Predigttext Lukas 19, 41 48
Als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt Jerusalem und weinte
über sie
42 und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was
zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.
43 Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da wer-den deine
Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen
Seiten bedrängen,
44 und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern
in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du
die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.
45 Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben,
46 und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein
Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es zur Räuberhöhle
gemacht.
47 Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohen-priester
und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten
danach, daß sie ihn umbräch-ten,
48 und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze
Volk hing ihm an und hörte ihn.
Liebe Schwestern und Brüder in unserem Herrn Jesus Christus!
Zwei Tage war ich mit meiner Familie nach Siebenbürgen
unterwegs. Mitten in der Nacht bei Mond-schein fuhren wir die
Schnellstraße nach Osten und waren schon müde. Endlich
wurden die Ortsnamen vertrauter: Mühlbach, Reußmarkt,
Großpold und dann noch ein Berg und dann von weiten der
ver-traute Kirchturm . Was für ein Gefühl: Daheim sein,
ans Ziel kommen.
Auch Jesus war am Ziel seiner Reise. Jerusalem, die heilige Stadt,
die Stadt aller Sehnsüchte. Jesus sieht von der Anhöhe
aus seine Stadt vor sich liegen, so friedlich. Hier ist der Berg
Zion mit der Davidsburg, die Zuflucht so vieler Generationen.
Hier ist der Tem-pel, den schon König David erbauen wollte
und den dann sein Sohn Salomo als Haus Gottes errichten durfte.
Jeder Mensch braucht eine Heimat, eine Zuflucht, ei-ne Vertrautheit,
etwas das bleibt im Strudel der Zeit. Das Wichtigste, was ihm
unveräußerlich ist, was ihm heilig ist. Jerusalem,
der Inbegriff aller Sehnsucht und Heimat.
"Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte.
Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht
gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude
sein."
Jesus sieht auf seine Stadt. Er, der Sohn Gottes hat Heimatrecht
in seinem Haus. Er sieht den goldenen Glanz und die herrlichen
Farben. Er sieht das Treiben der Menschen. Eine schöne Stadt
und so viel Leben. Doch in seinem Herzen ist tiefe Traurigkeit.
Vor sei-nem inneren Auge erscheint ein Schreckensbild. Eine Trümmerwüste.
Nichts wird bleiben von dieser Schönheit. Kein Stein mehr
auf dem anderen. Feinde werden die Stadt belangern, erobern und
zerstören. Sie werden wüten mit Mord und Verderben.
Es muß so kommen.
Letzten Sonntag haben die Kinder nach dem Gottes-dienst in Reußdörfchen
schöne Lieder gesungen. Die Kinder aus dem Kinderbauernhof
haben zur Ehre Gottes gesungen voll Dank und Freude. Dann haben
sie noch ein rumänisches Volkslied gesungen. Es war ein
trauriges Lied. Auch wenn ich die Worte nicht verstanden habe,
die Wehmut im Herzen habe ich gespürt. Die Wehmut, die Traurigkeit
gehört zum Le-ben dazu.
Alle Völker singen traurige Lieder. Lieder von Ab-schied
und Schmerz. Lieder von der Liebe, die sich nicht erfüllt
hat. Lieder von Tod und Zerstörung. Es gibt die guten Zeiten:
Friede, Wohlstand, Aufbau, die Zukunft ist rosig. Und dann das
Unbegreifliche: Der Nachbar wird zu m Feind, alles kehrt sich
um. Die Menschen werden auseinandergerissen, die Gesetz-losigkeit
nimmt überhand, die Häuser werden ge-nommen, die Weinberge
werden zerstört alles ohne Sinn und niemand hat wirklich
gewonnen. Die Brutalen, die Mörder, die Lügner, sie
gedeihen eine Zeitlang, dann gehen sie auch zugrunde an der eige-nen
Bosheit. In der Zerstörung, im Leid gibt es keine Sieger
und keine Gewinner. Alle Völker wissen das.
Am Letzten Sonntag saßen auch viele Sachsen bei-einander.
Und sie sangen ihre Lieder in froher, aber auch wehmütiger
Erinnerung an die Heimat. Wer diese Heimat nicht erlebt hat,
der kennt sie nicht.
Alle suchen die Heimat, auch die Menschen, die mei-nen, Heimat,
das ist nur eine altmodischer Traum. Je-der denkt früher
oder später zurück an die Kindheit, die schönen
Erinnerungen. Da habe ich gewohnt, da gespielt, dort gelernt.
Liebe Menschen kommen in den Sinn. Da ist der Baum den ich gepflanzt,
da das Haus, das ich gebaut und mit so viel Liebe eingerichtet
habe. Viele sind in dieser Sommerzeit gekommen, haben die Kirche
besucht, in der sie gesegnet worden sind. Sind auf den Friedhof
gegangen und haben betend am Grab der Vorfahren gestanden. Ein
junger Mann hat mir gesagt: "Es sieht hier noch aus wie
frü-her, ich erkenne es wieder, aber die Menschen feh-len,
wo ist die Seele geblieben?"
Wo ist die Heimat, diewirkliche Heimat?
Ich bin unter dem mächtigen Walnußbaum im Garten gesessen.
Hoch über mir hörte ich den Specht po-chen. Er hämmert
am Baum und die Rindenstücke fallen herunter.
Am liebsten möchte ich den Specht vertreiben. Was fällt
dir ein, du frecher Vogel, diesen Baum zu zer-stören, ich
möchte noch oft hier sitzen! Aber du tust ja nur, was du
tun mußt! Der Baum ist krank, die Schädlinge sitzen
unter der Rinde. Wir alle können den Baum nicht retten.
Wir wissen nicht, wie lange er noch steht und Frucht trägt.
Vielleicht sollten wir schon einen neuen pflanzen. Denn er geht
dahin und so vieles geht dahin. Nichts wird so schön bleiben,
und wir werden nicht alles erhalten können.
Was hilft es, wenn wir uns schweren Gefühlen hinge-ben?
Andere sehen es viel nüchterner und sagen: So ist es eben.
Jeder muß sich mit abfinden mit der Wirklich-keit und es
so nehmen wie es ist. Es ist, wie es ist.
An vielem sind die Menschen aber auch selber schuld. Sie mögen
jammern und klagen, es kommt, wie es kommen muß. Auch das
auserwählte Gottesvolk hat seine Katastrophe selbst heraufbeschworen.
Viele Jahrhunderte hat Gott das Volk Israel besucht mit seinen
Propheten. Mit Güte hat er um die Herzen ge-worben. Mit
Strenge hat er gewarnt. Katastrophen hat er ankündigen lassen.
Und wenn die Menschen etwas Einsicht gezeigt haben, hat Gott
sich wieder umstimmen lassen. Er hat das Übel nicht kommen
lassen und Gnade vor Recht ergehen lassen. Doch die Menschen
haben alles vergessen, sobald es ihnen besser ging. Es wurde
immer schlimmer. Der Unter-gang des Stadt Jerusalem kam nicht
ohne Grund.
Es ist immer leicht, Schuld zu finden. Vor allem bei den anderen.
Im Jahre 1658 wurde die Kirchenburg in Grossau von den Tataren
erobert. Die Leute konnten sich noch in den Turm retten. Doch
die Tataren schichteten Stroh und Holz um den Turm, zündeten
es an und alle Sachsen kamen um. Wer war schuld daran? Einer
der Verteidiger. Denn die Tataren wollten vorbeiziehen. Ein Anführer
hatte Geld bekommen. Doch dieser eine Verteidiger war betrunken.
Er hat geschossen und ausgerechnet diesen Anführer getroffen.
Er war schuld, aber das hat auch keinem geholfen.
Da ist kein Kleid ohne einen Schmutzflecken. Da sind gute Gelegenheiten
verpaßt worden. Da sind falsche Entscheidungen getroffen
worden. Alles können die Menschen nicht voraussehen und
wissen. Was bringt es, wenn einer dem anderen vorhält: Das
hast du falsch gemacht! Können wir damit noch etwas än-dern?
Es hilft nicht, dass der andere etwas falsch ge-macht hat. Es
hilft nur, wenn ich die eigenen Fehler erkenne.
Schauen wir auf Jesus. Was tut Jesus?
Er weiß von aller Schuld der Menschen. Auch von der Schuld
seines eigenen Volkes. Er weiß alles. Er kennt die falschen
und die leeren Worte. Er kennt auch das böse Herz. Und doch
ist Gott größer als unser Herz.
Jesus klagt nicht an. Jesus sagt nicht: Ihr seid selber schuld.
Jesus weint, Jesus leidet auch mit denen, die selber schuld sind.
So ist Jesus. Er hat Mitleid.
Es gibt auch ein falsches Mitleid. Ein Arzt, der sagt: "Du
bist gesund, freue dich deines Lebens, der lügt, wenn er
mir verschweigt, daß ich sehr krank bin. Auch wenn er aus
Mitleid schweigt, er nimmt mir etwas von meinem Leben.
Jesus hatte Mitleid, aber er hat auch die Wahrheit gesagt. Er
hat zu den Juden gesagt:
"Ihr sucht mich zu töten, einen Menschen, der euch
die Wahrheit gesagt hat. Ihr habt den Teufel zum Vater. Weil
ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht."
Es ist ein wichtiger Dienst, die Wahrheit zu sagen. Aber es wird
selten gedankt. Denn: "Undank ist der Welt Lohn." Unsere
Väter und Mütter und Ahnen haben das erfahren. Und
doch haben sie weiter das Gute getan und haben nicht aufgegeben.
Jesus hat ja auch nicht aufgegeben. Erst haben alle zu ihm gehalten,
dann wurden es immer weniger. Am Schluß war er ganz alleine.
Nur noch seine Mutter und sein liebster Jünger waren bei
ihm in der Todes-stunde. Doch Jesus war nicht verbittert. Er
hat geliebt bis an Ende, bis ans bittere Ende, bis zum Tode am
Kreuz. "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was
sie tun." Viele haben Böses getan und wußten
doch nicht, was sie tun. Und wenn sie es wußten, Jesus
gibt auch ihnen noch eine Chance, wenn er betet: "Vater,
vergib, denn sie wissen nicht, was sie tun."
Die Verbitterung hilft niemanden, auch nicht mir selbst. Denn
mit der Verbitterung mache ich mich selbst kaputt. Die Verbitterung
frißt auf.
Jesus kent den besseren Weg: Er weint. Er macht uns damit Mut.
Wir dürfen traurig sein. Wir brauchen auch diese Gefühle
nicht zu verstecken. Wir dürfen trauern über das, was
sich nicht ändern läßt. Und die Trauer wird guttun.
Wie oft erlebe ich: Da ist ein lieber Mensch gestorben. Es ist
ganz schlimm. Und der Trauernde sagt: "Ich fürchte
mich, vor den anderen zu weinen. Ich muß mich beherrschen."
Und ich ermutige: "Aber Sie dürfen doch weinen. Es
ist gut zu weinen." Gott hat uns die Fähigkeit des
Weinens gegeben. Weinen ist eine Gabe. Weinen tut mir gut und
tut den anderen gut. Wir alle merken, wie lieb wir uns haben,
wenn wir weinen. Ich finde vielleicht keine Worte mehr, aber
ich kann weinen und der andere versteht.
Jesus weint, weil er mitleidet. Er leidet so sehr mit, daß
er es nicht überleben wird. Er wird sich opfern. Er will
nicht, daß auch nur einer verloren geht. Deshalb wird er
sich selbst dahingeben, damit alle, die an ihn glauben nicht
verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. "Die mit
Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin
und weinen und brin-gen ihren Samen, und kommen mit Freuden und
bringen ihre Garben."
Das irdische Jerusalem ist erobert und zerstört wor-den,
und doch ist es nicht verloren. Heute leben wie-der die Juden
in Jerusalem. Bei Gott ist immer noch Hoffnung, auch wenn es
durchs Dunkel geht. Und zu-allerletzt strahlt der Glanz des himmlischen
Jerusa-lems. Das kann uns keiner nehmen. Da wird er jede Träne
abwischen von unseren Augen, und keine Leid wird mehr sein, kein
Schmerz und kein Geschrei. So spricht er, der über Jerusalem
geweint hat und über unser Leid. Siehe, ich mache alles
neu. Da ist deine Heimat. AMEN.
|