Georg Friedrich Händel
Dettinger Te Deum HWV 283
Geschichtlicher Hintergrund
Am 27. Juni 1743 (bzw. am 16. Juni nach dem in England noch bis 1752 gültigen Julianischen Kalender) besiegte die etwa 50000 Mann starke "Pragmatische Armee", bestehend aus englischen, österreichischen, hannoveranischen und hessischen Truppen unter der Führung des englischen Königs und Kurfürsten von Hannover, George II., bei der Schlacht von Dettingen (heute Karlstein-Dettingen, nordwestlich von Aschaffenburg) eine etwa 70000 Mann starke französische Streitmacht unter der Leitung des Duc de Noailles. Dieses Treffen war eine der vielen militärischen Auseinandersetzungen im Rahmen des Österreichischen Erbfolgekrieges. In diesem Krieg ging es vordergründig um die Durchsetzung der Thronansprüche Maria Theresias; letztlich war aber der Einfluß der einzelnen Herrscherhäuser auf dem Kontinent der treibende Faktor. Die Gegner waren dabei die Häuser Habsburg und Hannover (Österreich und Britannien/Hannover) auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Bourbonen (Frankreich, Spanien, Neapel), die Wittelsbacher (Bayern, Kurpfalz und Köln), Hohenzollern (Preußen) und Wettin (Sachsen, Polen).
Wie bereits erwähnt, war diese Schlacht nur eine von vielen und keineswegs entscheidend in diesem Krieg. Tatsächlich sollte sich der Krieg noch weitere 5 Jahre bis 1748 hinziehen. Es war jedoch die letzte Schlacht der Geschichte, in der ein regierender britischer Monarch das Heer selbst anführte. Dieser Sieg beruhte allerdings weniger auf der militärischen Stärke der Pragmatischen Armee, als vielmehr auf der schlechten Disziplin und der dilettantischen Führung der Gegner. Faktisch hatten die Franzosen den Alliierten bereits eine Woche zuvor den Nachschub abgeschnitten, und die Briten befanden sich an jenem 27. Juni bereits auf dem Rückzug, als sie vor Dettingen völlig überraschend feststellen mußten, daß ihnen eben jener Rückzug von einer französischen Teilstreitmacht unter dem Duc de Grammont während der Nacht verlegt worden war. Ein Ausweichen nach Süden bzw. nach Norden war nicht möglich, da dort der Main bzw. der Spessart ein Fortkommen hinderte. Es dauerte mehrere Stunden, bis die Briten in dem sumpfigen Gelände aus der Marschlinie eine Schlachtordnung formen konnten. Der Rest der französischen Armee befand sich zur selben Zeit auf dem anderen Mainufer und marschierte nach Aschaffenburg, um dort den Fluß zu überqueren und die Briten vollends einzukesseln. Währenddessen beschoß die französische Artillerie die alliierte Flanke ungehindert über den Main hinweg. Es bestand die ernste Gefahr, daß George II. als Kriegsgefangener in französische Hände fiel. Der entscheidende Umstand für den Ausgang der Schlacht bestand darin, daß de Grammont entgegen seinen Befehlen die Briten nicht vor Dettingen bis zum Eintreffen de Noailles aufhielt, sondern verfrüht einen völlig unkoordinierten Angriff begann. In dessen Verlauf wurden die französischen Truppen trotz ihrer zahlenmäßigen Übermacht und trotz erheblicher britischer Schwächen zersprengt und in den Main getrieben, bei dessen Überquerung viele ertranken. George II. konnte den Sieg für sich beanspruchen und im Triumph nach London zurückkehren.
Das Werk
Dieser für den weiteren Kriegsverlauf an und für sich völlig unbedeutende Sieg (die zeitgenössische englische und österreichische Propaganda stellte das selbstverständlich anders dar) wäre trotz der Teilnahme des britischen Königs heute wahrscheinlich nur noch für einige Militärhistoriker interessant, wenn nicht bereits knappe drei Wochen später, am 17. Juli 1743, Georg Friedrich Händel (der sich zu dieser Zeit bereits selbst George Frideric Handel schrieb) mit der Arbeit an einem Te Deum begonnen hätte - dem sog. Dettinger Te Deum HWV 283 (auch Dettingen Te Deum genannt) und dem "Dettingen-Anthem" The King shall rejoice HWV 265: Von Alters her war es nicht nur in England üblich, Gott bei der Rückkehr eines Mitglieds des Königshauses von einer Schlacht oder bei Genesung von schwerer Krankheit mit dem ambrosianischen Lobgesang feierlich zu danken. Es handelte sich hier aber eben nur um die Feier einer gewonnenen Schlacht und um die unbeschadete Rückkehr des Königs. Es fand daher, anders als 1713 zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges mit dem Frieden von Utrecht, keine große offizielle Siegesfeier in St. Pauls statt. Händel hatte seinerzeit zu diesem Anlaß ebenfalls ein Te Deum geliefert, sein erstes Werk in englischer Sprache: das sog. Utrechter Te Deum HWV 278. Nichtsdestoweniger fand am 27. November 1743, also genau ein halbes Jahr nach dem Sieg Georges II. im St. James's Palace in London eine Dankfeier unter Anwesenheit des gesamten Hofes statt, bei der das von Händel neu komponierte Dettingen Te Deum erstmals erklang. Gesungen wurde es von der Chapel Royal, deren Composer of the Musicke Händel zu diesem Zeitpunkt war. Die Sopran- und Altpartien wurden dementsprechend von Knaben gesungen.
Das Werk, in dem sich kontemplative Soloarien mit festlich strahlenden Jubelchören abwechseln, fand sofort begeisterte Aufnahme. Dem Anlaß entsprechend war es repräsentativ mit Pauken, Trompeten und Oboen instrumentiert. Die stilistischen Ähnlichkeiten mit dem ein Jahr zuvor entstandenen Messias sind unüberhörbar. Weitere ausgedehnte Anleihen nahm Händel bei einer vermutlich um 1680 entstandenen Te Deum-Vertonung des Italieners Francesco Antonio Urio. Teile des Dettingen Te Deums wurden von Händel im Oratorium Joseph and his Brethren (Joseph und seine Brüder, Uraufführumg am 2. März 1744) wiederverwendet. Wie alle Kirchenmusik Händels ist es in englischer Sprache abgefasst.
Gedanken zur Aufführungspraxis
Traditionell wird die Musik des Dettinger Te Deums mit Ausdrücken wie "gewaltig", "großartig" oder Ähnlichem belegt. Es sei dahingestellt, inwieweit diese Charakterisierung gerechtfertigt ist, zumal gerade in der zweiten Hälfte eher besinnliche Abschnitte dominieren, trotz der häufigen Verwendung von Pauken und Trompeten. Um dieser "Großartigkeit" angemessen Rechnung zu tragen, war es in der Vergangenheit üblich, dieses Werk mit einem Chor in "Oratorienstärke" und einem entsprechend groß dimensionierten Orchester aufzuführen. Zweifellos stellt diese Aufführungspraxis eine legitime Interpretation dar. Man sollte sich jedoch im Klaren darüber sein, daß dieser Brauch aber eben nur eine Frage der Interpretation ist. Es stellt sich gerade vor dem Hintergrund einer historisch informierten Aufführung die Frage, ob diese große Besetzungstärke wirklich zwingend nötig ist, um der Komposition gerecht zu werden.
Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Indizien, die belegen, daß eine entsprechende Praxis für derartige Werke erst an der Wende vom 18. zum 19. Jh. gebräuchlich wurde: Die erste öffentliche Aufführung der Schöpfung von Joseph Haydn im Burgtheater in Wien am 19. März 1799 sah 60 Sänger und 120 Instrumentalisten vor: ein zu dieser Zeit gigantischer Aufwand und bewußt geplanter "Groß-Event". Mit dem Beginn der Chorbewegung Anfang des 19. Jahrhunderts wurde dieser Umfang des musikalischen Apparates für Oratorien und vergleichbare Werke - auch solcher des 18. Jahrhunderts - allerdings zum Standard bis heute, wobei die Uraufführung des Te Deums Op. 22 von Hector Berlioz (1848/49) mit über tausend Mitwirkenden sicherlich alles in den Schatten stellte.
Doch wie waren die Aufführungsbedingungen in der Mitte des 18. Jahrhunderts? Noch ein Vierteljahrhundert nach Haydns Schöpfung und 81 Jahre nach Händels Dettinger Te Deum mußte Beethoven zur Uraufführung seiner "Neunten", ein ebenfalls traditionell groß besetztes Werk, drei Orchester verpflichten: das des Vereins der Musikfreunde, die Hofmusikkapelle und das Hofopernorchester. Dies läßt deutliche Rückschlüsse auf die Größe der damaligen Orchester zu. Noch deutlicher wird der Sachverhalt aus einem Brief Beethovens, in dem er sich zu der idealen Orchestergröße für seine Sinfonien äußert: Seine Wunschvorstellung bewegt sich etwa zwischen 23 und 25 Musikern für fünfteilige Streicher, je 2 Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten, 2 Trompeten, 3 Hörnern und Pauken. Werden die acht Holz- und 5 Blechbläser jeweils einfach besetzt, bleiben 11 Musiker für Cello, Kontrabaß, Bratschen und erste und zweite Violinen. Orchestergrößen, wie die der oben erwähnten Projektorchesters zur Uraufführung der "Neunten" und der "Schöpfung" stellen heute den normalen Standard zur Aufführung derartiger Werke dar. Man muß sich allerdings vergegenwärtigen, daß vergleichbare Ensembles erst im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der "Verbürgerlichung" des Musiklebens und der Gründung entsprechender Musikvereine entstanden. Im 18. Jh. wurde die Musik, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durch die jeweiligen Höfe finanziert, und das war teuer. Mit anderen Worten: Der Apparat war bei allem Repräsentationsbedürfnis vergleichsweise klein und bei den permanenten Geldproblemen der Fürsten und Monarchen auch damals bereits von ständigen Streichungen und Kürzungen bedroht.
Aus dem 18.Jh. existiert ebenfalls ein "Wunschzettel" eines prominenten Musikers über die angemessene Orchestergröße: Johann Sebastian Bachs berühmter "höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music" vom 23. August 1730 an den Leipziger Magistrat. Dieser sah für die Instrumentation folgende Besetzung vor:
[...] Die Instrumental Music bestehet aus folgenden Stimmen; als:
2 auch wohl 3 zur Violino 1.
2 biß 3 zur Violino 2.
2 zur Viola 1.
2 zur Viola 2.
2 zum Violoncello.
1 zum Violon.
2 auch wohl nach Beschaffenheit 3 zu denen Hautbois.
1 auch 2 zum Basson.
3 zu denen Trompeten.
1 zu denen Paucken.summa. 18. Persohnen wenigstens [Anm.:genau sind es 16-20, je nach tatsächlicher Besetzung] zur Instrumental-Music. NB. füget sichs, dass das KirchenStück auch mit Flöten, (sie seynd nun à bec oder Traversieri), componiret ist (wie denn sehr offt zur Abwechselung geschiehet) sind wenigstens auch 2 Persohnen darzu nötig. Thun zusammen 20 Instrumentisten.
Diese Besetzung entspricht durchaus dem, was auch Beethoven zwei bis drei Generationen später noch für wünschenswert hielt. Man kann sie daher mit gutem Recht für die fragliche Epoche verallgemeinern. Das Dettinger Te Deum ist mit fünfteiligen Streichern, 2 Oboen, 1 Fagott, 3 Trompeten, Pauken und Basso continuo (Orgel) instrumentiert, Flöten oder zweite Bratschen sind nicht vorgesehen. Damit benötigt man nach Bach ein Orchester mit 15-19 Musikern, wobei die Baßinstrumente sehr gut besetzt sind. Vergleicht man diese Besetzung mit jener der Dubliner Uraufführung des Messias, so findet man eine gute Übereinstimmung, wobei letztere sogar vollständig auf Holzbläser verzichtete.
Wie sieht es nun mit dem Chor aus? Das Dettinger Te Deum wurde 1743 durch die Chapel Royal gesungen, und die besteht seit jeher aus 6 Gentlemen in Ordinary (professionelle Sänger) und 10 Children of the Chapel, also Chorknaben, zusammen 16 Personen inkl. der Solisten, die die Chorpartien üblicherweise ebenfalls mitgesungen haben. Das war zur damaligen Zeit durchaus Standard, denn auch bei der Uraufführung des Messias im Jahr 1742 hatte Händel insgesamt nur 20 Sänger, die sich aus mehreren Dubliner Hauptkirchen rekrutierten. Auch hier gibt es Übereinstimmungen mit Bach. Dessen oben bereits zitierter "Entwurff" enthält folgende Forderung:
Zu iedweden musicalischen Chor gehören wenigstens 3 Sopranisten, 3 Altisten, 3 Tenoristen, und eben so viele Baßisten, damit, so etwa einer unpaß wird (wie denn sehr offte geschieht, und besonders bey itziger Jahres Zeit, da die recepte, so von dem Schul Medico in die Apothecke verschrieben werden, es ausweisen müßen) wenigstens eine 2 Chörigte Motette gesungen werden kan. (NB. Wiewohln es noch beßer, wenn der Coetus so beschaffen wäre, dass mann zu ieder Stimme 4 subjecta nehmen, und also ieden Chor mit 16. Persohnen bestellen könte.)
Auch in dieser Zahl sind die Solisten bereits mitgezählt, wie man einige Sätze weiter oben im selben Brief lesen kann:
So nun die Chöre derer Kirchen Stücken recht, wie es sich gebühret, bestellt werden sollen, müßen die Vocalisten wiederum in 2erley Sorten eingetheilet werden, als: Concertisten [Anm.: das sind die Solisten] und Ripienisten [Anm.: der "Chor"]. Derer Concertisten sind ordinaire 4; auch wohl 5, 6, 7 biß 8; so mann nemlich per Choros musiciren will. Derer Ripienisten müßen wenigstens auch achte seyn, nemlich zu jeder Stimme zwey.
Ein derartiger und für heutige Begriffe kleiner Chor legt ebenfalls nahe, daß das Orchester in einer historisch informierten Aufführung des Dettinger Te Deums nicht zu groß sein darf. Weitere Hinweise erhält man aus dem Raum, in der die Uraufführung stattfand, nämlich der ebenfalls so genannten Chapel Royal. Das ist die Hauskapelle des englischen Königshauses im St. James's Palace: Ein Andachtsraum von hinreichender Größe für den Gottesdienst am Hof, aber eben auch nicht mehr. Bei einem liturgischen Anlaß in Gegenwart des gesamten Hofstaates ist hier kein Platz für einen groß besetzten musikalischen Apparat in "Oratorienstärke".
Selbstverständlich verliert das Werk mit einer kleinen Besetzung an "Wucht". Der Satz gewinnt aber dafür erheblich an Transparenz und das Werk wird wesentlich intimer und persönlicher.