Kirchenmusik in Benediktbeuern

Heinrich Schütz

Johannes-Passion, SWV 481/481a
"Historia des Leidens und Sterbens unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi nach dem Evangelisten St. Johannes"

Heinrich SchützIn den Jahren zwischen 1664 und 1666 vertonte Heinrich Schütz die Leidensgeschichte Christi nach den Evangelisten Lukas, Johannes und Matthäus. Schütz war zu diesem Zeitpunkt bereits 70 Jahre alt. Er hatte sein Leben lang fast ausschließlich Kirchenmusik geschrieben, wenngleich er auch der Komponist der ersten, 1627 anläßlich der Hochzeit einer Tochter des Kurfürsten von Sachsen aufgeführten deutschen Oper war. Von dieser Oper mit dem Titel "Daphne" ist leider nur das Libretto von Martin Opitz erhalten, dem wohl berühmtesten deutschen Dichter der Barockzeit.

Schon seit alters her war es üblich, die Leidensgeschichte Christi in der Karwoche in musikalischer Bearbeitung zu lesen. Die Worte Jesu wurden dabei ursprünglich von einer tiefen Stimme vorgetragen, die Erzähltexte des Evangelisten in einer mittleren Stimmlage rezitiert, und die übrigen Personen, die sogenannten Soliquenten oder personae alienae, einschließlich der Chöre der Juden, der Hohenpriester, der Jünger etc. durch die höchste Stimmlage. Der Vortrag geschah dabei in gregorianischer Manier auf einem ständigen Rezitationston, der mit festgelegten melodischen Floskeln für Satzanfang, Satzende, Fragezeichen, Komma, Punkt usw. unterbrochen wurde. Die Passagen Christi waren feierlich langsam und getragen, der Vortrag des Evangelisten in normalem Sprechtempo und die "Chöre" der Volksmenge (die Turbae) waren schnell und leidenschaftlich erregt. Der Rezitationston Jesu lag dabei meist eine Quart unter dem des Evangelisten, jener der Turbae eine Quint höher. Seit dem 13. Jahrhundert wurden diese Rollen tatsächlich von drei Personen vorgetragen. Häufig sang der Priester dabei die Worte Jesu, der Diakon den Evangelisten und der Subdiakon die Turbae. In der Folgezeit wurden dann die Turbae (eigentlich nur die der Juden und Hohenpriester) dreistimmig ausgeführt, wobei aber jeder der Sänger seinen Rezitationston beibehielt. Die logische Weiterentwicklung bestand dann darin, die Volkspassagen tatsächlich durch einen Chor auszuführen, um sie von den Einzelstimmen abzusetzen. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurde schließlich bei den Turbae der Rezitationston zugunsten einer mehrstimmig durchkomponierten und dramatisierten Form aufgegeben und - im Gefolge der 1594 neu entstandenen Oper - auch die liturgische Rezitation durch affektvolle Rezitative ersetzt. Die Passionen von Heinrich Schütz sind ein vorläufiger Abschluß und Höhepunkt dieser frühbarocken Entwicklung. Mit ihren Vorläufern haben diese Passionen von Heinrich Schütz nur die Verwendung des biblischen Textes ohne zusätzliche Arien und geistliche Lyrik gemein. Dagegen sind die kurzen, dramatischen Volkschöre, die Turbae, und der monodische Vortrag des Evangelisten und der anderen Solisten neu. Besonders die konzentrierte Schlagkraft der Turbae läßt diese Passionen gegenüber denen von Schütz' Vorgängern und seinen Zeitgenossen einzigartig erscheinen. Bemerkenswert ist auch die Verwendung der deutschen Sprache, was in dieser Form seinerzeit nur im Gefolge der Reformation möglich war. Im katholischen Deutschland war die Verwendung der Volkssprache noch an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein Beleg für eine Aufführungspraxis außerhalb der Liturgie der Karwoche. Beispiele hierfür sind Haydns Die sieben Worte des Erlösers am Kreuz oder Beethovens Oratorium Christus am Ölberg.

Alle Passionen Schütz' sind hingegen für den unmittelbaren liturgischen Gebrauch geschriebenen und eignen sich nicht für den Konzertsaal. Die Musik bleibt streng dem biblischen Text untergeordnet, Schütz verzichtete zu diesem Zweck auch auf jede instrumentale Begleitung, sogar auf einen stützenden Generalbaß. Die langen, unbegleiteten Rezitative erhalten ihren Sinn nur durch die Verkündigung des Evangeliums im Rahmen einer liturgischen Handlung, im Konzertsaal würden sie dagegen ermüdend wirken.

Die drei Passionen sind musikalisch alle individuell gestaltet und in einem jeweils anderen Kirchenton geschrieben: Die Lukas-Passion freundlich-schlicht in Lydisch oder Ionisch, die Matthäus-Passion würdig-ernst in Dorisch, während die Passion nach Johannes in Phrygisch gesetzt ist, ein wild-leidenschaftlicher und düsterer Modus, der von alters her für die Klage Verwendung fand.

Bei der Johannes-Passion folgt Schütz streng den Intentionen des Evangelisten: neben Jesus steht lediglich die mit edlem Charakter dargestellte Person des Pilatus, während der Evangelist den Gang der Handlung in Fluß hält. Kern der musikalischen Darstellung sind die Rezitative des Evangelisten und der Einzelsänger, bei denen Schütz exakt der Sprechmelodie folgt. Die Rezitation wechselt je nach der beschriebenen Situation zwischen einem lektionsartigen Erzählstil und höchst effektvoller Charakterisierung. In schroffen Gegensatz zu den Rezitativen stehen die insgesamt 14 außerordentlich knapp gehaltenen Turbae-Chöre, die das biblische Geschehen durch starke, rhythmische Akzentuierung dramatisieren. Umrahmt wird das Werk von einem Introitus und einem Schlußchor, letzterer ist eine Bearbeitung und Neutextierung des Chorals "Christus, der uns selig macht" auf die Melodie eines unbekannten Komponisten aus dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts. Den gleichen Choral (auf den originalen Text von Michael Weisse aus dem Jahr 1531) verwendeten auch z.B. Johannes Mattheson in seinem Passionsoratorium und Johann Sebastian Bach in der Johannespassion. Ansonsten wurde auch in diesem Werk dem Brauch der Zeit entsprechend fleißig wiederverwendet, was bereits früher gute Dienste geleistet hatte: Große Teile des Intoitus stammen aus dem "Concert in Form einer teutschen Begräbnis-Messe" SWV 279, und der Chor der Kriegsknechte "lasset uns den nicht zerteilen" wurde aus "Ich bin die Auferstehung und das Leben" SWV 324 entlehnt.

Die Johannespassion liegt in 2 leicht unterschiedlichen Fassungen vor, der Urfassung aus dem Jahre 1665 SWV 481a und einer Überarbeitung (SWV 481) aus dem Jahr 1666. Sie war über 200 Jahre vergessen, bevor sie in den Jahren zwischen 1880 und 1883 durch den Komponisten und Musikpädagogen Arnold Ludwig Mendelssohn (1855-1933, einer der Lehrer Paul Hindemiths, der ihm sein Bratschen-Konzert op. 36/4 widmete) in Bonn wieder zum Leben erweckt wurde, zusammen mit anderen Werken Schütz', wie etwa auch die Matthäuspassion SWV 479 von 1666. Aufmerksam gemacht auf Schütz und dessen Passionen wurde Mendelssohn durch den evangelischen Theologen Friedrich Spitta (1852–1924, nicht zu verwechseln dem Philologen, Musikhistoriker und Bach-Biographen Philipp Spitta, 1841–1894), der zu dieser Zeit in Bonn Prediger an der Kreuzkirche und Privatdozent an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität war. (Später war er Rektor der Straßburger Kaiser-Wilhelms-Universität und Ordinarius in Göttingen.) Die Wiederentdeckungen wurden mit großer Aufmerksamkeit bedacht. Mendelsohn bemerkte dazu:

"Ich werde jetzt oft gelobt, weil ich einer der ersten Vorkämpfer für Schütz gewesen sei. Dabei komme ich mir ein wenig wie der Klein Zaches des E.T.A. Hoffmann vor. Diesem üblen Zwerg wird alles gut geschrieben, was andere in seiner Gegenwart leisten. In meinem Falle war es Spitta, der mich auf Schütz hinwies und zur Aufführung von dessen Werken bestimmte. Er war der Bauherr, der die Pläne machte, die ich als Maurermeister handwerklich ausführte."