Predigt am Sonntag 5. August 2001

Pfarrer Manfred Staude

Die Heilung eines Blindgeborenen

Johannes 9,1 - 7

1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war.
2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?
3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.
4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.
5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das a Licht der Welt.
6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden.
7 Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - das heißt übersetzt: gesandt - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Da hockt ein Blinder vor dem Tempel Gottes. Alle, die vorbeigehen, sehen den, der nicht sehen kann, doch am liebsten würden sie ihn gar nicht sehen. Ein zu starker Kontrast. Das paßt nicht, ist nicht schön.
Nicht nur blind ist er, offensichtlich auch arm. Seine Eltern präsentieren ihn in seinem Elend, daß er wenigstens einen Bettellohn bekommt.
Die Jünger gucken nicht auf die andere Seite wie die meisten Leute, als sie am Blinden vorbeigehen, immerhin. Und sie stellen eine schwierige Frage: Wer ist eigentlich schuld an dem Unglück, der Blinde oder seine Eltern?
Verurteilen wir die Jünger nicht, daß sie bei einem solchen Elend gleich nach der Schuld fragen. Sehr viele Leute denken bis heute zuerst an das "Warum", ehe sie mitfühlen und empfinden. Sie akzeptieren nicht, daß etwas schlimm ist, sondern wollen erst klären, warum ist es schlimm, und wer hat die Verantwortung.
Wer wie die Jünger an einen gerechten Gott glaubt, wer glaubt, daß Gott alle Sünde straft, wer an das Gesetz von Ursache und Wirkung glaubt, der muß so fragen: "Wer hat gesündigt!" Es bedeutet nicht, daß ihnen dieser Blinde nicht leid getan hat.
Glauben wir nur nicht, die Menschen heute wären liebevoller. Es wird doch heute in Zeiten angeblich knapper Finanzen knallhart nach Schuld gefragt:
Warum geht es den Menschen in den vielen armen Ländern der Welt denn so schlecht? Wer ist schuld? Arbeiten sie wenig?, sind die Regierungen korrupt?, beutet das Weltwirtschaftssystem aus?
Warum gibt es so viele Arbeitslose? Ein Fehler der Regierung, oder sind die Großkonzerne mit Stellenabbau und Gewinnmaximierung schuld, oder wollen die gar nicht arbeiten?
Warum kommen behinderte Kinder zur Welt? haben die Eltern nicht aufgepaßt? Haben die Ärzte versagt? Ist die Ethik der Barmherzigkeit schuld, die solche Wesen leben und leiden läßt?
Viele meinen nach wie vor: Jeder bekommt, was er verdient. Das ist nach wie vor ein gängiges Erklärungsschema. Wer Glück im Leben hat und reich wird, der schreibt es sich selber zu und die Unglücklichen und Armen, nun ja, die haben ihre Chancen nicht genutzt.
Diese Einstellung steckt ganz tief in den Menschen drin. Und immer wieder ertappe ich mich beim Gedanken: Eigentlich müßte es mir doch gut gehen, denn ich habe nichts Unrechtes getan.
Wer Gutes tut, der wird leben. Wer Böses tut, den trifft der Fluch,
so sagt es in der Bibel das Gesetz Gottes und vielen Menschen scheint das im Blut zu liegen.
Doch sie merken gar nicht, daß diese Rechnung zwar richtig ist, aber niemals aufgeht. Denn: Keiner ist gut! Dies Gesetz ist unbarmherzig. Da gibt es keine Erlösung!
Die Jünger haben immerhin schon gemerkt, daß etwas nicht stimmen kann. Der Mann ist ja schon blind geboren. Soll er also schon im Mutterleib große Sünden begangen haben? Ungeborene Kinder gelten als Engel, als Inbegriff der Unschuld. Das kann also nicht sein. Schieben wir es nicht besser den Eltern in die Schuhe? Die Jünger wünschen sich bestimmt: "Jesus sag doch endlich, daß es die Eltern sind, die schuld sind, die etwas Böses getan haben, dann ist unser Weltbild wieder in Ordnung!, das könnten wir verstehen."
Heute ist angeblich alles humaner und viele schlaue Leute sehen mit Verachtung auf die primitiven Gedanken in der Bibel. Wie kann man überhaupt nur so eine Frage stellen, wer schuld ist?
Doch wo nicht mehr gefragt wird nach Schuld, wird automatisch den Schwächsten und Hilflosesten die Schuld zugeschoben.
Ungeborene z. B. werden doch wie Schuldige behandelt. Sie kommen zur falschen Zeit, unter ungünstigen Umständen, sie verderben das Leben, verhindern Ausbildung und Aufstieg, sie stören, und wehe, wenn sie erbkrank oder nicht gut genug sind.
Jesus steckt hier in einem Dilemma. Wenn nicht alles blinder Zufall ist, dann muß jemand verantwortlich sein. Sind es nicht die Eltern oder der Blinde, dann kann es nur Gott selbst sein.
Wie zieht sich Jesus aus dem Dilemma? Es ist für ihn kein Dilemma. Dafür ist Jesus in diese Welt gekommen, zu enthüllen, daß alles ganz anders ist.
Er heilt diesen Kranken! Gott will nicht sein Leid, sondern sein Glück und seine Gesundheit. Die Eltern werden vom Druck befreit, sie hätten etwas falsch gemacht. Der Blinde erfährt: Ich bin nicht der letzte Dreck, auf dem jeder herumtrampeln darf: Gott bin ich recht!
Alle haben sie falsch gedacht, alle haben sich getäuscht! Und Gott ist ganz anders.
Aber was ist denn mit dem Gesetz Gottes?
Jesus sagt hier etwas Unglaubliches. "Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern." Kann das sein? Drei völlig sündlose Menschen? Ganz und gar unschuldig und gerecht vor Gott?
Jeder christlichen Lehre und jeder menschlichen Erfahrung spricht das Hohn. Alle Menschen sind Sünder. Aber Jesus hat es gesagt. Keiner hat gesündigt. Wie kann das sein?
Gott hatte seinem Volk Israel das Gesetz gegeben: Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, nicht lügen, stehlen usw..
Und allen Menschen hat er es ins Herz gegeben, ein Empfinden für gut und böse und für Gerechtigkeit. Das Gesetz zeigt Gottes Willen und es wird nur erfüllt, wenn die Liebe unter den Menschen vollkommen ist. Doch alle Menschen sind daran gescheitert und da wird ihnen das gute Gesetz zum Fluch. Sie sind die Verlierer und am Ende steht der Tod, der ewige Tod und das Verderben. Die Blindheit der Menschen ist es, daß sie immer schnell entdecken, wie böse ein anderer ist, aber sich selbst ausklammern. Doch der Fluch wird sie alle treffen.
Gott hat mit dem Gesetz gezeigt, was gut ist und doch das ist unerträglich hart für die schwachen Menschen.
Doch mit seinem Gesandten Jesus zeigt Gott nun den Menschen sein Herz. Er liebt unendlich mehr, als es das Gesetz je zeigen konnte. Das Gesetz wird deshalb nicht weggetan. Es bleibt Gottes Wort und gültig für alle Zeit. Doch Gott hat in seiner Liebe einen Weg bereitet, all die Gescheiterten und Verlorenen doch zu retten und zu erlösen.
Wenn Jesus sagt: "Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern" dann ist das die Botschaft des Evangeliums. Die Frohe Botschaft, daß Gott den Sünder aus Gnade annimmt und ihn so ansieht, als hätte er niemals irgendetwas Böses getan.
Aber das hören die Menschen gar nicht gerne! Warum soll es einem aus Gnade besser ergehen! Der gehört genauso gestraft, wie alle anderen auch. Obwohl alle unter dem Verdammungsurteil des guten gesetzes stehen, ist ihnen doch das Gesetz lieber als das Evangelium. Dieser Blinde wird noch größte Schwierigkeiten bekommen und kaum einer wird sich mit ihm einfach freuen. verrückte Welt!
Doch Jesus ist das Licht der Welt und er ist gekommen, die Menschen der Macht der Finsternis zu entreißen! Diesen Blinden packt Jesus und entreißt ihn aller Finsternis. Und die Gegenargumente läßt er nicht gelten.
Jetzt mit Jesus ist die Barmherzigkeit das entscheidende Wort Gottes. Gott wird sich nicht selbst untreu, wenn er sagt: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern und sie damit freispricht. Denn es ist so: Jesus selbst hat alle Forderungen des Gesetzes erfüllt. Und gerade er wurde wie der schlimmste aller Sünder mit dem schlimmsten Tod bestraft am Kreuz. Alle Sünde der Menschheit liegt auf ihm, alles Elend, alle Strafe. Wenn Jesus mir zuspricht: du hast nicht gesündigt, dann nimmt er damit meine Sünde auf sich und erleidet für sie seinem unschuldigen Tod. Dann erst kann ich sehen, kann der Wahheit über mich und über Gott ins Auge sehen und als Begnadeter neu leben.
Das ist das Evangelium, die beste Botschaft aller Zeiten.
Wir sollen und brauchen nicht mehr nachrechnen, wie viel Schuld es gewesen ist, die mir vergeben wird. Die Erbsenzählerei ist vorbei, obwohl Erbsen nach dem Gesetz ausreichen, um verdammt zu werden.
Eine Botschaft dieser Geschichte ist: Jesus hat diesen Blinden geheilt. Das allein ist schon etwas sehr Gutes. Sein Zuwendung hat bewirkt, daß Elende nicht ihrem Schicksal überlassen werden, was in weiten Teilen der Welt üblich gewesen ist. In der Natur ist es ja auch so. Vögel schmeissen die Schwachen gnadenlos aus dem Nest ohne die Frage: Wer ist schuld? Christen haben in 2 Jahrtausenden in einer Geschichte der Barmherzigkeit ein Umdenken bewirkt. Behinderte und Kranke erhalten heute in der Regel jede mögliche Hilfe und da kann viel ausgeglichen werden. Heute nach dem Gottesdienst werden wir eine Ausstellung besuchen, die uns das bewußt macht: Das Dunkelerlebnis!
Und doch, Sie haben es bei dieser Predigt gemerkt, es geht um viel mehr als daß damals einer geheilt wurde.
In dieser Geschichte geht es um ein unglaubliches Angebot für jeden Menschen. Die ganze Menschheit findet sich ja in keiner heilen Welt, sondern draußen vor der Tür Gottes, blind, arm, zerstritten, und dauernd die Frage: wer ist schuld? Jeder selber oder die Eltern und Vorfahren oder die Mächtigen?
Ja, sie haben gesündigt, alle, doch es bringt nichts mehr, zu diskutieren, wer nun mehr gesündigt hat. Gott sieht es nicht mehr an. Gott sieht Jesus an, der am Kreuz verflucht und verdammt worden ist. Und da wendet er sich in Liebe den Sündern zu und tut seine Werke des Lichtes.
Dieser eine Blinde hat der Liebe Gottes geglaubt. Er ist hingegangen und hat sich gewaschen. Er hat Jesus aufs Wort geglaubt, es ernst genommen und etwas Seltsames getan. Auch wenn viele dachten, Spucke ist ein Zaubermittel, es machte kein Spuckebrei, sondern der gehorsame Schritt im Glauben. Glauben ist keine Leistung, die etwas wiedergutmacht. Glaube ist das Akzeptieren, wer Jesus ist und ihn anerkennen und vor allem, ihm alles zutrauen. Glaube ist Annehmen, einen Rettungsring ergreifen, kein Werk. Das Werk tut Gott, ich kann es nur dankbar und voller Freude in Demut annehmen.
So bietet diese Geschichte Hoffnung. Dieses Zeichen an dem Blinden ist ein Ruf zum Glauben, und Glauben ist nicht schwer, das kann jeder, der sich nicht sträubt, der das Gesetz losläßt und sich auf den Glauben einläßt.
Im Glauben wäscht sich der Blinde im Teich Siloah. Siloah heißt: Gesandter. Ja, Jesus ist der Gesandte des Vaters. Er ist der Gesandte der Barmherzigkeit. Zum Glauben an ihn kommen und sich taufen lassen, ist mehr als ein Ritual, er läßt sich in seinem Herzen von Jesus waschen und ihm fällt der Dreck von den Augen.
Der Menschgewordene ist das Licht für die Menschen, indem er sie der Finsternis entreißt! Es soll noch in vielen Menschen licht werden, ehe die Nacht kommt, wo keiner mehr wirken kann. AMEN.

Nikodemuskirche München-Schwabing (Alte Heide)

Für den Inhalt verantwortlich: Evangelisch-Lutherisches Pfarramt Nikodemuskirche, Rheinlandstraße 4, D-80805 München, Pfarrer Manfred Staude

Site-Verantwortlicher (technisch/grafisch): Manfred Staude

Letzte Änderung: 17.10.2004