillose Verwirrung der Gemeinden
und völlige Unfähigkeit zum Selbstregiment wird offenbar.
"Bei den Gemeinden siehts überall kläglich aus",
klagt Luther gegen Spalatin, "indem die Bauern nichts lernen,
nichts wissen, nichts beten, nichts tun, als die Freiheit mißbrauchen,
nicht beichten, nicht kommunizieren, als wären sie ganz frei
geworden von Religion; so haben sie ihr päpstliches Wesen
nicht geachtet, so verachten sie das unsrige," und Melanchthon
spricht von den "unerträglich bösartigen"
Bauern. Diese Erfahrungen wirken mächtig auf das Urteil ein,
wie die Reformation durchzuführen sei. Es war einfach unmöglich,
den Gemeinden die volle Freiheit zu lassen, es mußten äußere
kirchenregimentliche Maßregeln mit gesetzlicher Geltung
für das ganze Land durchgeführt werden, und das konnte
nur durch die landesherrliche Autorität geschehen, da keine
andere vorhanden war, und der persönliche Einfluß der
Reformatoren und tüchtiger Geistlicher nicht ausreichte.
"Wenn der Hof nicht für unsere Verfügungen eintritt,"
äußerte sich Melanchthon, "was werden sie anders
werden, als, um ein griechisches Sprichwort zu gebrauchen, platonische
Gesetze?"
In dieser Entwicklung zum landesherrlichen Kirchenregiment liegt
kein Abfall von den ursprünglichen Gedanken Luthers. Der
Weg, der hier eingeschlagen wurde, war für ihn ebensogut
möglich. Denn für ihn fiel das bürgerliche Gemeinwesen,
ob örtlich oder staatlich verbunden, mit der Kirche zusammen
und hatte durch seine Machtmittel für alle seine Glieder
den wahren