Predigt am Sonntag 14. Oktober 2001

Pfarrer Manfred Staude

Die 10 Gebote: 2. Mose 20, 1-17

Dann sprach Gott alle diese Worte:
2 Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.
3 Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
4 Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.
5 Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation;
6 bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.
7 Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der Herr läßt den nicht ungestraft, der seinen Namen mißbraucht.
8 Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!
9 Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun.
10 Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat.
11 Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.
12 Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.
13 Du sollst nicht morden.
14 Du sollst nicht die Ehe brechen.
15 Du sollst nicht stehlen.
16 Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
17 Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgend etwas, das deinem Nächsten gehört.

Groß, gewaltig und absolut stehen diese Gebote da: "Ich bin ­ Du sollst ­ Du sollst nicht!" Der Gott, der mir ein persönliches Gegenüber ist, sagt sie mir zu und verpflichtet mich darauf.
Die ersten vier Gebote regeln die Beziehung zu Gott. Was hier an erster Stelle steht, finden viele heute befremdlich und überholt. Aussagen über Gott, die den Gesetzen voranstehen, haben keine Chance mehr, von allen respektiert zu werden. Wir definieren selbst, was wir für gut und was wir für schlecht halten, ist eine gängige Ansicht.
Im zweiten Teil der Gebote geht es um die Beziehungen der Menschen untereinander. Das findet mehr Zustimmung. Vor allem das "Du sollst nicht morden", wird breite Zustimmung finden, anderes allerdings gilt eher als ein Kavaliersdelikt. Einmal nicht die Wahrheit sagen, aus Not oder weil es nutzt. Einmal der Versuchung nachgeben. Respektlosigkeit, gierig haben wollen. Das ist auf die Masse gesehen schon fast die Regel, aber immerhin ist da noch ein Restbewußtsein, daß man es eigentlich nicht tun sollte.
Verständlich sind die 10 Gebote schon. Doch gelten sie noch als zeitgemäß? Konfirmanden haben mir mal gesagt: Da hält sich doch sowieso keiner mehr dran! Das ist leider Realität in der sogenannten christlichen Welt. Angehörige anderer Religionen, die ihren Glauben ernst nehmen, sehen es mit Verwunderung.
Das Vergessen der 10 Gebote hat weitreichende Folgen. Ich denke an den schlauen Mann, der es sich bequem gemacht hat auf einem starken Ast. Er sitzt gut und sägt in aller Seelenruhe den Ast durch, auf dem er so gut sitzt. Er wird sich wundern, doch es wird zu spät sein, wenn die Kathastrophe dann geschehen ist.
Die Oberflächlichkeit des Lebens, die fehlende Verankerung erweisen sich immer mehr als gefährlich!
Auf welchem Ast sitzen wir denn eigentlich in der freien, zivilisierten Welt?
Nach den Terroranschlägen hat der amerikanische Präsident vom Krieg gegen unsere freie Welt gesprochen, der deutsche Bundeskanzler sprach von Anschlag auf unsere zivilisierte Welt.
Freiheit und oder Zivilisation wären also die Äste, die uns tragen. Was aber ist mit Freiheit und Zivilisation gemeint?
Die 10 Gebote haben ein klares Verständnis von Freiheit: Freiheit ist von Gott gegeben. Gott führt aus Unterdrückung, aus Sklaverei heraus. Die geschenkte Freiheit muß bewahrt werden, dazu schließt Gott den Bund mit den Befreiten. Gott setzt Grenzen der Freiheit, damit die Freiheit für alle bewahrt bleibt. Grundpfeiler sind: 1. Persönliche Liebe allein zu dem Gott, der größer ist als unsere Vorstellungen. Dieser Gott, der sich nicht in Bildern fangen läßt, schützt die Schwachen. Er ist nicht zu verwechseln mit den Götzen, das sind vor allem die sichtbaren Werte, an die sich das menschliche Herz so gerne hängt.
2. Die Beziehungen zu Menschen und zu Gott sind wichtiger als alle Wirtschaft, aller Gewinn, alle Arbeit. Das sagt das Feiertagsgebot.
3. Der dritte Grundpfeiler: Keinem Menschen darf geschadet werden. Das sind die Grundpfeiler: Ich brauche die Verankerung in dem Gott, der nicht versklavt. Die Beziehungen sind mehr wert als alle äußeren Werte. Das Recht aller Menschen auf würdige und liebevolle Behandlung.
Innerhalb dieses Rahmens ist großer Freiheitsraum. Doch diese Eckwerte müssen sein, schützen die Freiheit.
Wähle ich einen anderen Gott, gerate ich in Abhängigkeit: Geld nimmt gefangen. Alle Vergnügungen werden als höchster Wert zur Sucht. Wo Menschen nicht mehr in Liebe miteinander umgehen, da ist das Vertrauen gestört, was wäre das für eine Freiheit, wo ich mich fürchten muß.
Welche Freiheit nun der amerikanische Präsident gemeint hat, das weiß ich nicht. Als Christ sollte er die Freiheit in Bindung an Gott vertreten, wo der Mensch über dem Gewinnstreben steht und die Liebe zu allen, auch zu den Schwächsten, absolutes Gebot ist.
Doch es muß ins Auge stechen, daß Freiheit von vielen ja als Grenzenlosigkeit verstanden wird: gerade als Losreißen von allen Bindungen: Ich verwirkliche, was mir allein nutzt, Mein Spaß, mein Gewinn, meine Macht sind alles, und daran soll mich kein Mensch hindern, auf den ich Rücksicht nehmen muß und erst recht kein Gott, dem ich sowieso nichts schuldig bin.
So verschieden sind die Auffassungen von Freiheit.
Mit der Zivilisation ist es noch schwieriger. Das Wort kommt von dem lateinischen civis: Bürger. Das ist ursprünglich der Hausgenosse, der mit dem ich in einer Gemeinschaft lebe. Zivilisation hatte also ursprünglich etwas von Gemeinschaft, Solidarität. Das ist durchaus ein Grundgedanke der 10 Gebote.
Der Begriff Zivilisation ist aber recht jung und schillernd und durchaus umstritten. Er steht heute für das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die sich als weiterentwickelt versteht, technisch, geistig, wirtschaftlich, sozial, wissenschaftlich. Weiterentwickelt meint auch: über anderen stehend, das ist die Tendenz zum Elitären. Und da gibt es die fragwürdige Geschichte im Zeitalter der Kolonisation: Die zivilisierten Völker Europas bringen mit zivilisatorischen Missionen den unzivilisierten außereuropäischen Völkern den Fortschritt. Wirklich? Waren diese Missionen nicht auch sehr hochmütig und unterdrückend?
Heute gilt Zivilisation als etwas sehr Offenes und Unbestimmtes. Viele sehen in der Zivilisation die Entwicklung von Verhaltensmustern in der Gesellschaft zur Kontrolle von Aggressionen. Doch es gelingt nur sehr schwer, die Aggressionen und der Egoismus nehmen überhand. Soziale Kontrolle und Steuerungsmechanismen sind überlastet. Es droht die Gefahr der Selbstzerstörung der menschlichen Zivilisation von innen heraus!
Ich meine, es wird deutlich: Auch unsere höchsten Repräsentanten tun sich schwer Worte für das zu finden, was uns das Heilige und Höchste ist, jetzt wo wir spüren, dieses Heilige wird in übler Weise angegriffen. Die Worte Freiheit und Zivilsation sind nicht klar genug.
In den zehn Geboten erkenne ich das Heilige, diesen Ast, der uns tragen sollte. Aber ist er noch zu erkennen? Die Gebote stehen ja offensichtlich im Gegensatz dazu, wie sich unser Leben, unsere Freiheit, unsere Zivilisation weithin entwickelt haben.
Am Anfang der Gebote steht die Liebe zu Gott und mittendrin im Zentrum steht die Würde des Menschen und zwar im Feiertagsgebot: Hier muß der Mensch nichts leisten, er definiert sich nicht aus seiner Leistung. Er darf einfach dasein, er ist geliebt, er darf ruhen, genießen, seine tiefsten Beziehungen pflegen. Es ist erschütternd, wie sehr sich der Mensch kaputtmachen läßt von Streß und Arbeit, daß ihm der Feiertag wieder geboten werden muß! In den hohen Etagen des Managements ist man inzwischen auch erschüttert. Die Mißachtung der Menschenwürde am Arbeitsplatz schadet nicht nur den Betroffenen, sondern auch der Leistungsfähigkeit der Unternehmen. Das wurde erkannt. Gott hat mit seinem Gebot also doch Recht! Die Menschlichkeit wird schmerzlich wiederentdeckt.
Werfen wir einen Blick auf den Islam. Der Koran, die heilige Schrift der Muslime, weiß von Gottes Geboten, kennt die Unterscheidung von Gut und Böse, ähnlich wie die Juden und Christen. Es ist ein tiefer moralischer Ernst im Islam. Ein Vorwurf des Koran an Juden und Christen ist, daß wir die Gebote nicht halten. Und das erregt Gottes Zorn.
Der Isalm will die Einhaltung der Gesetze Gottes mit aller Härte durchsetzen: Die Rechtsordnung des Koran kennt drastische Strafen, die der Staat durchsetzt: Den Dieben werden Hände abgehackt. Eine solche Verstümmelungsstrafe kennt die ganze Bibel nicht. Und in den 10 Geboten gibt es nur zwei Strafandrohungen und die sind nicht konkret.
Doch das heißt nicht, daß den Juden und Christen die Gebote nebensächlich wären. Jesus, der Inbegriff der Liebe, verschärft die Gebote in der Bergpredigt ungeheuer: Gott will noch viel mehr: Dem Bösen sollen wir keinen Widerstand leisten, selbst die Feinde sollen wir lieben, Böses sollen wir nicht einmal denken. Frauen dürfen wir nicht einmal begehrlich ansehen. Zuerst sollen wir nach Gottes Reich trachten. Gott sollen wir mehr als alles andere lieben und den Nächsten wie mich selbst. Das ist Gottes Forderung. Das sind Gottes Prinzipien.
Kein aufrichtiger Gläubiger, und wenn er sich noch so sehr bemüht und noch so sehr will, Keiner kann dies halten. Alle sind sie also Versager, alle sind sie Sünder vor Gott.
Und jetzt kommt das absolut Erstaunliche. Das ist der springende Punkt des Christentums. Gott hat nicht mehr mit Zorn und Strafe die Sünder niedergebügelt, Gott hat nicht mehr gedroht. Gott hat auch keinen heiligen Kampf gegen die Bösen angeordnet. Gott hat Unglaubliches getan. Er ist selbst ein Mensch geworden. Gott hat Fleisch und Blut angenommen, hat die Strafe für allen Ungehorsam getragen. Was er für uns getan hat, geht weiter, als sich die Hände abhacken lassen. Er hat sich für uns nämlich kreuzigen und töten lassen. Der tötende Anspruch des Gesetzes ist von Gott selbst erfüllt. Wer nun diese Tat der stellvertretenden Liebe Gottes für sich gelten läßt, wer an Jesus glaubt, der hat die Gewißheit der Rettung. Durch den vertrauenden Glauben werden wir als Kinder Gottes angenommen. Was für ein Geschenk, was für eine Freiheit, was für eine Zuversicht.
Der Terrorist Mohammed Atta hat 1996 ein Testament geschrieben, wie mit seinem Körper im Todesfall umzugehen ist. Die Wünsche sind von lauter Angst geprägt. Keine Frauen dürfen ihn berühren. Reinheits- und rituelle Vorschriften sind zu beachten, nichts darf falsch gemacht werden, für seine Sünden ist um Vergebung zu flehen. Nun, Allah ist völlig souverän, er ist wohl barmherzig und bereit zu vergeben.Aber von Allah heißt es "Er vergibt, wem Er will, und Er straft, wen Er will." Sure 5,18) Die Angst vor ihm bleibt. Dieser beeindruckende Gott Allah ist eben doch nicht der Gott der Liebe, der mit Jesus sein wahres gesicht gezeigt hat.
Christen sind frei, gerettet von Sünde. Keine Angst brauchen sie haben, daß die Gebote so viel fordern. Der Preis ist bezahlt. In der Freiheit als geliebte Kinder Gottes, ist die Erfüllung der Gebote eine Angelegenheit des Herzens. Wir überbieten uns darin, tun sie gerne, aber da ist kein Fluch mehr und es geschieht nicht aus Angst.
Dafür hat der Koran kein Verständnis, ja er ist auf diesem Gebiet völlig intolerant: Wenn wir Christen glauben in Jesus ist Gott selbst gegenwärtig, dann ist das für den Koran der schlimmste Verstoß. Hier ist die Bibel nach Meinung des Koran gefälscht, die Christen verschweigen die Wahrheit und der Koran steht als Norm über der Bibel. Muslime dürfen auch nicht Christen oder Juden als Freunde haben. Das könnte sie vom Glauben wegführen. Christen erfahren im Islam keine echte Toleranz, sondern Christen sind nur geduldet, wenn sie ihren Glauben nicht bezeugen und ihn erst recht nicht verbreiten. Das Herzstück des christlichen Glaubens, wer Jesus ist und was Er für uns getan hat, das wird im Koran als strafwürdiger Aberglaube angesehen.
Trotz allem gilt: Christen dürfen nie Gleiches mit Gleichem vergelten. Die Gebote gelten für uns. Rache ist untersagt und Liebe auch zu Feinden geboten, selbst wenn islamische Terroristen den Juden und Christen den Jihad, den Heiligen Krieg erklären. Sicher muß Feindesliebe anders aussehen als daß Bombenabwürfe durch Lebensmittelpakete begleitet werden. Das ist makaber und noch dazu keine wirksame Hilfe. Ein guter Baum kann doch nicht gleichzeitig faule Früchte bringen.
Uns ist es als Christen nicht verwehrt, Muslime und andere als Freunde zu haben. Für uns Christen ist es wichtig, uns neu auf die Liebe zu besinnen, die das Herz des Glaubens ist. Gottes Wesen ist Liebe. Liebe hat keine Patentlösungen für alle Probleme. Liebe verurteilt nicht vorschnell. Liebe läßt mich nicht unbeteiligt, Liebe kostet, sie bereitet Schmerzen. Aber am meisten hat sie Gott selbst gekostet und seine Liebe soll nicht ohne Antwort bleiben. Gerade in einer Welt, wo der Haß und die dämonische Verdrehung der Wahrheit die Maske vom Gesicht genommen haben. Der klare Weg der Gebote Gottes weist uns auf die Liebe, die Gott uns erwiesen hat. Und wir können auch nur glauben, hoffen, lieben. AMEN.

Nikodemuskirche München-Schwabing (Alte Heide)

Für den Inhalt verantwortlich: Evangelisch-Lutherisches Pfarramt Nikodemuskirche, Rheinlandstraße 4, D-80805 München, Pfarrer Manfred Staude

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Letzte Änderung: 17.10.2004