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„Aufwachen, Leute! Schnell!“
Der Mann auf den schwarzen Felsen starrte aufs Meer.
Seine Augen suchten den Horizont ab.
Er blickte an sich herunter und tastete in den Taschen seiner Lederrüstung
nach etwas Brauchbarem.
„Kommt endlich hoch, ihr Penner – das Schiff ist weg!“
Vier Männer lagen hinter ihm auf den bloßen Steinen
und kamen allmählich zu sich.
Der Mann, neben dem eine schwere Doppelaxt in der Sonne glänzte,
gähnte ausgiebig. Er dehnte seine Rückenmuskeln und kratzte
sich den dunklen Bart.
„Was schreist du denn so?“
„Gorn, das Schiff ist weg!“
„Red' keinen Blödsinn, wir haben drin geschlafen und ...“
Mit einem Satz sprang der große Mann auf die Füße.
Er blickte sich hektisch um und rang offensichtlich um Fassung.
„Aber, aber ... das ist doch nicht möglich!“
Die anderen drei Männer, die bis eben noch auf den Felsen
gelegen hatten, taumelten langsam in die Senkrechte und rieben sich
die Augen.
„Was ist hier los?“, fragte der junge Magier in der roten
Robe.
„Wenn ich das wüsste, Milten.“, antwortete der Mann
in Leder.
„Ich bin als Erster aufgewacht und – das Schiff war verschwunden.
Irgendwer hat es uns unter'm Arsch weggeklaut.“
„Wieso haben wir nichts davon bemerkt?“ Der Mann, bekleidet
mit einem Novizenrock der Templer, war verwirrt.
Der Magier dachte nach: „Ich glaube, wir fühlen alle das
Gleiche. Als ob man uns Watte ins Hirn gestopft hätte.“
Die Männer nickten.
„Ein Schlafzauber.“, erklärte Milten. „Einer
der ganz mächtigen. Nur so einer hat genügend Kraft, uns
alle gleichzeitig über einen so langen Zeitraum in Trance zu
versetzen.“
„Aber wer ... wieso überhaupt?“ Gorn rieb sich den
knurrenden Magen.
„Wenn man uns hätte töten wollen, wären wir nicht
hier.“, fuhr der Magier fort. „Es muss einen Grund dafür
geben.“
„Scheißegal, was es für einen Grund gibt. Wenn ich
nicht bald was zwischen die Zähne kriege, bin ich sowieso tot.“
Der große Mann sah sich missmutig auf den kargen Steinen um.
„Du denkst immer nur ans Fressen!“, kam es von der Seite.
Gorn baute sich vor dem Mann in Leder auf und maulte: „Wegen
dir sitze ich überhaupt nur auf diesem Drecksfelsen! Ich hab'
dafür gesorgt, dass dir der Drache nicht die Eier frittiert und
zum Dank muss ich mich von dir blöd anreden lassen!“
„Hört auf! Hört auf!“ Der Templer trat energisch
zwischen die gereizten Streithähne. „Das bringt uns nicht
weiter.“
„Ist eigentlich noch jemand hier, außer uns?“, fragte
der Mann mit dem schwarzen Schnauzbart, der bisher geschwiegen hatte.
Um das herauszufinden verteilten sie sich, kletterten ein wenig
die trostlose Küste hinauf und stellten fest, dass zumindest
in der näheren Umgebung keine Menschenseele zu sehen war.
Sie sammelten sich wieder am Strand und der Mann in Leder fragte:
„Nun? Was denkt ihr?“ Er wandte sich an den Mann mit dem
Schnauzer: „Diego, du hast noch nicht viel gesagt.“
„Ich kann es mir nicht erklären. Es entbehrt jeder Logik.“
„Gorn?“
„Wenn ich drüber nachdenke, frittierte Eier sind gar nicht
so übel.“
„GORN!“
„Ja, bei Innos, ich weiß doch auch nicht, was los ist!“
Der Blick des Magiers fiel auf den Templer. Er ging auf ihn zu und
fasste ihn an die Schläfe: „Du hast da was Merkwürdiges.“
Er zog eine dünne, helle Schicht vom Gesicht des verduzten Novizen,
die aussah, wie ein Stück zweite Haut.
„Igitt, was ist DAS denn?“ Gorn rümpfte die Nase.
Milten befühlte das Material vorsichtig. Er runzelte die Stirn
und ging dann zu jedem Einzelnen hin, um die Gesichter der Männer
nach ähnlichen Besonderheiten abzusuchen.
Diego wurde ungeduldig: „Was ist das für'n Zeug, Magier?“
Milten holte tief Luft, gab ihm das Material in die Hand und sagte:
„Wachs.“
„Wachs?“
„Kerzenwachs.“
Man hätte ihn nicht verwirrter ansehen können, wenn er
behauptet hätte, es wäre Snapperpansen.
„Hast du auf'm Leuchter gepennt, Lester?“, grinste Gorn.
„Stehst du auch auf Frittiertes?“ Er wollte gerade in
lautes Gelächter ausbrechen, da fiel ihm Milten ins Wort: „Wir
ALLE haben Reste von Wachs im Gesicht.“
Sofort rieben sich die Männer prüfend über ihre
Gesichter und erschraken. Jeder von ihnen fand auf seinen Fingern
winzige Reste von Kerzenwachs. Kaum sichtbar, aber sie fühlten
die schmierige Substanz beim Aneinanderreiben der Fingerspitzen.
„Was für eine Schweinerei geht hier vor sich?“, rief
Diego wütend.
„Wozu soll das gut sein?“, grübelte der Mann in Leder.
Dem jungen Magier kam ein furchtbarer Verdacht und er verzog das Gesicht:
„Man hat uns kopiert.“
Verständnisloses Schweigen.
„Kopiert?“, fragte Diego heiser und hob die Augenbrauen.
„Ja, wie beim Schlüsselabdruck.“, erklärte Milten.
„Sie haben uns betäubt und während wir geschlafen
haben, hat man Abdrücke von unseren Gesichtern gemacht.“
Lester, der junge Novize war verstört: „Aber wer kann denn
bloß eine Kopie von uns gebrauchen? Und wofür?“
Dem Mann in Leder dämmerte es langsam.
„Man wollte uns loswerden.“
Er drehte sich zum Meer, die frische Brise kühlte seinen noch
leicht betäubten Kopf: „Wir haben die Kohlen aus dem Feuer
geholt, jetzt sind wir überflüssig.“
Seine Freunde verstanden noch nicht.
„Hört zu,“ sprach er weiter, „wir hatten Gold
auf dem Schiff. Massenweise Gold. So viel Gold, dass wir jeden Söldner
des Landes auf unserer Seite gehabt hätten. Der Laderaum war
vollgestopft mit den besten Waffen, die man sich nur denken kann und
unsere kleine Truppe hätte es mit jeder Armee aufgenommen. Allein
vom Schiff aus, hätten wir jede Küste von Myrtana unter
unsere Kontrolle gekriegt!“
Gorn begriff und knurrte: „Sie hatten Angst vor uns!“
„Wir wurden zu mächtig.“ nickte Diego. „Könige
hassen Konkurrenz.“
Milten machte einen Erklärungsversuch: „Die anderen müssen
hier noch irgendwo sein. Wahrscheinlich hat man mit Lares und Lee
das Gleiche gemacht wie mit uns. Der König hatte noch ein paar
korrupte Magier in der Hinterhand und mit Sicherheit war einer dieser
Verräter mit auf dem Schiff, um den Plan in die Tat umzusetzen.
Unser guter Ruf im Land und unsere Bekanntheit wollte er für
sich ausnutzen. Wahrscheinlich laufen in Myrtana jetzt unsere Doppelgänger
herum und agieren als königstreue Marionetten.“
„Wenn ich den Scheißkerl erwische, wird er sich wünschen,
seine Mutter wäre Jungfrau gelieben!“ Gorn griff nach seiner
Axt. „Los Jungs, lasst uns die anderen suchen.“
Die Männer brachen auf.
„Milten, sag' mal“, der Mann in der Lederrüstung
zog den Magier beiseite, „glaubst du nicht, dass es den Leuten
da draußen auffällt, dass es nicht WIR sind, mit denen
sie reden? Ich hatte Freunde und Wegbegleiter, denen mein seltsames
Verhalten sicherlich zu denken gibt.“
„Ach, weißt du,“, lächelte Milton, „wir
Magier haben einen Spezialausdruck für eine geduldige Einstellung
gegenüber unvermeidbaren Merkwürdigkeiten.“
„Und der wäre?“
„Fehlertoleranz.“
„Ist das nun ein Vorteil oder ein Nachteil?“
„Wie man's nimmt.“, lachte der Magier. „Auf jeden
Fall ist es bequem.“
Gorn war mittlerweile schon hinter dem Küstenfelsen auf einen
kleinen Hügel geklettert und verschaffte sich bessere Übersicht.
Auf der anderen Seite der Insel erkannte er einige Gestalten, die
sich bewegten. Er riss die Arme nach oben und gab Zeichen:
„He, hier sind wir! Hier!“
Gorn lief den Hügel hinunter auf Diego und die anderen Männer
zu und rief freudestrahlend: „Da hinten sind sie. Ich hab' sie
gefunden!“
Diego dachte schon weiter: „Wie kommen wir eigentlich von dieser
verdammten Insel runter, wenn wir alle wieder zusammen sind?“
„Kommt Zeit, kommt Rat.“, schmunzelte Milten, der sich
in Gedanken auf die Schulter klopfte, weil er alle Vorlesungen seines
Mentors zum Thema Materienumwandlung besucht hatte.
„Fels bleibt nicht Fels, Gebein nicht Gebein ...“
„Wie?“ Lester bemühte sich schnaufend mit den Männern
Schritt zu halten. „Heißt das, wir haben eine Chance?“
„Sieht so aus.“ Diego wirkte zuversichtlich. „Ich
denke, sie wollen Zeit schinden. Wir sind noch am Leben, also werden
wir wohl noch gebraucht. Wir sollten versuchen, ihnen einen Strich
durch die Rechnung zu machen.“
„Na dann, beeilt euch ein bisschen.“, drängte Gorn.
„Vielleicht haben die anderen ja was zu essen dabei. Eine unglaubliche
Sauerei so was, uns einfach auf einer Insel auszusetzen, wo es nix
zu Fressen gibt! Die reinsten Aasgeier sind das! Raubfische! Piranhas!“
Die kleine Gruppe verschworener Freunde machte sich auf, um das vielleicht
größte Abenteuer zu bestehen, das man sich vorstellen kann:
Die Rückeroberung der eigenen Identität!
ECHTE Helden braucht das Land!
Lassen wir uns überraschen.

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