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Endlich! Ab Februar 2008 sind die Bilder dort, wo sie hingehören! Im Text.

Vor einigen Tagen fiel mir diese Münze in die Hand:

Muenze_Jakob01.jpg (49867 Byte) Muenze_Jakob02.jpg (91750 Byte)

(Abbildungen aus Wikimedia Commons)

Es ist eine 5 Pesetenmünze - mehr war der Heilige nicht wert! Es zeigt auf der Ziffernseite das berühmte Weihrauchfass, das an Fest- und Feiertagen durch das Querschiff der Basilika geschwenkt wird. Daneben das Zeichen, das 800 km weit durch Nordspanien führt - es sind gelbe Balken, die eine stilisierte Muschel bilden. Die Rückseite schmückt das Abbild des St. Jakob.

Frührentners Pilgerfahrt

Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis. Und wenn der Frührentner sich beweisen will, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört, fährt er ans Ende der Welt. Und wenn er dann auch noch gesund wieder nach Hause kommt, setzt er sich beim nächsten Mal in die Ecke und wartet, bis der Anfall vorüber ist – oder?

Prolog

Vorgeschichte

Vorbereitung

Das Rad

Trainingsfahrt

Startvorbereitung

Prolog 5. Dezember 2000

Blitzartig kommt der Boden auf mich zugeflogen. Ein lauter Krach – etwas hat nachgegeben. War das ich? Soll er das gewesen sein? Der große Unfall, von dem die Radler immer erzählen? So banal? Auf einem kleinen Waldweg zu einer Sandgrube in der Nähe von Ochenbruck? Den Unfall hatte ich mir immer ganz anders vorgestellt. Viel aufregender, so wie damals, als mein Sportsfreund sein Mountainbike über eine Wurzel steuerte, bei der zweiten Wurzel die Richtung verlor und mit einem Riesenkrach ins Gebüsch flog. Damals dachte ich, mindestens sein Schlüsselbein ist gebrochen. Er kroch aus dem Unterholz, klopfte vorne und hinten den Schmutz ab, murmelte was von „blöde Wurzel“, stieg auf und fuhr weiter. Und ich liege hier, bin nur umgefallen, praktisch im Stehen und komme nicht mehr hoch. Mein Freund greift mir hilfreich unter die Arme, zieht mich auf die Beine: „Na, geht’s wieder?“ Vorsichtig versuche ich mein rechtes Bein auf den Boden zu stellen. Au! So geht das nicht, irgend etwas in der Hüfte verursacht einen höllischen Schmerz. Mir wird flau im Magen, vornüber gebeugt warte ich, bis der Schmerz nachlässt. Ich kann das rechte Bein nicht mehr belasten. Auf dem linken Bein hüpfe ich zu einem Baumstamm, der zufällig da liegt und bitte meinen Freund, mir das Rad heran zu schieben. Vorsichtig! Nur nicht zu schnell! Ganz langsam schwinge ich das rechte Bein über das Rad, schiebe mein Hinterteil auf den schmalen Sattel. Es geht! Ich kann ohne Schmerzen sitzen! Welch ein Erfolg... Vorsichtig klinke ich mich mit dem linken Schuh im Pedal ein, beginne zu treten. Mit kräftiger Unterstützung durch meinen Freund beginne ich die Rückfahrt.

Wir können am alten Ludwig-Donau-Main-Kanal zurück fahren, dort geht es ohne Unterbrechung durch Straßen oder Ampeln immer abwärts. Zumindest an den Schleusen! Manchmal kann ich etwas mittreten, meistens bin ich aber auf meinen „Schieber“ angewiesen. Mächtig keuchend schiebt er mal mit dem linken, dann wieder mit dem rechten Arm an. Er schwitzt und ich friere. Ich möchte ja gerne helfen, aber es geht einfach nicht. Sobald ich das rechte Bein nur etwas anhebe, ist der Schmerz nicht auszuhalten. Ich muss es hängen lassen, dann geht es.

Eine Stunde später sind wir angekommen, zwei Stunden später liege ich unter dem Röntgengerät, noch eine Stunde später im OP, am Spätnachmittag ist der Oberschenkelhalsbruch mit zwei langen, zwei kurzen Schrauben und einer Stahlplatte ruhig gestellt, ich habe außer der Operationswunde keine Schmerzen mehr und dämmere der Genesung entgegen.

5. Januar 2001

Seit zwei Wochen bin ich wieder zu Hause, die Wunde zugewachsen, die Fäden gezogen, ich kann mein Bein wieder gut bewegen, aber ich darf es noch bis Ende Februar nicht belasten. Überhaupt nicht! Ich hüpfe mit Krücken durch das Haus, werde von der Familie mit dem Rollstuhl manchmal etwas durch die Gegend geschoben und sitze ansonsten herum und versuche die Zeit tot zu schlagen, bis ich wieder auftreten darf – kann. Ich denke, wenn es nicht zu großspurig klingt, dass mir das Schicksal oder der liebe Gott einen Denkzettel verpasste. Ich habe jetzt Zeit im Überfluss, mein bisheriges Leben zu überblicken, die letzten Jahre Revue passieren zu lassen. Was waren die Höhepunkte im Leben eines Menschen, der im letzten Drittel seines Lebens steht? Natürlich, die Karriere, Heirat, zwei gesunde Kinder bekommen und groß gezogen, Enkelkinder sind auch schon da, drei an der Zahl.

Das ist doch der passende Moment, um etwas weiter zurück zu blicken – oder? Gestern überbrachte mein Sohn Stefan die Bitte eines Arbeitskollegen, der gehört hatte, dass ich den Jakobsweg befahren habe und nach Einzelheiten fragt. Das ist der richtige Zeitpunkt zum Rückblick!

Rückblick 10. September 1992

Ein wunderschöner Herbsttag im Maintal. Heute morgen sind Stefan und ich im Taubertal im kleinen Ort Markelsheim gestartet, über Wertheim Richtung Lohr gefahren.

Kurz hinter Wertheim kommen wir durch den kleinen Ort Urphan. Das Kirchlein liegt malerisch auf einem Hügel im Ort. Eine Pause wäre jetzt schon recht, besichtigen wir doch die Kirche! Gesagt, getan, schnaufend schieben wir unsere bepackten Räder auf den Hügel. Die Kirche ist versperrt, aber gleich nebenan wohnt der Mesner, der uns aufschließt und uns erzählt, dass diese kleine Kirche im Mittelalter häufig von Pilgern besucht wurde, die auf dem Jakobsweg waren. Jakobsweg? Den Namen habe ich schon einmal gehört, aber was ist das? In der Kirche sind noch einige uralte Fresken, fast verblasst. Sie zeigen einige Szenen aus dem Leben, bzw. der Legende des heiligen Jakob, der als Märtyrer in Jerusalem hingerichtet wurde, dessen Leichnam auf einer Barke bis Nordwestspanien getrieben sein soll und dort in Santiago di Compostela beigesetzt wurde. Beeindruckt frage ich nach: „Die Pilger sind bis nach Nordwestspanien gelaufen?“ „Ja, und wieder zurück!“ Tief beeindruckt bedanken wir uns bei dem freundlichen Mesner und fahren weiter.

Unser Zelt haben wir heute Abend auf einem Campingplatz aufgebaut, Stefan ist müde, das Radfahren gefällt ihm nicht mehr so recht, er fragt alle halbe Stunde: „Wie weit ist es denn noch?“ Ich tröste ihn: „Morgen nur noch bis Würzburg, dann geht es wieder mit dem Zug nach Hause.“ „Was, so weit noch!“ Ich gehe nach dem Abendessen zum Telefon und rufe zu Hause an: „Was gibt es Neues?“ Total aufgeregt erzählt meine Frau: „Heute ist unsere Tochter in die Klinik gefahren, das erste Enkelkind ist unterwegs!“ Das sind Neuigkeiten! Wir hatten ja den Termin gewusst, aber dass es heute schon los ging, hatten wir nicht erwartet. Schlechtes Gewissen bei angehendem Opa, pure Freude beim zukünftigen Onkel Stefan.

11. September 1992

Die Nacht ist kurz, am nächsten Morgen noch vor dem Frühstück die erlösende Nachricht: Mutter und Kind gesund, ein Mädchen ist es! Stefan ist außer sich vor Freude, es ist das erste Mal, dass er Onkel wird. Ich bin von einem stillen, tiefem Gefühl der Dankbarkeit erfüllt, der Weg nach Lohr fällt uns so leicht, wir fliegen regelrecht dahin. Leichter Nebel am Wegrand, Spinnennetze hängen als fragile Kunstwerke im Gras. Mittags machen wir Rast an einem kleinen Bach, natürlich wollen wir so schnell wie möglich zurück, also fahren wir nur noch bis Lohr, von dort mit dem Zug direkt zurück nach Nürnberg.

Im Lauf der nächsten Wochen und Monate kommt mir immer wieder dieser Tag in den Sinn, man wird ja nicht jeden Tag zum ersten Mal Großvater. Wie das schon klingt: „Großvater!“ Bin ich jetzt alt? Eigentlich fühle ich mich noch jung. Aber trotzdem... Zum ersten Mal seit langer Zeit denke ich darüber nach, wie es sein wird, wenn ich mal in Rente gehe. Das ist noch so lange hin! In einem kleinen Anflug von Größenwahn überlege ich: „Eigentlich könnte ich mir vorstellen, dort hin zu fahren. Was die Pilger im Mittelalter zu Fuß gemacht haben, kannst Du heute doch mit dem Fahrrad auch machen.“ Ist ja schon gut, die längste Radtour, die ich bisher gemacht habe, ist eben 200 Kilometer lang, da denkst Du darüber nach, bis Spanien zu fahren? Man wird doch einmal spinnen dürfen!

Januar 1996

Jetzt gehörst Du zum alten Eisen! Das war der letzte, prägende Gedanke am vergangenen Weihnachten. Wie aus heiterem Himmel war das gekommen. Nie hatte ich damit gerechnet. Alle kann es treffen, aber mich doch nicht? Und plötzlich trifft es Dich doch. Die Firma, für die Du jahrzehntelang gearbeitet hat, beschließt Knall auf Fall: „Die Alten brauchen wir nicht mehr.“ Wer ist hier alt? Ich doch nicht! Dann geht alles seinen Gang, schneller als man glaubt. Erste, verstohlene Andeutung: „Können Sie sich vorstellen, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen?" „Was, ich? Niemals!“ Erste, unverbindliche Besprechung in der Personalabteilung. Erste, vorsichtige Andeutung zu Hause: „Was meinst Du denn? Was haltet Ihr davon? Die bieten mir an, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen?“ Nochmals, diesmal schon massiver: „Wir müssen unser Personal dringend reduzieren. Das können wir nur durch Freistellungen erreichen.“ Diese Verlogenheit! Nicht einmal das Wort „Kündigung“ geht ihnen über die Lippen. Mit zusammengekniffenen Lippen unterschreibe ich den Vertrag. Jetzt bin ich im „Vorruhestand“. Schlauerweise verzichtet die Firma auf die Einhaltung der Kündigungszeit, wir alten gekündigten sind doch nicht die richtige Motivation für die da gebliebenen Kollegen, die jetzt alleine die Arbeit machen (dürfen?). Man stellt mich frei, sprich, ich kann von heute auf morgen zu Hause bleiben. Ich habe jetzt ein Jahr Urlaub vor mir! Noch dazu bezahlt!

April 1996

Mich hat das Fieber gepackt, das Jakobsweg-Fieber. Im Lauf der letzten Monate, die so unerquicklich für mich und meine Familie waren, hat sich der Gedanke festgebissen: „Denen zeige ich es, ich bin noch nicht so alt, wie DIE alle glauben!“ Wobei das DIE meine eigene Familie ebenso beinhaltet, wie den Ex-Arbeitgeber. Es ist unglaublich, wie so etwas das Selbstwertgefühl ankratzt. Noch heute bringe ich es nicht über die Lippen: „Ich bin entlassen, bin zu Hause, habe keinen Urlaub.“

Die Stadtbücherei hat einige Bücher auf Lager, die den Jakobsweg beschreiben. Ich hole alle.Wegweiser Jakobsweg Lese sie, studiere die alten Sagen und Legenden, schaue mir die Skizzen der Wege an. Ein richtiges Netz von Wegen hing damals über Europa, sogar aus dem Baltikum, aus Prag und Krakau führten Wege nach Spanien. Faszinierend! Es gibt in Nürnberg sogar den Jakobsweg!

Er führt von Prag kommend über die deutsch-tschechische Grenze bei Tillyschanz durch Nürnberg weiter über Heilsbronn, Ansbach nach Rothenburg. Dort trifft er auf den Weg, der aus Norden, von Würzburg her kam. In den letzten Jahren hat ein rühriger Pfarrer aus Heilsbronn die Wegemarkierung veranlasst. Ein anderer Teil des Weges führt über Gunzenhausen weiter zum Bodensee und trifft dort auf den westlichen Zweig. Ich schaue mir gelegentlich Teile des Weges an, sie sind mit der gelben Jakobsmuschel aufSt. Jakob in Nürnberg blauem Grund markiert. Die Muschel schaut aus wie das bekannte Markenzeichen des Ölkonzerns Shell, nur dass diese Markierung um 180° gedreht ist. Ich schaue mir auch die Jakobskirche in Nürnberg an, an dieser Kirche bin ich bisher gedankenlos vorbei gelaufen. Zum ersten Mal sehe ich eine Statue des Heiligen mit den berühmten Pilgerinsignien: Stab mit Flaschenkürbis, Pelerine, breitkrempiger Hut mit den Muscheln als Kennzeichen. Weitere Suche nach Informationen: Ich nehme Verbindung auf zu dem Radlerclub ADFC, der mir die Adresse einesSt. Jakob Ehepaares gibt, die voriges Jahr mit dem Tandem nach Santiago fuhren. Schon am nächsten Abend treffe ich mich mit den beiden, bekomme einen ganzen Rucksack voll Informationen.

Darunter sind viele äußert wertvolle Tipps, aber mir fallen auch Unterschiede in der Weltanschauung auf, die mir so noch nie zum Bewusstsein kamen. Hannes erzählt ganz beiläufig, dass er wegen Problemen mit dem Urlaub die erste Etappe mit dem Tandem und dem Gepäck alleine gefahren ist. Andrea ist mit dem Zug und ihrem Gepäck nachgekommen. Auf meine gespannte Frage: „Wie viel Gepäck habt Ihr denn dabei gehabt?“ kommt es ganz trocken: „Na, so etwa 40 Kilo.“ Schluck! Ein Tandem ist sauschwer, ich weiß, dass gute Maschinen etwa 20 Kilo wiegen, meine bange Frage: „Und wie weit bist Du am ersten Tag gefahren?“ „Etwas mehr als 160 Kilometer.“ Offensichtlich bin ich in Gesellschaft von Halbgöttern! Da registriere ich zum ersten Mal, dass ich richtige Radler vor mir habe. Das sind keine solchen verweichlichten Typen wie ich, die schon nach 30 Kilometern auf den Tacho gucken und sagen: „Hey, heut bin ich aber gut drauf!“ So etwas fahren die beiden vor dem Frühstück! Die beiden fahren alles mit dem Rad, grundsätzlich! Sie haben auch kein Auto, und als ich mich verabschiede, sagt Hannes: „Ich schaue mir mal Dein Fahrzeug an!“ Ich verlegen: „Ich bin mit dem Auto da, ich wusste nicht genau, wo Ihr wohnt.“ O Gott, wie peinlich! Natürlich wollte Hannes das Rad sehen, mit dem ich nach Santiago fahren will.

Leider kann ich die Wegbeschreibung der beiden nicht benutzen, weil sie bei Leuten im Schwarzwald übernachteten, den Weg westwärts über Vezeley genommen. Hannes und Andrea waren durch Kontakt mit Bekannten im Schwarzwald auf den Jakobsweg gestoßen, hatten dann ebenfalls Informationen gesammelt und waren losgefahren. Ich will aber zumindest vorerst dem Weg bis Rothenburg folgen. Langsam nimmt die Sache Form an.

Meine ersten Bemerkungen werden von der Familie keineswegs ernst genommen. Der Schwiegersohn als aktiver Sportler kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass ein Mann in meinem Alter, mit der schlechten Kondition und ganz allein diese Tour plant. Ich reagiere gereizt: „Was heißt, in meinem Alter? So alt bin ich wirklich noch nicht! Den jungen Hupfern zeige ich es schon noch!“ Er hat ja recht! Ein bisschen Training könnte wirklich nicht schaden, ohne jede Vorbereitung losfahren, ist wirklich leichtsinnig. Aber erst einmal sollte ich mir darüber klar werden, welchen Weg ich nehmen will. Der Jakobsweg im eigentlichen Wortsinn ist seit dem Mittelalter auf das Stück Weg von Pamplona bis Santiago bezogen und heißt z.B. in Spanien „Camino franco“, also der französische Weg. Die anderen Wege heißen zwar auch Jakobswege, aber eigentlich sind das Netze von Wegen, die sich nach einigen hundert Kilometern zu Hauptwegen vereinen. Laut Legende bzw. was ich aus den Büchern lese, existieren vier Hauptwege. Dazwischen unendliche Varianten und Querverbindungen. Ich beschließe, mir meinen eigenen Weg zu suchen. Vermutlich hatten die Pilger im Mittelalter andere Vorstellungen von einem „guten Weg“ als ich, sie gingen zu Fuß, mussten sich vor Räubern verstecken oder mieden unzugängliche Gebiete, in denen mit Gesindel zu rechnen war. Ich dagegen vertraue voll auf unsere „Zivilisation“, habe auch überhaupt nichts gegen Asphalt und flache Straßen einzuwenden und versuche deshalb meine Route an Flüssen und Bächen zu finden. Lieber will ich einige Umwege einplanen, als über Hügel und Berge zu fahren. Klar ist, der erste Teil des Weges soll dem markierten Pfad folgen, zumindest bis Rothenburg, von dort aus die generelle Richtung nach Süden, am Bodensee vorbei. Wenn ich dort, also etwa bei Schaffhausen, den Rhein überquere, kann ich der Aare aufwärts folgen, am Ufer der großen Schweizer Seen entlang radeln, dann der Rhone folgen, im mittleren Teil Frankreichs etwa ab Lyon das Rhonetal verlassen und mich quer durchschlagen. Dabei kann ich einige Flusstäler wie Loire, Garonne und Lot nutzen um ohne zu viele Höhenmeter zu sammeln an den Fuß der Pyrenäen zu kommen. Von dort aus ist der Weg klar, es gibt – für mich – nur einen Weg: Den „Camino franco“.

Wochen vergehen. Ich sitze schwitzend in der Dachkammer am Computer und grüble über den richtigen Weg nach. Ich muss mich entscheiden! Schließlich bin ich der einzige Leidtragende, wenn ich mir zu viel zumute, oder zu hohe Berge ansteuere. Aber – etwa Ende Juli habe ich die Route fertig. Ich bin richtig stolz auf mein Werk, denn ich habe wahrhaftig jeden Bach, jeden Fluss für meine Zwecke eingespannt, es ist eine Route, die fast ausschließlich auf Nebenstraßen verläuft und kaum Bergetappen aufweist. Sogar in der Schweiz bleibe ich von größeren Auffahrten verschont. Ich baue mir eine richtige Wegbeschreibung auf mit Beschreibung der Sehenswürdigkeiten, mit Daten über Städte und Landschaften. Es gibt eine riesig große Datei mit insgesamt etwas über 40 Seiten Ausdruck. Aber wenn ich dieser Beschreibung folge, kann ich mir fast detaillierte Landkarten sparen. Da kommt mir der Hinweis von Hannes, dem Tandemfahrer, wieder in den Sinn: „Kauf Dir doch einen Autoatlas und nimm nur die Seiten mit, die Du benötigst.“ Gesagt, getan, ein billiger Autoatlas muss dran glauben, Hannes stellt mir seine zerpflückten Seiten von Frankreich und Spanien zur Verfügung und schon ist das Problem der Orientierung gelöst. Das Problem mit dem Rad und die Gepäckfrage ist nicht so einfach zu lösen.

Das Rad

Hannes hatte mir gesagt, dass es ein Reisebüro gibt, welches Pilgerreisen durchführt. Wenn man sich diesen Fachleuten anvertraut, kann man auch aus Santiago zurück reisen ohne dicke Scheine für Linienflug und ähnliches abzugeben. Da bekommt man dann einen Charterflug und dann geht es billig nach Hause. Aber kann mein Fahrrad auch mit? Bei den „Tandemisti“ hatte es geklappt, aber Garantie hatte ich keine. Deshalb kühner Entschluss: Mein etwas betagtes Fahrrad mit 18 Gängen, Trommelbremsen und stabilem Rahmen müsste eigentlich ausreichen. Wenn alle Stricke reißen, kann ich das Rad in Spanien verkaufen oder wenn es nicht anders geht, einfach stehen lassen. Der finanzielle Verlust wäre zu verkraften. Andererseits, wenn ich ein neues Trekkingbike kaufe und das teure Stück dann stehen lassen muss? Das wäre doch echt zu blöd! Gut, nehme ich eben das alte Rad. Aber dann muss ich schon noch etwas investieren. Zuerst mal neue Reifen und Schläuche. Ich entscheide mich für den damals brandneuen Schwalbe Marathon für Mountainbikes. Ich habe diese Wahl kein einziges Mal bereut, es gab keinen einzigen Plattfuß. Dafür musste ich die nächste Entscheidung später bitter bereuen: Meine alte Schaltung hatte einen Knick, so dass nicht mehr alle 6 Gänge hinten zur Verfügung standen. Also baute ich selbst die neue Schaltung ein, dazu musste ich die Kette öffnen und wieder schließen. Hätte ich es doch sein lassen!

Beim Gepäck war klar: Soviel wie nötig, aber sowenig wie möglich. Ich wollte mit 2 Taschen hinten, 2 Taschen am Lowraider vorne und einer Lenkertasche auskommen. Damit habe ich noch genug Platz am Gepäckträger für Zelt und Isomatte. Im Lauf der letzten Jahre habe ich meistens bei längeren Touren richtige Radhosen mit Einsatz und Trikots getragen, das habe ich auch auf der langen Tour vor, denn meine Probleme sind das Waschen und Trocknen der Wäsche. Einen Teil der Reise werde ich ja mit dem Zelt machen, da hat man keine Möglichkeit, gewaschene Sachen an das offene Fenster zum Trocknen zu hängen. Die Radtrikots und -hosen trocknen schnell, deshalb glaube ich, keine Schwierigkeiten mit dem Waschen zu haben. Die ersten Packversuche enden kläglich: So viel Gepäck in den Taschen und jede Menge liegt noch außen herum! Endlich, nach einigen Änderungen geht alles hinein. Die Zahl drei wird mich auf meiner Reise begleiten: 3 Paar Socken, 3 Radhosen, 3 Trikots, 3 T-Shirts und ebenfalls 3 Unterhosen. Dazu eine kurze und eine lange Hose, eine Goretex-Jacke, eine Regenhose, Trainingsanzug, Schlafanzug, Zelt, Schlafsack und Isomatte, Foto mit Ersatzfilmen und Toilettenartikel. Kocher und Geschirr nehme ich nicht mit. Das wäre denn doch zu viel. Ich werde schon immer was zum Essen finden. Am Ende sind es doch stolze 22 Kilo Gepäck.

Trainingsfahrt

Ja, klar, lieber Schwiegersohn, Training muss sein. Ich starte öfters kleinere Radtouren, um mich an die Belastung zu gewöhnen. Außerdem will ich eine mehrtägige Tour mit vollem Gepäck machen, um die Belastung des Rades und die Befestigung des Gepäcks zu testen. Mitte Juli starte ich zur ultimativen Probetour. Ich fahre an der Donau entlang von Regensburg bis Engelhardszell und dann zurück nach Passau. Insgesamt 3 Tage, mit zwei Übernachtungen, einmal in einem Privatzimmer, das andere Mal auf dem Zeltplatz in Engelhardszell. Alles klappt sehr gut, nichts wackelt oder schleudert, auch der Auf- und Abbau des Zeltes ist einfach. Das einzige, was nervt, ist die Isomatte. Ich kann auf diesem Ding einfach nicht liegen! Jedes Mal, wenn ich mich auf die Seite drehe, drückt der Hüftknochen durch die Matte auf den Boden und ich finde keine Position, bei der ich ruhig schlafen kann. Eine andere Matte muss her! Ansonsten kann man die Tour glatt vergessen, man fährt den lieben, langen Tag an Feldern entlang, rechts der Donaudamm, wenn man etwas sehen will, muss man auf den Damm hinauf, links wechseln sich Maisfelder, Wiesen, Kornfelder oder Stoppelfelder ab. Erst ab Passau wird die Fahrt schöner, dort ist das Tal enger, die Straßen höher am Hang gebaut und kein Damm mehr da.

Interessanter waren da schon die Begegnungen unterwegs. Abends trinke ich noch im Garten der kleinen Pension ein Radler. Ein Ehepaar, welches auch hier übernachtet und ebenfalls mit Rädern unterwegs ist, setzt sich nach kurzem: „Wo kommst du her, wo soll es hingehen?“ zu mir, wir unterhalten uns sehr angeregt, mindestens zwei Stunden lang über Radwege, alles andere, und den Rest noch dazu. Die Beiden machen ihren Urlaub grundsätzlich mit dem Rad und sind jetzt schon 1 ½ Wochen unterwegs. Gestartet sind sie in Lohr am Main, von dort fuhren sie über das Taubertal, das Altmühltal bis Kelheim um von dort weiter der Donau zu folgen. Sie wollen am nächsten Tag noch bis Passau, dann aber den Inn aufwärts, bis der Urlaub zu Ende ist. Wir führen lange Streitgespräche, was ist besser, mit Radtrikot und -hose fahren oder doch ganz zivil? Die Beiden sind eher für Baumwollhemd und lange Hose: „Als Papagei wollen wir nicht unterwegs sein.“ Ich muss ihnen recht geben, teilweise sieht man Rennradfahrer im totalen „Tour de France" Outfit. Das mag ja noch angehen, wenn die Radler schlank und rank auf dem Bike sitzen, aber oft hängt eben auch eine „Bierwampe“ über der Querstange. Ich selbst habe mir meine Radtrikots eher in dunkler und gedeckter Farbe ausgesucht, bin deshalb der Meinung, recht dezent unterwegs zu sein, aber für mich überwiegt der Tragekomfort alles andere. In Engelhardszell staune ich über die Masse Tagesausflügler, die per Bus dorthin gekarrt werden, den Dom besichtigen und dann den Andenkenladen des Klosters stürmen. Grausige Mitbringsel werden dort verkauft! Meistens aber wandert der gute Klosterlikör über den Tresen. Auf dem Campingplatz bin ich dagegen fast alleine, nur nebenan steht ein winziger Wohnwagen mit einem Trabbi als Zugfahrzeug davor. Die junge Frau, die mit ihrem Schlittenhund dort haust, erzählt mir begeistert, wie toll es ist, wenn man seinen Wohnwagen allein bugsieren kann. Ich denke mir, vielleicht sollte sie ihren Hund zum Ziehen dazu nehmen, das könnte spaßig werden.

Der Rückweg ist ziemlich simpel: Ich quere beim großen Stauwerk die Donau und fahre flußaufwärts, diesmal am linken Ufer, bis Passau. Dort fährt kurz darauf ein Nahverkehrszug nach Regensburg, der mich zu meinem Auto zurückbringt. Beim Aussteigen in Regensburg kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen: Vor einem Jahr bin ich hier zusammen mit meinem Sohn Stefan und etwa 100 anderen Radlern auf dem Bahnsteig gestanden und habe auf den Zug gewartet. Leise Gespräche unter den Radlern: „Die werden uns doch alle mitnehmen?“ „Radkarten haben sie uns aber verkauft, also müssen sie eigentlich schon Platz haben!“ Mit einer Verspätung von 15 Minuten läuft der Zug ein, großes Staunen bei allen Radlern: „Die haben ja keinen Gepäckwagen dabei!“ Wo sollen die Räder denn hin? In die Einstiegsräume? Da sind nach 15 Rädern alle blockiert! Aber, oh Wunder, die Bahn ist flexibel! Eine Lok schiebt einen Güterwaggon an das Ende des Zuges, der Waggon wird angekoppelt, der Schaffner öffnet die große Schiebetüre und schreit dem anrollenden Pulk entgegen: „Halt, erst die Räder aus Schweinfurt und Bamberg!“ Diszipliniert werden die Räder nach Bestimmungsort sortiert und in den Waggon eingeladen. Es reicht knapp. In Neumarkt ist der erste Halt. Prima, die paar Leute, die dort aussteigen, haben ihre Räder direkt hinter der Türe an die anderen gelehnt, nehmen sie heraus und weg sind sie. Einfahrt in Nürnberg, die Mehrzahl der Radler drängt zum Gepäckwagen. Aber, oh welch ein Pech! Die Tür des Waggons öffnet sich auf die andere Seite, der Zug hat die Bahnsteigseite gewechselt! Jetzt sind die Räder der Schweinfurter und Bamberger vorne dran, alle anderen lehnen dagegen und verkeilen die Masse, dass man kein Rad heraus ziehen kann. Wilde Flüche und Schimpfkanonaden fliegen durch die Luft, allen voran der Schaffner. Endlich löst sich das Chaos, nachdem einige Leute über die Räder geklettert sind und zwei Dutzend Räder über die anderen hinweg gereicht haben. Am Ende können auch wir unsere Bikes in Empfang nehmen und nach Haus fahren.

Vor einigen Tagen wurde mir ein Pulsmesser überreicht, mit der Bitte: „Wenn du schon so einen Blödsinn machen willst, dann achte bitte auf Deine Gesundheit!“ Ich lege den Brustgurt an, stelle, wie in der Anleitung beschrieben, den oberen Grenzwert meinem Alter entsprechend auf 130 ein und fahre los. Nach einigen Minuten, am ersten Berglein, es war eher ein Hügel, fängt das Ding wild an zu piepen. Andere Radler blicken sich konsterniert um: „Was ist das denn?“ Mit hochrotem Kopf ziehe ich an den Radlern vorbei, murmele: „Ist nur meine Uhr!“ und stelle den Grenzwert großzügig auf 150. Damit geht es ganz gut, zumindest, wenn ich mich am Berg etwas zurückhalte. Aber so soll es auch sein. Oder? Nur dumm, dass es auch in den intimsten Momenten, in irgend einer Tankstellentoilette mit seinem nervtötenden Getöse anfängt! Kompromiss: Ich trage den Pulsmesser bei Bergetappen, auf normaler Strecke kommt er ins Gepäck!

Einige Tage später ist auch das Problem mit der Isomatte gelöst: Ich erstehe für viel Geld eine „selbstaufblasende“ Matte. Einige Minuten nach dem Aufrollen habe ich eine etwa 3 Zentimeter dicke Luftmatratze vor mir, die das Liegen auch auf der Seite sehr bequem macht und im eingerollten, luftleeren Zustand sogar noch viel kleiner ist als die alte Unterlage.

Startvorbereitungen

Alles ist fertig, das Gepäck, Fahrrad, Pass und Papiere, sogar Auslandskrankenscheine habe ich besorgt – ich hoffe sehr, dass ich sie nie brauche! Es ist doch eine Menge Zeug, das man mitschleppt. Eigentlich könnte ich morgen losfahren, aber... nochmals überlegen: Wie viel Kilometer will ich denn am Tag fahren? Aus meiner bisherigen, leider zu kurzen Trainingsphase, weiß ich, dass, realistisch gesehen, mehr als 90 Kilometer täglich mit dem schweren Gepäck kaum zu bewältigen sind. Ich werde die lange Reise gemächlich angehen. Was nützt es mir, wenn ich nach einer Woche platt bin? Also, lieber etwas kürzer treten, dafür dann aber durchhalten. Endgültig lege ich mich fest: Ich werde mit maximal 40 Tagen rechnen, der Rückflug entsprechend beim „Bayerischen Pilgerbüro“ für den 24. September gebucht. Und damit liegt mein Starttermin auch fest: Es ist der 17. August. Das gibt mir Gelegenheit, bei sommerlichen Temperaturen durch Deutschland und die Schweiz zu radeln, aber sobald ich nach Südfrankreich und Spanien komme, wird es bereits Anfang bzw. Mitte September sein und damit ist die größte Hitze vorbei. Soweit der Plan. Natürlich stellen sich die diversen Irrtümer erst im Lauf der Reise heraus, so z.B. dass ich in Zentralfrankreich jämmerlich friere und in Nordspanien trotz Mitte September furchtbar schwitzen werde.

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