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Schweiz
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Etappen:
Nürnberg – Rothenburg
Tagesetappe
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Durchschnitt
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Kumulierte Strecke
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90 km |
15,5 std./km |
90 km |
Heute geht es los. Ich habe die Nacht vorher miserabel
geschlafen, war viel zu aufgeregt, immer wieder geht es mir durch den
Kopf: „Wirst du durchhalten?“ Endlich komme ich mit mir
selbst ins reine. Egal, wie weit ich komme, ich habe mein Bestes
gegeben, wenn ich aufgeben muss, habe ich mir nichts vorzuwerfen. Wie
das Sprichwort so schön sagt: Hinfallen ist keine Schande, aber
Liegenbleiben, und wer nicht wagt, gewinnt auch nichts, selbst wenn es
wie in meinem Fall nur neue Erfahrungen sind.
Ich versuche, ohne zuviel Aufmerksamkeit zu erregen, mein
Fahrrad zu packen. Wir haben eine Terrasse hinter dem Haus, dort packe
ich zusammen. Als das Bike fertig ist, muss ich es festhalten, damit es
nicht trotz Seitenständer umfällt. Immer, wenn das Vorderrad
nach links schwenkt, weil die Lowraider und die Lenkertasche
proppenvoll sind, kippt das Rad nach links. Also muss ich das Vorderrad
soweit nach rechts schwenken, dass es diesen fatalen Linksdrall
ausgleicht. Mit etwas Fingerspitzengefühl geht das schon, aber ich
werde unterwegs oft feststellen, dass es einfacher ist, das Rad an
einen Zaun oder eine Mauer anzulehnen. Zu was brauche ich dann
eigentlich einen Seitenständer?
Die Familie ist vollzählig versammelt – bis auf die
arbeitenden Mitglieder der Familie. Es ist schließlich Freitag
morgen. Das Wetter ist angenehm, noch nicht zu heiß, klarer
wolkenloser Himmel. Nach einigen Bussi von Enkeltochter, Tochter und
Frau besteige ich vorsichtig mein Fahrzeug, welches mich den
nächsten Monat durch halb Europa tragen soll. Einmal noch Winken,
die Nachbarn haben Gott sei Dank nichts mitbekommen, dann fahre ich
los. Als letztes wurde mir noch das Versprechen abgenommen, mich auf
jeden Fall am Abend telefonisch zu melden. Natürlich!
Es geht durch bekanntes Gelände. Hier bin ich schon Dutzende Male gefahren, ich kenne jede Ecke.
Ich bin zwar nicht an der Jakobskirche gestartet, wie es vielleicht
angebracht gewesen wäre, aber ich werde sicher in einem kleinen
Vorort von Nürnberg vorbeifahren, denn dort ist eine Tafel, die
den ersten Teil des Jakobsweges beschreibt. Nicht dass ich auf die
Karte angewiesen wäre! Ich habe ja meine tolle Beschreibung dabei,
wo wirklich jedes Bauerndorf verzeichnet ist. Aber es reizt mich, ein
Foto von meinem Rad vor dieser Tafel zu machen. Gesagt,
getan, das Foto ist schnell gemacht, jetzt werde ich auf den richtigen
Jakobsweg mit der Markierung einer gelben Muschel auf blauem Grund
einschwenken. Im nächsten Ort finde ich die Markierung, sie
führt mich zwischen zwei Bauernhöfen
durch in Richtung einiger frisch umgebrochener Äcker. Ein schmaler
holpriger Wegstreifen bringt mich zum Schlingern. Nach kaum 20 Metern
stehe ich zum ersten Mal mit dem Vorderrad im Acker. Ich kann mit dem
schweren Gepäck auf dem Weg nicht fahren! Nachdem ich es noch
zweimal versucht habe, drehe ich um und versuche den Rückweg zur
Straße zu finden. Meine tief eingeprägten Reifenspuren
helfen mir dabei. Ich merke, dass der Jakobsweg wirklich nur für
Fußgänger oder Wanderer angelegt ist, das war mir vorher
nicht aufgefallen! Gut, dann fahre ich eben auf Nebenstraßen,
folge dem Weg in respektvollem Abstand von Dorf zu Dorf. Einige Male im
Lauf des Vormittags sehe ich die inzwischen vertraute Markierung, aber
jedes Mal verschwindet der Weg über Wurzeln und Grasbüschel
im Wald, ich sehe, es ist wirklich nicht nur das Stück hinter den
Bauernhöfen so, sondern der ganze Weg ist für einen Radler
mit Gepäck nicht befahrbar. Na denn, auf der Straße ist es
wahrhaftig auch angenehmer zu fahren, ich komme flott voran. Ich fahre
durchschnittlich – soweit mein Tachometer es richtig anzeigt
– etwa 17 bis 18 Stundenkilometer. Das ist recht wenig, aber auch
damit kann man eine ordentliche Distanz pro Tag zurücklegen, ich
muss dann eben einige Zeit länger im Sattel sitzen. Der erste Ort
auf meiner Liste, in dem es etwas zu sehen gibt, ist Roßtal.
Die alte, malerisch in der Ortsmitte auf einem Hügel
liegende Kirche steht auf einer Krypta aus dem zwölften
Jahrhundert. Mit etwas gemischten Gefühlen schließe ich mein
Rad ab, das Gepäck muss ich natürlich dran lassen, aber
zumindest meine Lenkertasche nehme ich mit, da drin habe ich meine
Papiere, Geld und den Fotoapparat. Mir wird schon keiner das
Gepäck vom Rad klauen! Stimmt, in der ganzen Zeit, während
insgesamt 30 Tagen hat kein Mensch mein Gepäck angerührt! Ich
steige in die Krypta hinab, die Kirche ist offen, kein Mensch zu sehen.
Nur
ein kleiner Altar mit zwei Kerzen, die leise im Windzug flackern,
erhellt den niedrigen, weiß gekalkten Raum. Dicke Säulen,
aus Ziegeln gemauert, tragen das Gebäude. Diese Säulen, das
ganze Mauerwerk ist mehr als 8 Jahrhunderte alt! Ein ehrfürchtiger
Schauer durchrieselt mich: Wie viele Pilger sind hier schon gestanden?
Wer ist so leicht und beschwingt wie ich zu einer Pilgerfahrt
aufgebrochen? Damals, im Mittelalter, waren es Menschen, die eine
schwere Krankheit mit Gottes Hilfe überstanden hatten, vielleicht
wurden sie auch von einem Gericht zur Pilgerfahrt verurteilt, die oft
lebensgefährlich war und von der weiß Gott nicht alle
zurück kamen. Ich hatte gelesen, dass es üblich war,
Stellvertreter zu suchen, die für gutes Geld die Gefahren in Kauf
nahmen. Nach einem kurzen Gebet klettere ich wieder ins strahlende
Sonnenlicht zurück. Ich suche den Pfarrhof. Was mir zu meiner
Pilgerfahrt noch fehlt, ist der Ausweis, der in jeder Stadt, durch die
man kommt, abgestempelt werden muss. Ich hatte vor einigen Wochen schon
versucht, von der St. Jakobsgesellschaft in Würzburg den
Pilgerausweis zu bekommen, musste aber vor den verwaltungstechnischen
Hürden kapitulieren. Mein lieber Tandemfahrer Hannes hatte mir
gesagt, ich muss ein Schreiben meiner Heimatpfarrei an die Gesellschaft
schicken, worin bestätigt wird, dass ich ein guter Christ bin und
auf Pilgerfahrt gehen will. Ich hatte es weiß Gott versucht, aber
irgendwie war im Pfarramt niemand zu erreichen, es waren Ferien, dann
war die Frist zu kurz, um noch brieflich den Ausweis zu beantragen.
Jetzt stehe ich hier in Roßtal und suche das Pfarramt, ich will
mir ein Stück Papier abstempeln lassen. Damit kann ich in Santiago
beweisen, dass ich die Orte durchquert habe. Nach längerem
Läuten geht im ersten Stock des blumengeschmückten
Fachwerkbaues ein Fenster auf: „Ja, was gibt es denn?“
„Ist der Herr Pfarrer da?“ „Nein, der ist unterwegs
im Nachbarort, kommt erst mittags wieder zurück!“ „Und
im Pfarramt ist niemand?“ „Nein, bei uns ist nur einmal in
der Woche das Büro besetzt! Was wollen Sie denn eigentlich?“
Soll ich hier laut hinausbrüllen: Ich bin auf einer Pilgerfahrt
und brauche einen Stempel? Nein, irgendwie geniere ich mich, ich bin ja
kaum 20 Kilometer von zu Hause weg, zu sagen, dass ich auf dem Weg nach
Spanien bin, das klingt so protzig. Deshalb kleinlaut: „Ist nicht
so wichtig! Ich kann noch einmal wiederkommen!“ Schon wieder eine
Lüge! Warum schäme ich mich eigentlich? Es kommen noch mehr
Kirchen und Orte auf dem Weg, dort kann ich immer noch mal fragen und
den Stempel bekommen. Mit diesem tröstlichen Gedanken schwinge ich
mich auf mein Rad und fahre weiter. Über winzige Dörfer fahre
ich weiter Richtung Südwesten. Das Wetter meint es gut mit mir,
langsam wird es wärmer, aber ich habe immer noch leichten
Rückenwind. In Heilsbronn möchte ich gerne das bekannte
Münster besichtigen, leider komme ich erst einige Minuten nach 12
Uhr an, die Kirche ist abgeschlossen. Gemütliche Bänke im
Schatten vor dem Gotteshaus laden zu einer Pause ein. Nebenan sitzen
zwei ältere Damen in Wanderkleidung mit Rucksäcken und machen
ebenfalls Pause. Ich studiere erst einmal die Informationstafeln, die
über das Ensemble informieren. Dabei kommen wir ins Gespräch.
Die Beiden erzählen mir, dass sie Jakobspilger auf dem Weg nach
Rothenburg sind. Sie wollen in insgesamt 3 Tagen dorthin laufen. Ich
staune: Kaum bin ich aus meiner Heimat ein paar Kilometer auf dem Pfad
unterwegs, treffe ich schon die ersten Pilger! Nachdem wir uns einige
Zeit über die Qualität des Wanderwegs unterhalten haben,
gestehe ich ein, auch auf dem Jakobsweg zu sein. Auf die Frage:
„Wohin wollen Sie denn?“ antworte ich verschämt:
„Richtung Spanien.“ Ich bringe es nicht über die
Lippen, zu sagen, dass ich nach Santiago will. Dumme
Schüchternheit! Ich fahre weiter, das Münster muss warten,
zwei Stunden bis zur Besichtigung sind zu lang. Dabei wäre es so
interessant, Heilsbronn war einmal ein bekannter Wallfahrtsort, das
Zisterzienserkloster stammt aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, das
Münster war einige Jahrhunderte lang die Grablege der
Nürnberger Burggrafen. In meinem „Fahrtenbuch“ steht
eine halbe Seite nur für das Münster. Aber zumindest habe ich
auch das Brunnenhäuschen gesehen, von dem der Ort seinen Namen
hat. Leider auch abgeschlossen und so dunkel, dass ich nicht einmal ein
Foto machen kann. Irgendwann später werde ich den Ort nochmals
besuchen. Am Ende der Reise ist die Liste sehr lang! Es ist schon
seltsam, da habe ich eigentlich jede Menge Zeit, niemand zwingt mich,
heute noch bis Rothenburg zu fahren, ich könnte auch vorher schon
auf einen Zeltplatz gehen, aber nein, die Strecke habe ich mir
vorgenommen, die will ich heute schaffen. Im Rückblick kann ich
sagen, wenn ich mir mehr Zeit gelassen hätte, wäre ich an
vielen schönen Ecken dieser Welt nicht einfach vorbei gefahren.
Der nächste größere Ort ist Ansbach. Die St.Gumbertuskirche ist offen, ich finde sie sehr schön, im
Gegensatz zu anderen Kirchen ist sie nicht hoch und schmal, sondern
eher quadratisch, die Farben der Innenausstattung sind hell und
freundlich, die Sonne scheint durch bunte Fenster in die Kirche und
bringt die berühmte Schwanenkapelle zum Leuchten. Heiligenfiguren,
Altäre, das geschnitzte Gestühl in der Kapelle leuchten im
Sonnenlicht. Nebenan ist ein kleines Heimatmuseum, dort werden die
letzten Habseligkeiten Kaspar Hausers ausgestellt, ich darf mein Rad
direkt neben der Kasse im Vorraum abstellen und schaue mir in aller
Ruhe das Museum an. Noch einige Worte mit der Kassiererin gewechselt,
dann ziehe ich weiter. Es ist noch früh am Nachmittag, ich habe
noch ein gutes Stück vor mir. Nach einigen Kilometern habe ich das
Gewirr der Straßen hinter mir, eine kleine Landstraße
führt mich weiter zu meinem Ziel. Bisher hat sich mein Fahrtenbuch
bewährt, die Hinweisschilder auf die nächsten Orte
erübrigen einen Blick auf die Landkarte. Langsam wird es
heiß. Die Sonne brennt vom Himmel, der Schweiß rinnt mir in
Strömen unter dem Helm hervor über die Stirn und tropft auf
die Straße. Es hat bestimmt über 30 ° Celsius im
Schatten. Nur noch ein Windhauch, der noch dazu genau von hinten kommt,
bewegt die bleierne Luft. Jeder Schatten eines Baumes am Wegrand ist
willkommen, ich trete im kleinsten Gang mit etwa 7 – 8
Stundenkilometer eine lange Steigung hinauf. Seltsam – ein
metallisches Klicken stört meine fast schon meditative Strampelei.
Es wird immer lauter, nach einigen hundert Metern kann ich den Grund
des Geräusches feststellen: An der Kette hat sich eine Niete
gelöst und wandert langsam nach außen, bei jeder vollen
Umdrehung der Kette schlägt der Nietenkopf gegen den vorderen
Umwerfer der Schaltung. Aha – die erste Panne! Vor einigen
Garagen einer kleinen Siedlung halte ich an, ich muss den Fehler
beseitigen, sonst reißt der Kettenstrang ganz, wenn die Niete
noch weiter nach außen wandert. Ich brauche festen Untergrund, um
das Rad sicher abstellen zu können, vor den Garagen ist der Platz
betoniert, da steht die Kiste gut. Ich krame ganz tief in meinen
Satteltaschen. Die Ersatzteile und das Werkzeug habe ich natürlich
ganz nach unten gepackt, wer denkt am ersten Tag gleich an eine Panne!
Endlich habe ich das Werkzeug gefunden, ich habe einen sogenannten
„Kettensprenger“ dabei, mit dem habe ich schon daheim die
Kette geöffnet, um die neue Schaltung montieren zu können.
Jetzt kann ich es dazu benutzen, die Niete wieder an ihren Platz zu
drücken. Mit ölverschmierten Händen arbeite ich eben an
der Kette, als neben mir ein riesiger Traktor mit Anhänger
langsamer wird und anhält. Na, wie nett, jetzt will mir der Fahrer
bestimmt helfen! Kleiner Irrtum, ich stehe genau vor der Garage, in der
Holz gelagert ist und welches der Bauer jetzt sofort aufladen will.
Brummend schiebe ich meine Kalesche einige Meter weiter. Es ist
unfassbar! Genau an dieser Stelle muss ich halten! Endlich ist die
Niete wieder an Ort und Stelle, ich vermute, es ist genau diese Niete,
die ich schon beim Wechsel der Schaltung heraus und wieder hinein
gedrückt habe. Hoffentlich hält sie jetzt. Nach einem tiefen
Schluck aus der Trinkflasche mache ich mich wieder auf den Weg. Heute
ist bestimmt ein 3-Liter-Tag. Ganz einfach zu bestimmen: Wenn ich nach
dem Frühstück und vor dem Abendessen mehr als 3 Liter in mich
hinein geschüttet habe, ist es ein 3-Liter-Tag, unterwegs gibt es
genügend Möglichkeiten, Lebensmittelgeschäfte oder
Tankstellen, bei denen ich meine leeren Flaschen wieder füllen
kann. Hoffentlich bleibt es so, denn nichts ist schlimmer als Durst
für einen Radler ohne wenigstens eine Quelle am Wegrand zu finden.
Ich erinnere mich – auf
Bergtouren in den Alpen hatten wir immer das sogenannte
„Klewuschl“ dabei, es war ein Stück Plastikschlauch,
etwa einen halben Meter lang, mit dem wir noch aus tiefen Felsritzen
oder Spalten Wasser saugen konnten. Aber der Durst musste schon
mörderisch sein, wenn man „Kletterers
Wunderschläuchel“ wirklich benutzte. Heute habe ich
handwarme Limonade in der Flasche. Schmeckt wahrscheinlich auch nicht
viel besser. Eine lange Abfahrt versöhnt mich wieder mit der
Hitze, so könnte es weitergehen. Im schrägen Licht der
Abendsonne taucht Rothenburg vor mir auf. Ich kenne diese
wunderschöne, von allen Touristen geliebte Stadt schon recht gut,
verzichte deshalb darauf, in die Innenstadt zu fahren und bleibe lieber
vom Kopfsteinpflaster weg. Der Campingplatz ist unten im Taubertal,
noch einmal eine Abfahrt und schon bin ich da. Ein freundlicher
Platzwart deutet in die Richtung: „Für Radler haben wir
gleich hier vorne Platz!“ Schnell ist mein Zelt aufgebaut, die
Dusche ist eine Wohltat, jetzt nur noch in die normalen Kleider
geschlüpft und schon sind die fast hundert Kilometer von heute
vergessen. Der Rücken spannt etwas, die Handballen sind fast taub,
natürlich am verlängerten Rücken habe ich auch
Schmerzen, aber sonst geht es eigentlich ganz gut. Heute steige ich
nicht mehr aufs Rad! Zu Fuß beginne ich den langen Anstieg hinauf
in die Stadt, ich brauche etwas zum Essen, mittags hatte ich nur zwei
Müsli-Riegel, das vertreibt zwar den Hunger, aber dann muss man
schon etwas am Abend nachlegen. Ich finde ein schönes Lokal, kann
im Garten sitzen und genieße die Ruhe. Als kleinen
Verdauungsspaziergang schlendere ich durch die Innenstadt, jetzt, am
Abend, haben sich die Horden Touristen verlaufen, es ist fast still. Im
Mittelalter war die Stadt ein Wallfahrtsort für die Pilger, die
nach Santiago oder Rom unterwegs waren. Vor den Toren der Stadt war ein
großes
Hospiz, das arme Pilger aufnahm, die Reichen durften Zimmer im ersten
Stock beziehen. Heute ist die billigste Übernachtung
wahrscheinlich mein kleines Zelt im Tal. Als ich an der Jakobskirche
vorbei komme, beschließe ich, mir den Altar mit den Bildern aus
der Legende des Heiligen anzusehen. Leider findet heute ein Konzert in
der Kirche statt, der Preis ist stattlich, außerdem hat es
bereits vor einer halben Stunde angefangen, ich lasse es sein, so
dringend sind die Bilder auch nicht. Der nächste Punkt auf der
Liste: Was muss ich alles nach dem Ende der Fahrt besichtigen. Schon
auf dem Rückweg drehe ich mich nochmals um. Ein letzter Blick auf
Kirche und Straße. Plötzlich fällt mir auf: Der
Westchor der Kirche steht auf einem Gewölbe und durch dieses
Gewölbe führt die Straße, die ich eben herunter kam.
Das habe ich bisher noch nicht gesehen: Eine Straße, die unter
einer Kirche hindurch verläuft. Noch ein letzter Telefonanruf
daheim: „Ja, alles in Ordnung, mir geht es gut. Dann bis
morgen.“ Solange die Kosten für die Anrufe erträglich
bleiben, werde ich mich öfters melden, je weiter weg ich bin,
desto kürzer werden die Anrufe und desto seltener rufe ich an.
Alles Routine!
Rothenburg – Hohenberg
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
74 km |
15,0 std./km |
164 km |
Das schöne Wetter hält an, nach dem Aufstehen steht
zwar eine Nebelfront im Tal, man sieht aber, dass im Zenit bereits der
blaue Himmel durchlugt. Das Frühstück kommt heute zu kurz:
Zwei frische Brötchen mit Streichkäse vom Kiosk und zwei
Tassen Kaffee an einem Automaten am Campingplatz – im Stehen. Das
nasse Zelt kann ich leicht abtrocknen, es ist nur die letzte Spur des
Taus. Vom Platz startend geht es kräftig nach oben, ich muss die
schöne lange Abfahrt von gestern wieder hinauf und an Rothenburg
vorbei nach Süden fahren. Plötzlich ein Schlag: Die Kette ist
gerissen! Das fängt gut an! Wenigstens bin ich noch direkt am
Campingplatz, kann mir nach der Reparatur die Hände mit Seife und
Sand gründlich waschen. Ich nehme ein Stück aus der Kette
heraus, es war wieder diese Niete, die gestern schon für die Panne
sorgte. Hoffentlich hält sie jetzt. Schieben mit dem
schwerbeladenen Rad ist Schwerarbeit und geht in die Knochen, vor allem
die Arme werden schnell lahm. Ich suche mir eine Route durch das
Taubertal, das sind zwar zwei Kilometer Umweg, aber ich spare mir die
Auffahrt nach Rothenburg. Kurze Zeit später bin ich wieder auf
meiner Route, die Angaben der Ortstafeln und meine errechneten
Kilometer weichen aber langsam voneinander ab. Noch hält sich das
Ganze in Grenzen. Aber ich glaube jetzt schon, dass man vorab
berechnete Kilometer nicht so ohne weiteres in die Wirklichkeit
übertragen kann. Am Schluss der Reise bestätigt sich das, ich
werde mehr als 400 Kilometer Differenz haben.
Heute geht die Reise fast direkt in südliche Richtung.
Kleine Nebenstraßen, die meistens im Tal verlaufen, kommen meiner
Sorge entgegen: Wird die Kette halten? Ich möchte eigentlich keine
Steigung fahren, erst mal sehen, ob die Reparaturstelle hält, wenn
es doch mal steiler wird,
schiebe ich lieber ein Stück. Noch vormittags bin ich in
Crailsheim, bei einer kleinen Pause besichtige ich die evangelische
Kirche St. Johannes Baptist, eine romanische Basilika, die bereits vor
1170 erbaut wurde. Mehr beeindruckt mich der Stadtbrunnen, der mit
Blumenrabatten und Pflanzschalen den Marktplatz beherrscht. Die
Bürgerhäuser räkeln sich in der steil stehenden Sonne,
es ist wieder ein sonniger Tag, nicht mehr ganz so heiß wie
gestern. Die letzten Kilometer hatte wieder eine Niete der Kette an
meinen Nerven gezerrt, sie wanderte langsam heraus. Es ist die
Niete, an der ich heute Morgen die Kette gekürzt hatte. Jetzt habe
ich die Faxen dicke: Ich habe noch das ultimative Mittel im Werkzeug:
Ein Kettenschloss. Damit ist für 1000 Kilometer Ruhe!
Die Landschaft wird hügelig bis bergig, lange Strecken
schiebe ich bergauf, ich habe das Glück, allein unterwegs zu sein.
Bei dieser Auswahl der Straßen würde jeder Mitfahrer
anfangen zu mosern: „Du mit Deinem Nebenstraßenfimmel!
Wie kann man nur so eine Strecke aussuchen!“ Wenn ich nicht
schiebe, muss ich oft genug im kleinsten Gang mit etwa 5 – 6
Stundenkilometer fahren, mit dem Rentnerritzel. Mein nächstes Ziel
ist der kleine Ort Rosenberg, eine ehemalige Wallfahrtskirche für
Jakobspilger. Der Altar der inzwischen neu gebauten Kirche wurde von
einem kunsthandwerklich begabten Pfarrer mit dem seltsamen Namen
„Sieger Köder“ geschaffen, es zeigt eine allegorische
Ansicht vom sogenannten „Monte de Gozo“ in Richtung
Santiago. Das Altarbild hatte mich schon als Titelblatt eines Buches
beeindruckt, jetzt sehe ich es in Natura.
Der nächste Höhepunkt des heutigen Tages ist bereits
am Horizont zu sehen, der Ort Hohenberg hat seinen Namen zu Recht
bekommen, die Kirche und das Pfarrhaus bzw. das Haus des Mesners stehen
auf einer steilen Kuppe. Ein gute Viertelstunde schiebe ich bergauf,
lege mein Rad am Fuß der letzten Steigung ab und gehe den Rest zu
Fuß. Eine sagenhafte Aussicht erwartet mich. Zuerst gehe ich aber
in die Kirche und zünde vor der Statue des St. Jakobs eine lange
Kerze an. Auch hier hat der Künstler und Pfarrer gewirkt, die
Glasfenster der Kirche sind ebenfalls von ihm gestaltet. Das Mesnerhaus ist rundherum bemalt, Szenen aus der Jakobslegende wechseln sich ab mit Bildern von Pilgern, die
rasten, Füße verbinden oder ihr Essen kochen. Besonders
interessiert mich ein gemalter Wegweiser (Bild J011), der in drei
Sprachen verkündet: Santiago 2.201 Kilometer. Dem ist zu
misstrauen! Ich glaube, der Künstler hat sich da
künstlerische Freiheiten herausgenommen. Am Fuß des
Hügels finde ich mein Rad unversehrt wieder, jetzt ist es nicht
mehr weit zum Campingplatz. Direkt am Rand eines kleinen Sees baue ich
mein Zelt auf, das Abendessen erhalte ich auch am Platz, heute
hätte ich keine Lust mehr, große Wege zu Fuß zu
machen. Ich schaue den Kindern und Jugendlichen beim Planschen im See
zu, die Sonne versinkt langsam am Horizont (Bild J014), die ersten
Mücken kommen. Während des Abendessens erkundige ich mich bei
der Kellnerin: „Kann ich morgen hier ein Frühstück
bekommen?“ „Ja, sicher, ab 9 Uhr sind wir wieder da.“
Als ich einen deutlichen Flunsch ziehe, haut sie mir in breitestem
Dialekt den Satz um die Ohren: „Wollet Sie wohl
bälder?“ Jetzt bin ich eindeutig mitten in Schwaben!
Hohenberg – Weilheim an der Teck
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
75,5 km |
15,8 std./km |
240 km |
Das war eine seltsame Nacht. Jedes Mal, wenn ich aufwachte – was relativ oft geschieht, ich muss
mich an das Schlafen auf der schmalen Matratze erst noch gewöhnen
– hörte ich ganz in der Nähe etwas oder jemand
schmatzen. So richtig, als ob jemand mit Genuss ein Brot isst und dabei
die Lippen nicht geschlossen hat. Heute Morgen dann die Lösung: In
dem See gibt es Karpfen oder andere große Fische, die nachts und
am frühen Morgen an der Oberfläche nach Mücken
schnappen. Ich weiß zwar, dass Karpfen normalerweise am Grund
nach Nahrung suchen, aber die hier waren oben auf der Jagd. Einen
Karpfen habe ich in jedem Fall deutlich gesehen. Ziemlich zeitig packe
ich zusammen, schon kurz nach acht Uhr bin ich fertig, auch die
Kellnerin von gestern ist schon da und serviert mir ein prächtiges
Frühstück. Da kommt Freude auf! Als Radler ist man schon sehr
froh, wenn es auch mit der ersten und wie manche sagen, wichtigsten
Mahlzeit des Tages klappt. Das Wetter ist heute nicht mehr so
heiß wie gestern, sehr windig, aber – welche Freude –
der Wind kommt von hinten! Nach einer langen Abfahrt folgt ein
schönes Stück am Flüsschen Lein. Aber leider, nach
einigen Kilometern ändert der Fluss seine Richtung und der
nächste Berg muss überquert werden.
Ich bin wahrhaftig nur auf kleinen Straßen unterwegs,
trotzdem ist hier ein Verkehr! Ich wundere mich immer wieder, wohin
fahren die denn alle? Sind das wirklich alles Mütter, die ihre
Kinder vom Kindergarten abholen und zum Sport oder zur Gymnastik
kutschieren? Handwerker auf dem Weg zum Kunden? Liefern Vertreter ihre
Ware an kleine Geschäfte auf dem Land? Ich kann keine sehen, hier
gibt es allenfalls einmal ein kleines Geschäft mit Lebensmitteln.
Trotzdem ist pausenlos Betrieb, keine fünf Minuten vergehen, bis
das nächste Auto vorbei braust.
Mutlangen und Schwäbisch Gmünd passiere ich, die Kirche hier ist beeindruckend, hinter
Lorch kommt der längste Berg, den ich heute hinauf schiebe. Es
geht in langen Serpentinen durch einen lichten Buchenwald nach oben.
Plötzlich verliert ein Pkw aus Österreich einige Meter vor
mir einen Teil des Auspuffs, fährt röhrend wie ein Formel
Eins Bolide weiter. Nach einigen Minuten kommt er wieder an, mit Radau
an mir vorbei nach unten, hinter der nächsten Kehre wendet er und
fährt wieder nach oben. Der sucht seinen Auspuff, denke ich und
bin darauf gefasst, dass ein junger Mann aus dem Wagen springt, das
Teil in den Kofferraum wirft und weiterfährt. Nichts da! Er wird
nur etwas langsamer und fährt mit einem Schlenker um den Auspuff
herum und verschwindet dröhnend hinter den Bäumen. Ich kann
ihn noch minutenlang in der Ferne hören. Jetzt ist es ruhiger, man
hört die Vögel zwitschern, es ist unglaublich, wie still
es werden kann, wenn einmal kein Auto in der Nähe ist. Nur das
Blut rauscht in den Ohren, der Atem pfeift – ich schiebe immer
noch bergauf – die Schuhe klacken auf den Asphalt, sonst nichts.
Der nächste Ort ist Wäschenbeuren, ich habe auf meinem Plan
notiert, dass dort ein Schloss zu besichtigen wäre. Das sogenannte
Wäscherschloss ist offensichtlich so bekannt im Ort, dass niemand
weiß, wo es steht. Nachdem ich drei Leute gefragt habe, gebe ich
auf. Hier teilt sich die Straße, ich könnte links fahren und
über Hohenstaufen weiter nach Göppingen fahren, oder ich
fahre geradeaus, fahre am Schloss der Hohenstaufen vorbei. Ein
älterer Herr klärt mich auf: „Da oben gibt es nur eine
Holzhütte und ein paar alte Mauern, wenn man die Fernsicht einmal
weglässt, rentiert es nicht, dort hinauf zu fahren!“ Das
Wetter ist inzwischen nicht mehr so optimal, Wolken und Dunst
verhüllen die Sonne, also kein Wetter für tolle Aussichten,
ich fahre geradeaus. Aber der Herr hat noch einen tollen Tipp:
„Wenn Sie nicht unbedingt nach Göppingen hinein fahren
müssen, können Sie die alte Bahnstrecke benutzen, das ist
jetzt ein Radweg.“ Mit etwas schlechtem Gewissen folge ich dem
Rat und weiche von meiner Route ab. Es lohnt sich wirklich! Die
Bahnstrecke, jetzt ein Radweg führt immer am Rand der Täler
entlang, an Orten vorbei ohne nennenswerte Steigung bis fast in die
Stadt hinein. Ich warte immer darauf, dass die Stadtmitte auftaucht,
aber plötzlich stehe ich am Ortsschild – ich bin durch den
Randbezirk der Stadt gefahren und habe Göppingen schon hinter mir.
Wieder ein Punkt auf der Liste, denn umdrehen und durch das
Großstadtgetümmel noch einmal zurück – das ist
mir doch zuwider. Außerdem habe ich auf dem tollen Radweg meine
ursprüngliche Route verlassen, ich wollte hier mitten in der
Schwäbischen Alb eigentlich bei Jebenhausen auf einer
landschaftlich schönen Straße nach oben auf die
Hochfläche fahren, bin aber jetzt einen Ort weiter. Flexibel muss
man sein, jetzt zeigt sich doch, dass es gut war, die Landkarten
mitzunehmen. Parallel zur bisherigen Strecke fahre ich weiter, dadurch
komme ich an einem Schloss – Filseck – mit Heimatmuseum
vorbei. Das Hinweisschild sieht verlockend aus, dort ist auch ein
Restaurant, ein Eis könnte nicht schaden! Ich fahre über eine
reichlich ausgefahrene Straße und was finde ich? Ein Restaurant
mit „heute Ruhetag“ und ein Museum, das Mittagspause hat!
Das war wohl nichts, ich sollte doch lieber auf meinen alten Weg
zurück. Aber einige Kilometer weiter finde ich auf meine
ursprüngliche Route zurück, jetzt ist auch der Campingplatz
in Sicht, er liegt noch vor der Autobahn im Tal, dahinter sehe ich die
Stadt Weilheim und eine Burg auf einem steilen Hügel. Das
wäre doch was für morgen? Noch frisch und ausgeruht die Burg
besichtigen. Es ist die Burg Teck, wie mir der Platzwart erzählt,
ein Gasthaus soll dort droben sein. Auf halber Höhe ist ein
Parkplatz, von dort aus ist es zu Fuß noch eine ¾ Stunde.
Ob ich morgen dazu Lust habe? Abwarten! Erst mal Zelt aufbauen, dann
Dusche, dann Abendessen und wenn es auf der Landkarte gut ausschaut,
mal sehen. Morgen ist auch noch ein Tag, ich muss mir abgewöhnen,
soviel vorher zu planen.
Ein kleiner Spaziergang bringt mich zum Ortseingang von
Aichelberg, so heißt die Gemeinde, auf deren Campingplatz ich
heute übernachte. Ich fühle mich ziemlich kaputt, das
Hinterteil schmerzt, ich laufe lieber, als noch einmal aufs Rad zu
steigen, der Rücken ist total verspannt, beim Sitzen muss ich mich
auf der Tischplatte abstützen, um schmerzfrei zu sein,
außerdem habe ich Schmerzen im rechten Ohr, wahrscheinlich vom
Fahrtwind. Mit einem Wort: Etliche Gründe, um aufzugeben. Die
Autobahn ist so nah! Ein kleiner Anruf, morgen Abend könnte jemand
mit dem Auto da sein und mich abholen. Ich will aber nicht! Verbissen
schiebe ich die Gedanken beiseite, morgen ist unser Hochzeitstag, das
wäre die rechte Blamage, ausgerechnet jetzt aufhören? Nein,
kommt nicht in Frage. Das Abendessen steht vor mir – mit sehr
viel Zwiebeln – und lacht mich an. Ich habe einen
Bärenhunger, noch schlimmer ist der Durst. Dagegen kann ich etwas
tun, nach zwei Halbe Radler ist es schon viel besser. Komisch, auf
welche Ideen man kommt, wenn man müde und hungrig ist. Wieder am
Campingplatz genieße ich den Luxus, auf einer Bank zu sitzen und
einen Brief nicht auf den Knien sondern auf einer Tischplatte zu
schreiben. So bescheiden wird man!
Weilheim – Tübingen
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
64 km |
15,1 std./km |
304 km |
Heute fällt das Frühstück am Zeltplatz aus,
hier gibt es nur einen Ramschladen, ein Bier als Ersatz, welches mir
der Platzwart anbietet, ist (noch) nicht nach meinem Geschmack.
Vielleicht später einmal? Die nächste größere
Ortschaft ist Weilheim an der Teck, dort finde ich eine Bäckerei
mit Stehausschank, die Leute gucken zwar etwas, als ich mit meiner
bunten Radelkluft hereinkomme, wenden sich dann aber ihrer bisherigen
Beschäftigung zu – Schlangestehen! Unglaublich, welche
Mengen Brötchen an einem Samstagmorgen über den Tresen gehen.
Zwanzig Stück sind keine Seltenheit! Ich geniere mich fast mit
meiner Bestellung: „Bitte einen großen Kaffee und zwei
Croissants.“ „Aber gerne!“ kommt es prompt
zurück, und kurze Zeit später stehe ich vor meiner dampfenden
Tasse. Ich radle weiter, finde einen Schleichweg zur nächsten
Ortschaft und kann damit 4 Kilometer einer viel befahrenen
Bundesstraße vermeiden. Es gibt zwar einen Radweg, aber so ist es
mir lieber. In einiger Entfernung wälzen sich Ströme von Lkw
und Pkw dahin. Beim
Studium der Landkarte stelle ich fest: Hier dreht sich alles um
„Teck“. Alle Orte unmittelbar am Fuß des Berges
führen den Namen mit in der Bezeichnung: Weilheim an der Teck,
Bissingen an der Teck, Owen unter Teck, nur xy hinter Teck gibt es
nicht. Doch recht prominent die Burg! Doch, wenn ich mir diese Burg
anschauen will, muss ich einige Kilometer um den Bergkegel herum
fahren, denn der Zugang ist genau auf der anderen Seite. Also, wieder
wird die Liste der Objekte länger, die ich später einmal
besichtige. Ich fahre ohne Umweg weiter. Ständig geht es auf und
ab, die Orte wechseln sich ab, alle sauber und reinlich, wie man es in
Schwaben erwartet. Hinter Reutlingen finde ich wieder einen Radweg, der
mir das Meiden der viel befahrenen Straßen ermöglicht und
mich in das
Neckartal führt. Um genau zu sein, eine nette Inline-Fahrerin
führt mich auf den richtigen Weg, bei der Mittagspause in einem
Park kam ich mit ihr ins Gespräch. Sie macht wegen mir einen
großen Umweg! Sehr nett! Der erste Regen seit meinem Aufbruch!
Aber ich kann es mir leisten, mich unterzustellen, denn heute ist die
Etappe recht kurz. Ich habe mir vorgenommen, Tübingen anzusehen,
dazu will ich etwas früher am Platz sein als sonst. Kurz vor einer
Gewitterfront schaffe ich es noch, mein Zelt aufzubauen, es ist nur ein
kurzer Schauer, dann kommt schon wieder die Sonne heraus. Heute fahre
ich mit dem Rad in die Stadt. Welch ein Gefühl! Ich glaube zu
fliegen! Ich bin das Gewicht des Gepäcks so gewöhnt,
dass mir die Fahrt mit dem leeren Bike richtig Spaß macht. Nach
kurzer Zeit bin ich in Tübingen. Der Marktplatz und das Rathaus
sind eine Augenweide. Ich schlendere durch die Gassen, überall
Stühle und Tische auf der Straße, es herrscht ein regelrecht
mediterranes Feeling hier. Ob das von den vielen Studenten kommt?
Tübingen ist schließlich eine uralte Universitätsstadt.
Toll sind auch die Stocherkähne am Neckar, sie verstärken
meinen Eindruck, in einem Venedig des Nordens zu sein. Es sind
große flache Boote mit einer Plattform am Heck, dort steht ein
„Gondoliere“, der das Boot mit einer Stange vorwärts
schiebt. Leider wird pro Kahn eine Mindestmenge von Leuten verlangt,
also wird es nichts für mich, im Abendlicht eine romantische
Bootsfahrt zu machen. Nach zwei Stunden habe ich die Schlenderei satt,
suche mir eine Pizzeria und schwelge in italienischem Essen. Sogar mit
Rotwein! Ein Glas muss reichen. Am
Nachbartisch sitzt eine ältere Dame, etwa vierzig bis
fünfzig, sie unterhält sich angeregt mit ihrem
Gegenüber. Lacht über dessen Witze und freut sich ihres
Lebens. Nur leider sitzt dort keiner! Mir fällt spontan der Film
„Mein Freund Harvey“ ein, in dem James Stewart mit einem
übergroßen Hasen spricht, den nur er sieht. Offensichtlich
gibt es das nicht nur im Film. Kurz vor einem klatschenden
Gewitterregen erreiche ich wieder den Zeltplatz. Das Zelt ist dicht.
Nebenan baut ein Ehepaar mit zwei Kindern ein großes Zelt auf,
sie sind ebenfalls mit dem Rad unterwegs, kommen aus Villingen und
wollen den Neckar abwärts fahren, dann noch ein Stück am
Rhein entlang. Sie erzählen, dass der Radweg den Neckar
aufwärts sehr schön ist. Hier auf diesem Platz sind
überraschend viele Radler, bisher war ich ganz allein, es macht
sehr viel Spaß, sich mit jemand zu unterhalten, der auch mit dem
Rad unterwegs ist.
Tübingen – Schwenningen
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
111 km |
15,3 std./km |
415 km |
Heute morgen
regnet es, ich sitze im Zelt und esse mein Frühstück. Es sind
die Reste von gestern Mittag, eine andere Möglichkeit habe ich
nicht, hier am Platz gibt es erst ab 10.00 Uhr etwas zu essen, der
nächste Laden wäre in Tübingen, also was bleibt mir
schon übrig? Nach kurzer Zeit kommt die Sonne heraus, ich kann das
Zelt abtrocknen und einpacken. Gestern habe ich zum ersten Mal
gewaschen, am Platz gibt es Waschmaschine und Trockner, ich habe meine
verschwitzten Radtrikots und die Hosen, Strümpfe und ein T-Shirt
in die Maschine gepackt. Nach einer guten Stunde war alles erledigt,
getrocknet und wieder eingepackt. Gelobt sei die Technik! Mit dem
Ehepaar von nebenan habe ich noch einen längeren Schwatz. Der
Radweg am Neckar entlang macht einen Bogen nach Westen und dann erst
nach Südwest, wenn ich ihm folge, fahre ich an der Burg der
Hohenzollern in weitem Bogen vorbei. Aber, wenn ich an gestern denke,
werde ich wahrscheinlich mit dem bepackten Rad nicht auf die Burg
hinauffahren, also was soll’s? Ich beschließe, meine
bisherige Route zu ändern und dem Neckarradweg zu folgen. Wenn ich
bis zur Quelle fahre, bin ich direkt in der Nähe meiner alten
Route und kann dann bei Villingen bzw. Schwenningen wieder die
beschriebene Richtung nehmen. Der Radweg schlängelt sich zwischen
dem Neckar und der Bahnlinie entlang. Ich fahre einen Waldweg entlang
und folge dann einem Bahndamm. An einer Ecke denke ich mir, dass der
Weg weiter am Damm entlang geht. Ich habe schon 2 Kilometer hinter mir,
als der Weg in einem Distelgestrüpp endet. Nur direkt am Gleis
geht ein schmaler Pfad weiter, überwiegend auf Schotter. Umkehren
will ich nicht, ich schiebe und fahre den Pfad weiter am Gleis entlang,
denke mir, es wird schon eine Möglichkeit kommen, wo ich wieder
auf eine Straße gelange. Aber Irrtum! Als selbst der Pfad
verschwindet, kapituliere ich, schleppe mein Rad über das Gleis
und einen Hang hoch, dort oben ist die von mir gesuchte Straße.
Vorher muss ich aber meine Packtaschen abschnallen, denn das
vollbeladene Bike schaffe ich nicht nach oben. Also gehe ich eben
dreimal. Endlich oben, das Rad ist wieder komplett, muss ich dringend
eine Pause machen, es ist derart drückend schwül, dass der
Schweiß am ganzen Körper fließt. Kurz darauf kommt
auch schon die Abkühlung, es beginnt zu regnen. Einige Kilometer
weiter, ich bin einfach weiter gefahren, es war sehr willkommen,
hört der Regen wieder auf, es sind nur kurze Schauer, die richtig
angenehm warm niedergehen. Die Sonne kommt wieder heraus, der
Fluss und die Wiesen beginnen zu dampfen, auch von mir steigen kleine
Dampfwolken auf, ich versuche zu fotografieren, aber leider
beschlägt die Linse und der Sucher durch meine
Körperwärme, ich kann nichts sehen. Eine Staustufe liegt vor
mir, der Weg ist so schmal, dass ich artistisch balancieren muss, es
ist so rutschig, ich steige ab und schiebe einige Meter. Aber nach dem
Damm ist alles wieder in Ordnung, der Weg wird breiter und führt
am Rand der Staufläche weiter. Libellen flitzen vorbei, Vögel
zwitschern in den Bäumen, eine Lerche steigt vor mir trillernd in
die Höhe, es ist eine wahre Freude hier zu fahren. Kein Laut vom
Verkehr, nur die Natur um mich herum. Im Lauf des Tages wird der Neckar
zu einem kleinen Bach, schließlich verliert er sich irgendwo
links von mir, ich folge weiter dem Radweg-Symbol, das mich steil nach
oben führt. Es geht einen langen Hang in Serpentinen hinauf. Oben
treffe ich wieder auf meine verlassene Route, ich fahre nach Rottweil
hinein. Ist das die Stadt, aus der die Rottweiler kommen? In jedem
Vorgarten tummeln sich Hunde, auch große Tiere sind dabei, aber
dass besonders viele Rottweiler dabei wären, kann ich nicht sagen.
Eines aber ist sicher: Als Radler, noch dazu mit Packtaschen, die immer
etwas quietschen und klappern, bin ich das Hassobjekt Nummer Eins. Kaum
bin ich in Hörweite, werde ich von allen Hunden verbellt,
sozusagen akustisch weitergereicht und von allen Seiten von
wütendem Gebell begleitet. Besonders in stillen Nebenstraßen
werde ich angegiftet, offensichtlich bin ich die einzige Abwechslung
– vielleicht abgesehen vom Briefträger! In der
Nähe von Trossingen finde ich einen Campingplatz, baue mein Zelt
auf, wie jeden Abend, dann zur Dusche und zum Italiener zum Abendessen.
Kündigt sich der
nächste Defekt an? Heute hatte ich laufend an steileren
Stücken, eben dort, wo kräftig getreten werden muss, ein
Knacken im Tretlager. Jetzt funktioniert die Kette seit drei Tagen, nun
geht das mit dem Lager vielleicht los! Ich hatte kurz nach dem Kauf des
Rades schon einmal dieses Knacken, habe dann, weil noch Garantie war,
das Rad zum Händler gebracht, nach zwei Tagen wiederbekommen,
mit der tiefgründigen Aussage: „So, jetzt ist alles in
Ordnung.“ Auf meine Frage: „Was war denn defekt?“
erhielt ich die Antwort: „Unser Mechaniker ist nicht mehr da,
rufen Sie doch morgen noch einmal an!“ Eine ganze Woche versuchte
ich, den ominösen Mechaniker ans Telefon zu bekommen, aber alles
vergebens. Entweder war er noch nicht da, gerade eben weg, sprach mit
einem Kunden oder „ging nicht ans Telefon“. Nach der
besagten Woche gab ich auf, der Mann war eine Schimäre,
außerdem war das Knacken weg, ich konnte mich beruhigen. Jetzt
bin ich aber nicht ruhig, das Knacken beschäftigt mich. Aber, in
jeder größeren Stadt, die ich durchquerte, habe ich einen
Radhändler gesehen, wenn das Lager morgen wieder so knackt,
fahre ich einmal bei einem vorbei und lasse das Tretlager nachschauen.
Mich nervt im Moment
aber auch das ganze Drumherum, jeden Abend die Packtaschen auspacken,
jeden Morgen wieder einpacken. Das, was man sucht, ist immer genau ganz
unten! In weiser Voraussicht habe ich den Inhalt in Plastiktüten
verteilt, so dass nicht alles durcheinander fliegt, wenn ich eine
Tasche leere. Trotzdem, es nervt! Wie vermisse ich da einen Koffer oder
eine große Tasche, wo alles so übersichtlich drin liegt.
Aber wenn ich schon dabei bin, mir etwas zu wünschen, könnte
ich mir auch gleich einen Schrank und ein Bett und das
dazugehörige Badezimmer wünschen. Vor allem den abendlichen
Gang über den Campingplatz mit den Badelatschen hasse ich, jedes
Mal habe ich anschließend nasse und kalte Füße. Ich
habe jetzt immer ein Handtuch im Zelt liegen, mit dem ich die
Füße trocknen kann. Dieses Handtuch flattert dann am Morgen
am Gepäckträger eine halbe Stunde im Wind, bis ich es trocken
wieder einpacken kann. Überhaupt die Handtücher und
Waschlappen! Es ist schon unglaublich, wie lange es dauert, selbst
jetzt im Hochsommer, bis ein Handtuch trocken ist, vom Waschlappen ganz
zu schweigen. Hänge ich das Zeug nachts in das Zelt, ist es so
ungemütlich feucht, dass ich ganz schnell meine Wäscheleine
außen spanne. Lasse ich die Wäsche aber in der Nacht
außen hängen, ist sie am Morgen nass vom Tau. Ideal
wäre eine Wäscheleine unter einem Dach, aber welcher
Campingplatz bietet so etwas? Ich habe jetzt einen Kompromiss
geschlossen: Im Fernsehen sah ich, dass Turmspringer, die ja alle paar
Minuten ins Wasser springen, ein Fensterleder zum Abtrocknen nehme. Das
mache ich jetzt auch und rubble mir nur die letzte Feuchtigkeit mit
einem Handtuch ab. Das Leder trocknet schnell, die Handtücher kann
ich noch vor dem Schlafengehen abnehmen, so geht es ganz gut.
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