Schweiz



 Home
Nach oben
Frankreich

 


 
Brugg Solothurn Yverdon le Lac Geneve

Schwenningen – Brugg

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
98 km 17,0 std./km 513 km

Am Morgen ist es kühl und regnerisch, keine Aussicht, dass ich das nasse Zelt noch trocknen kann, ich muss es feucht einpacken. Wieder einmal gibt es kein Frühstück am Platz. Ich fahre an die eineinhalb Stunden durch größere Dörfer, ohne ein Geschäft oder einen Bäcker zu sehen. Kurz vor der Autobahn Stuttgart – Singen sehe ich eine Raststätte von McDonald. Dort gibt es Kaffee! Ich bin jetzt so ausgehungert, dass ich alles essen könnte! Ich schleiche mich über einen Feldweg von hinten an, stelle das Rad ab und klappere mit meinen Radschuhen in den Gastraum. Was für ein Aufsehen! Geschäftsleute im Anzug, Handwerker im Blaumann bestaunen den Exoten. Ich bestelle am Tresen Kaffee, leider gibt es außer einer Apfeltasche nichts mehr zum Frühstück, es ist schon fast Mittag. Aber auf einen Hamburger habe ich auch keinen Appetit. Der Kaffee ist heiß! Das ist das Beste, was man dazu sagen kann, die Apfeltasche ebenfalls. Mir schlägt fast der Qualm aus den Ohren! Ich trinke einige Schlucke aus der Radflasche mit frischem Wasser, es wird wieder erträglich. Die nächste größere Ortschaft ist Donaueschingen. Große Schilder an der Straße belehren mich, dass hier die Donau entspringt. Bisher hatte ich immer mein Schulwissen strapaziert:Donauquelle „Brigach und Breg bringen die Donau zuweg“ aber vielleicht hat sich das geändert? Für so einen großen Strom ist das aber eine mickerige Quelle! Ein Herr von Fürstenberg hat ein riesiges Schloss mit großen Gartenanlagen sozusagen um die Quelle herum gebaut. Neben dem gefassten Quelltopf hängen in Stein gemeißelt Bestätigungen an der Wand. Die Anliegerstaaten der Donau wie Österreich, Ungarn und Jugoslawien bestätigen hier, dass dieses wirklich die Donauquelle ist. Im Wasser liegen jede Menge Münzen, offensichtlich wollen alle diese Spender so schnell wie möglich wieder hierher zurückkommen. Das ist doch der Sinn dieses Münzenwerfens! Ich sattle mein Ross wieder und fahre nach Süden. Weil eine Straße gesperrt ist – im Normalfall gibt es das für Radler nicht, wir kommen überall durch, notfalls wird das Rad getragen - mache ich einen kleinen Umweg. Heute möchte ich meine 22 kg Gepäck und das Fahrrad nicht tragen. Der nächste Ort hat den netten Namen „Sumpfohren“, es ist eine Siedlung, einige hundert Meter oberhalb einer weiten Ebene. Wenn ich mir die Gegend gründlich ansehe, glaube ich den Sumpf noch zu erkennen, überall stehen Binsen, das Grundwasser muss hier sehr hoch sein. Ich strampele die Steigung nach oben, leider ist es heute dunstig und leichter Regen fällt, sonst könnte ich in der Ferne noch Donaueschingen erkennen. Am Himmel ziehen Bussarde ihre Kreise, wenn ich nach oben schaue, ist mindestens immer einer in Sicht, oft höre ich auch das typische Kreischen der Vögel. Ich habe etwas Gegenwind, trotzdem fällt das Fahren leicht, denn es geht überwiegend abwärts, dem Rheintal zu. An einer Kreuzung halte ich an, links, den Hang steil nach oben, geht die Straße nach Schaffhausen, geradeaus, immer leicht bergab, durch die wunderschöne Wutachschlucht, eine glatte, wenig befahrene Straße! Sie führt mich direkt nach Waldshut. Die Entscheidung fällt leicht: Bergab, Schaffhausen bleibt links liegen, die Ortschaften Neuhausen und Eglisau liegen an einer Schleife des Rheins, sie werde ich auslassen. Nach kurzer Zeit bin ich schon unten am Fluss, hier schaut er noch nicht so mächtig aus, wie z.B. bei Köln, er ist ja noch jung. An einer Brücke stauen sich die Fahrzeuge, hier ist der Übergang in die Schweiz. Ich kann den Stau auf dem Fußweg umgehen, der Zöllner schaut kaum in meine Richtung, die erste Grenze ist passiert. An einem Kiosk tausche ich meine heimatliche Währung in Schweizer Franken um, sie sind schön bunt, das Kleingeld kommt in einen Plastikbeutel ganz unten in die Packtasche. Das brauche ich lange nicht mehr!

Als erstes fallen mir Schilder auf mit dem Radsymbol, als Ziel steht dort nur Aare. Die Schilder führen mich weg von der Straße, über eine Brücke direkt zum Nebenfluss, der dort zu einem See aufgestaut ist. Ich habe die Wahl: Aare links oder Aare rechts, ich habe keine Ahnung, deshalb fahre ich links. Ein prachtvoller Radweg zieht ohne Steigung am Fluss entlang, durch Auwälder, an Feldern mit Zwiebeln vorbei, Maisfelder und Kartoffeläcker wechseln sich ab. Auf einem Feld pflügt eben ein Landwirt, wie eine Kompanie Soldaten stehen sieben Reiher daneben und warten offensichtlich, dass der Bauer verschwindet. Bis heute habe ich nur einzelne Reiher gesehen, aber noch nie so viele auf einmal! Es wird Abend, ich nähere mich der Stadt Brugg. Nach meiner Karte ist hier kein Campingplatz in der Nähe, ich muss wohl oder übel in einem Gasthaus übernachten. Eine ältere Frau kommt mir am Gehweg entgegen: „Können Sie mir sagen, wo ein Gasthaus zum Übernachten ist?“ „Hier gibt es nur ein Hotel, das andere Haus wird gerade renoviert! Aber sagen Sie mal, muss es unbedingt ein Gasthaus sein? Wie wäre es mit der Jugendherberge?“ „Natürlich gerne! Darf ich da auch als Nicht-Jugendlicher übernachten?“ „Aber sicher, als Radler immer!“ Die Dame kehrt ohne langes Zögern um, sie wohnt in der Nähe, holt ihr Fahrrad aus dem Schuppen und bringt mich direkt zur Herberge. Als ich mich überschwänglich bedanke, sagt sie: „Ach wissen Sie, ich bin voriges Jahr mit meinem Mann die Donau abwärts bis Budapest gefahren, da weiß ich wie das in einer fremden Stadt ist, wenn einem jemand die Richtung weist.“ Ich staune, traue mich kaum zu sagen, wo ich hin will, am Ende wünscht sie mir noch viel Glück und verschwindet mitBrugg Jugendherberge wehendem Kopftuch um die nächste Ecke. In der Jugendherberge erhalte ich ein kleines Einzelzimmer, das Haus sieht aus wie ein kleines Schloss, der Herbergsvater erklärt mir, dass die Jugendherberge früher das Stadtschloss eines sehr reichen Mannes war, der sein Erbe der Stadt vermacht hat. Ich treffe auf einige Radler, die von einer Tour um die großen Schweizer Seen zurückkommen und auf dem Weg nach Waldshut sind. Sie geben mir noch einige Tipps, welchen Weg ich morgen nehmen soll. Hier gibt es sogar Wäscheleinen, die unter einem Vordach hängen! Die anderen Radler hängen ihre durchweichten Sachen auf, sie sind heute den größten Teil des Vormittags im Regen geradelt und können es nicht fassen, dass ich so trocken bin. Ich ergreife die Gelegenheit und wasche meine Schmutzwäsche, hänge sie ebenfalls auf. Gelobt sei Rei in der Tube, es wird alles sauber. Zum Abendessen suche ich wieder einen Italiener, es ist noch teuer genug! Dafür habe ich durch die Übernachtung Geld gespart, ich habe eine Karte für 25 FF bekommen, da kann ich zehnmal in JH in der Schweiz oder Frankreich mit Sonderkonditionen übernachten. Ich werde zum ersten Mal seit ich losgefahren bin in einem richtigen Bett schlafen! Ich freue mich schon darauf.

Aber zuerst muss ich noch etwas zu meiner Route in der Schweiz sagen: Bei meiner Suche nach ehemaligen Jakobswegen habe ich immer wieder gesehen, dass in den Büchern die Wege an den ehemaligen Landesgrenzen zu Ende waren. Natürlich gingen die Wege weiter, aber die Autoren haben sich eben auf ihr Land konzentriert. Leider fand ich kein Buch aus der Schweiz. Heute, fünf Jahre später, kann ich leicht im Internet Informationen auch aus der Schweiz über deren Jakobswege finden. Inzwischen weiß ich, dass ich am größten Schweizer Pilgerort, Einsiedeln, vorbeigefahren bin. Die Wege liefen fast alle per Schiff über den Bodensee und weiter nach Konstanz, von dort nach Einsiedeln. Ich habe meine Route rein nach Landschaft und Höhenlinien in der Schweiz geplant. Ich hatte einen höllischen Respekt vor den Alpen. Freundlicherweise gibt es in der Berglandschaft auch flache Stellen, so z.B. die großen Seen, die im Westen vom Schweizer Jura und im Osten von den Zentralalpen begrenzt werden. In meiner kindlichen Einfalt hatte ich die Radwege vor Augen, die an den Seeufern entlang führen. Leider gibt es die hier nicht, aber zumindest an den Flüssen bestehen Radwege, die ohne viel Steigung nach „oben“ führen. Ich werde der Aare möglichst weit flussauf folgen, dann an den großen Seen vorbei oder entlang zum Westende des Genfer Sees fahren und von dort der Rhone folgen. Soweit der Plan.

Brugg – Solothurn

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
77,5 km 15,6 std./km 591 km

Welch ein Komfort! Ich sitze auf einer Bank, habe mein Frühstück – in richtigem Geschirr – vor mir und genieße Müsli mit Orangensaft, Kaffee, Brot mit Marmelade. Nebenan sitzen die anderen Radler, wir unterhalten uns über die Strecke, übers Wetter und so weiter. Schweren Herzens breche ich auf, meine Wäsche von gestern ist noch feucht, ich muss sie außen auf den Träger binden. Hoffentlich kommt kein schlechtes Wetter mehr. Aber es sieht gut aus, die Regenwolken haben sich nach Westen verzogen, ein frischer Wind bläst mir entgegen. Die andere Gruppe bricht auch auf, sie sind heute Abend zu Hause, sie wohnen in der Wutachschlucht, durch die ich gestern gefahren bin. Soll ich neidisch sein? Nein, das Abenteuer lockt! Ich folge weiter den Radwegen, bin so auch gegen den Wind etwas geschützt, der immer noch in die falsche Richtung weht. Mittags mache ich auf einer Hügelkuppe Rast, an einem Segelflugplatz, der im Moment aber nicht in Betrieb ist. Auf einer Bank breite ich meine Wäsche aus, nach einer Stunde ist alles trocken, ich kann weiterfahren. Mir fallen immer wieder überfahrene Tiere auf, das hier sind zwar kleine Landstraßen, trotzdem sehe ich alle paar Kilometer platte Tiere, häufig Vögel, Spatzen, Amseln, andere, die ich nicht benennen kann, natürlich ab und zu einen Igel, aber auch einmal ein Eichhörnchen. Heute morgen lag ein totes Reh im Straßengraben und heute Nachmittag sehe ich einen Dachs neben der Straße liegen. Im nächsten Ort halte ich am ersten Bauernhof an: „Da vorne liegt ein toter Dachs im Graben, sagen Sie bitte dem Förster Bescheid?“ „???“ „Da vorne liegt ein toter“ „Ist das noch auf unserer Seite oder die nächste Gemeinde?“ „Weiß ich nicht, aber der liegt doch nur 200 Meter weiter!“ „Ja, ich telefoniere mit dem Gendarmen.“ In Ordnung, wenn der das Tier birgt, soll es mir auch recht sein. Vielleicht gibt es keine Förster in der Schweiz? Oder heißen die nur anders? Wenn die Leute mit ihrem normalen Dialekt reden, verstehe ich kein Wort. Das habe ich gestern in der Herberge gemerkt. Erst wenn sie „umschalten“ auf Hochdeutsch, kann ich der Unterhaltung folgen. Was mir noch auffällt: Seit ich den Rhein überquert habe, sehe ich keine Bussarde mehr, vorher waren die Vögel allgegenwärtig, jetzt, wie weggeblasen. Ist das Wetter hier für sie zu rau? Ich weiß es nicht. Dafür sehe ich tausend Saatkrähen. Was mir noch auffällt: Auf den Straßen sehe ich höchst selten die Hinterlassenschaft von Hunden, dafür an allen Ecken, die zum Auslauf der lieben Tiere taugen, grüne Kästen, aus denen die Leute Plastiktüten ziehen können, mit denen dann die „Sachen“ aufgehoben werden und in Abfallbehältern entsorgt werden. Solothurn an der Aare

Am Spätnachmittag kommt Solothurn in Sicht, dort werde ich heute in der Jugendherberge übernachten. Inzwischen kenne ich das Schild, das mich zur Herberge leitet: Ein großer Tannenbaum, darunter ein kleines Haus. Ich muss nur aufpassen, dass ich es nicht mit dem Schild für Rastplätze verwechsele, dort ist eine kleine Bank unter dem Baum. Nein, alles geht glatt, direkt in der Altstadt, praktisch nur einen Steinwurf von dem Marktplatz weg, ist die Herberge. Wieder erhalte ich ein Zimmer für mich allein, heute aber mit 12 Betten. Nebenan richtet sich eine ganze Klasse ein, der Lärm ist ohrenbetäubend. Der Mann an der Rezeption fragt mich, ob ich auch ein Abendessen hier haben will. Ich nehme dankend an, heute Mittag habe ich zum ersten Mal etwas inRadler absteigen einem Lebensmittelgeschäft eingekauft, mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, welche Preise hier herrschen. Da sind die 11 SF für das Abendessen ein Schnäppchen.

Heute Abend durchstreife ich den Ort zu Fuß, die Kirche ist beeindruckend, schöne Plätze, mittelalterliche Straßenzüge und mittendrin eine Open Air Veranstaltung, am größten Platz von Solothurn spielt eine Kapelle, außen herum Bänke, natürlich alle besetzt. Ich horche eine Zeitlang stehend zu, es spielt die „Dutch Swing College Band“, sehr schwungvoll, die Musik gefällt mir, sie pendelt zwischen Boogie, Swing und Blues. Durch einen Tordurchgang komme ich in einen kleinen Innenhof, ein Italiener hat TischeZwiebelfeld und Stühle vor sein Lokal gestellt. Ich bestelle ein Bier, sitze hier und höre die Musik wie aus einem Schalltrichter besser als direkt am Platz. Es wird mehr als ein Bier. Rückblickend muss ich sagen, Solothurn hält das, was Tübingen versprach, die Stadt ist eine Reise wert. So gegen elf Uhr mache ich mich auf den Weg zur Herberge, man hat mir einen Schlüssel mitgegeben, denn das Tor wird bereits um zehn Uhr zugesperrt. Ich fummle mit dem Schlüssel im Schloss, er sperrt nicht! Nein, es war nicht das Bier! Es war der falsche Schlüssel! Ich überlege, an welche Fenster ich klopfen soll, aber das Mauerwerk ist zu hoch, die Schlafräume sind alle oben im 2. Stock. Ich sehe schon eine Nacht auf der Parkbank vor mir, als eine Gruppe von Leuten auf die Herberge zukommt. Es sind die Lehrer der Klasse, die neben mir einquartiert wurde, sie lassen mich gerne mit hinein. Im Nebenraum geht es noch hoch her, ich steige in mein Bett und hoffe, dass dann schon Ruhe einziehen wird. Aber ich sehe mich getäuscht, es wird immer lauter, Gelächter und laute Gespräche verleiden mir das Einschlafen. Nach zwei Stunden, es ist schon nach 1 Uhr, reißt der Geduldsfaden! Ich hämmere gegen die Zwischenwand und brülle so laut ich kann: „Ruhe!“ Plötzlich, wie abgeschnitten, nur noch Flüstern und leises Kichern, das auch nach einiger Zeit verstummt. Endlich, ich kann einschlafen!

Solothurn Ruhetag

Beim Aufwachen geht der erste Blick zum Fenster: Wie ist das Wetter? Schlecht, es regnet. IchSolothurn Marktplatz liege im Bett, natürlich im Schlafsack – Vorschrift in der Herberge! – und schaue den Regentropfen zu, die über das schräge Dachfenster laufen. Es sieht nicht so aus, als ob der Regen heute noch aussetzt. Bisher habe ich nicht darüber nachgedacht, ob ich Ruhetage einfügen soll, aber heute beschließe ich, es wird einer. Mein Kreuz braucht dringend eine Pause, auch die Hände, die immer taub werden, sollten besser einige Zeit geschont werden, immerhin sitze ich etwa 8 – 9 Stunden täglich auf dem Rad. Vom Sitzpolster ganz zu schweigen! Ich bin sehr froh, dass ich einen gut eingefahrenen Ledersattel am Rad habe, so kann ich wenigstens auch längere Zeit strampeln, ohne dass es unangenehm wird. Allerdings, bei Regen, wenn der Sattel nass wird, ist das so eine Sache, meine Regenjacke, bzw. meine Allzweckjacke hat eine verlängerte Rückenpartie, die bei Regen aufgeknöpft werden kann und dann auch den Sattel vor Regen schützt, trotzdem, es wird immer etwas nass. Nach einem sehr gemütlichen, langen Frühstück in der Herberge mache ich mich auf die Suche nach dem Verwalter. „Ich möchte noch einen Tag länger bleiben! Geht das?“ „Kein Problem, Sie müssten aber in ein anderes Zimmer umziehen.“ Kurze Zeit später bin ich in einem 2-Bett Zimmer zusammen mit einem Lehrer aus England, ich glaube, er kommt aus Birmingham. Mr. Clenk hat eine Bahnkarte, mit der er quer durch Europa für sehr wenig Geld mit dem Zug fahren kann und erkundet in den Ferien den Kontinent. In den vergangenen 4 Wochen war er schon in Holland, Belgien, Frankreich und schaut sich jetzt die Schweiz an. Am meisten bedauert er, dass er nur die Städte sieht, denn zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt er nicht sehr weit. Wir diskutieren eine halbe Stunde lang über den Wert eines Klapprades, aber nachdem wir beide umgerechnet haben, was ein gutes Rad kostet – etwa 3000 DM – stimmen wir überein, dass diese Ausgabe zusätzlich zu den Reisekosten nicht drin ist. Ich verabschiede mich von meinem Zimmergenossen, wir werden uns heute noch öfters sehen. In der Nähe ist ein Postamt, heute werde ich den ersten Teil der Landkarten und einen vollen Film nach Hause schicken, ich möchte so wenig Gewicht wie möglich dabei haben, außerdem können meine Lieben daheim dann schon die Fotos ansehen, die ich bisher geknipst habe. Am Postamt bekomme ich auch ein Paket, in den ich meine Sendung gut unterbringe. Auf dem Rückweg hört der Regen auf und die Sonne kommt durch, aber es ist fast Mittag, da hat es keinen Sinn, jetzt doch noch aufzubrechen, ich würde die Strecke bis zur nächsten Herberge nicht mehr schaffen. Nachdem ich mir heute frei genommen habe, will ich auch mit meiner Zeit etwas Vernünftiges anfangen, ich habe gestern bereits die Stadt und die Kirche besichtigt, heute werde ich mir das „Zeughaus“ ansehen, es ist ein kleines Museum, das Malerei, Rüstungen und Waffen ausstellt. Im Erdgeschoss ist eine Sonderausstellung des Malers Ferdinand Hodler, ich bin außer einer älteren Dame der einzige Besucher. Nach kurzer Zeit kommen wir ins Gespräch. Sie ist extra aus Mannheim hierher gefahren, um die Ausstellung zu sehen, sie erklärt mir die unterschiedliche Malweise des Künstlers, den sie offenbar sehr verehrt. Sie will den ganzen Tag vor den Gemälden verbringen und erst am nächsten Tag zurückfahren. Mir ist das zu lange, ich verabschiede mich und schaue mir im ersten Stock die Waffen an. Meiner Meinung nach haben die Schweizer ein ganz anderes Verhältnis zu Waffen als wir, sie sind auf ihr Militär stolz und zeigen es auch gerne, so wie hier in der Ausstellung. Alles ist bis ins Kleinste erklärt, berühmte Gefechte, von denen ich bisher nichts oder nur wenig gehört hatte, werden in Schaukästen nachgestellt. Apropos Geschichte: Mir kommt dabei immer mein Geschichtsunterricht in der Schule in den Sinn, der ist jetzt schon mehr als 50 Jahre her, aber ich wette, es hat sich nichts geändert. Immer noch werden alle kriegerischen Ereignisse, von den Kriegen der Griechen und Römer über das Mittelalter bis heute aufgezählt, über die kulturellen Taten der Menschheit erfährt man nur am Rand: In meinem alten Geschichtsbuch wird 10 Seiten lang über die Schlachten – Punische Kriege und sonst etwas – geschrieben, aber über die hellenische Kultur schreibt man nur eine Seite. Es ist traurig. So auch hier: Alle alten Schlachten bis ins Einzelne, über das Leben der Menschen nichts, ist wahrscheinlich zu uninteressant. Im nächsten Stock ist noch eine Sonderausstellung, hier wird das berühmte Schweizer Armeemesser vorgestellt. Sehr informativ, aber für mich zu umfangreich, genau so wie die dicken Messer mit 30 Teilen drin. Da braucht man einen dicken Gürtel, dass einem die Hose nicht ausgezogen wird, so schwer wie die Teile sind. Ich habe selbst ein Taschenmesser dabei, aber das ist so klein und leicht und enthält nur 5 Teile, trotzdem komme ich damit zurecht, wenn das so weiter geht, bauen die irgendwann noch einen Diaprojektor in ihre Messer ein! Nebenan wird ein Videofilm gezeigt, da ich Zeit habe, setze ich mich und schaue mir an, wie ein Schwert geschmiedet wird. Das ist wahrhaftig mehr als interessant, ich bin hingerissen, welche Kunstfertigkeit dazu gehört. Es wird erklärt wie eine Damaszener Klinge geschmiedet wird. Der Stahl wird für Klingenkörper und Griff mehrfach gefaltet und gedreht, damit entsteht das berühmte Muster auf dieser Art Schwerter. Das fertige Produkt besteht dann aus zwei verschiedenen Stahlsorten, harten für die Schneiden, elastische für Kern und Griff und wird im Schmiedefeuer zu einer Klinge zusammen geschmiedet. Mit der heutigen Technik, d.h. mechanischem Hammer, von Motoren getriebenen Essen bzw. Schleifscheiben brauchen zwei Mann immer noch mehr als 50 Stunden um ein solches Prachtstück anzufertigen. Man kann sich vorstellen, welchen Wert eine solche Klinge in der Vergangenheit hatte, wo nur die Muskelkraft von Menschen genutzt wurde.

Heute Abend spielt am Marktplatz Mr. Acker Bilk, ich suche mir den gleichen Platz wie gestern, durch die Passage kann ich die Kapelle besser und klarer hören als am Platz. Aber oh weh, der Mister hat seine beste Zeit vermutlich schon hinter sich, seine Kapelle auch, um 10 Uhr verziehe ich mich in die Herberge, mein Zimmergenosse ist auch schon da, wir stimmen beide überein, das war eine Sch-Musik. Wir quatschen noch eine Stunde, dann Licht aus und Schlafen.

Solothurn – Yverdon le Lac

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
100,4 km 16,8 std./km 691 km

Wieder ein gutes, reichliches Frühstück, dann verabschiede ich mich von John aus Birmingham, der heute auch weiter fährt, er will nach Zürich. In einem kleinen Geschäft besorge ich mir ein Lexikon deutsch – französisch, denn die Sprachgrenze werde ich heute überqueren. Eigentlich wollte ich über Fribourg fahren, aber die Karte verspricht ein schönes Radeln an den großen Seen entlang, erst kommt der Bieler See, dort entspringt die Aare, der ich flussaufwärts bisher gefolgt bin, dann der Lac de Neuchâtel, dann der Genfer See oder wie er hier heißt, Lac Léman. Die Radler in Brugg hatten mir auch dazu geraten, ich folge gern, ich muss nicht über die Vorberge, es reicht, wenn ich den Eiger aus der Ferne sehe. Das Wetter ist ziemlich wechselhaft, immer wieder leichter Regen, einmal stelle ich mich in einer Busstation für eine ½ Stunde unter, am Nachmittag wird es wieder besser, es ist wärmer, die Sonne scheint. Da heute Sonntag ist, dachte ich, dass ich nichts zum Einkaufen finde, aber in einem kleinen Dorf ist kurz vor Mittag ein Lebensmittelgeschäft geöffnet, ich kann mein Mittagessen einkaufen! Morgens fahre ich ein Stück auf Straßen, dann wieder Radweg, der aber unbefestigt ist und mir mein Rad so versaut, dass ich an der nächsten Tankstelle anhalte und das Rad, vor allem aber die Packtaschen, mit einem Wasserschlauch abspritze. Bei dem Wetter bleibe ich doch lieber auf der Straße! Am Bieler See fahre ich glatt vorbei, die kleinen Nebenstraßen führen nicht hinunter, ich denke auch, dass hier keine Radwege am See entlang gehen. Der nächste, der Lac de Neuchâtel, ist größer, dort fahre ich auf jeden Fall hin, ich will am Ende des Sees im Ort Yverdon übernachten. Vorher komme ich noch durch einen kleinen Ort,Estavayer le Lac Estavayer le Lac, der mich an Rothenburg erinnert, ein schönes kleines Schloss und uralte Häuser und Straßen. Leider ist das sogenannte Froschmuseum geschlossen, dort werden Hunderte ausgestopfte Frösche in allen Lebenslagen gezeigt, also z.B. als Schüler in der Klasse, oder am Stammtisch usw. Ein kleines Stück geht es hinunter zum Hafen, dort mache ich erst einmal Pause. Auf einer Bank vor Dutzenden von Segeljachten ist gut rasten. Das Wetter ist jetzt wieder gut, Sonne und Wolken wechseln sich ab, der Boden ist wieder trocken, ich suche nach einem Weg am Seeufer, aber leider ist der nach einigen Kilometern wieder zu Ende, die Chalets der Reichen stehen direkt am Strand, die armen RadlerLac de Neuchatel müssen sich über die Hügel am Ufer quälen. Am Spätnachmittag erreiche ich mein heutiges Ziel, die Jugendherberge in Yverdon le Lac. Sie liegt direkt hinter dem Hafen, die Aussicht ist prächtig, nur leider die Herberge nicht. Solche durchgelegenen Matratzen habe ich lange nicht mehr gesehen. Ich mache noch einen abendlichen Spaziergang durch den Ort, wieder habe ich Pech, das kleine Science Fiction Museum hat schon geschlossen. Dort hätte ich die Masken aus den „Alien“-Filmen besichtigen können. Schade, vielleicht ein anderes Mal! Wieder sitze ich bei einem Italiener, diesmal sogar im Freien, lasse mir die Pizza und eine „demi bouteille“ – halbe Flasche Rotwein – schmecken. Was mir überhaupt nicht schmeckt, sind die gesalzenen Preise: Für das Abendessen zahle ich heute 43 SF, das entspricht etwa 53 DM. Das ist schon ein stolzer Preis für eine Pizza und zwei Glas Rotwein. Aber was soll ich machen? Essen muss ich, jeden Tag kann ich auch nicht von kalter Verpflegung leben, das werde ich noch öfters in Frankreich tun, dort soll es noch teurer sein als hier. Ab jetzt bin ich im Teil der Schweiz, in der französisch gesprochen wird. Ich schlafe heute in einem 16-Bett Zimmer, außer mir ist nur noch ein junger Mann da, der drei Reihen weiter schläft. Komisch, mit manchen Menschen bekommt man sofort Kontakt, bei anderen kann man wahrscheinlich 3 Jahre nebeneinander her leben und es kommt keine Unterhaltung zustande.

Yverdon le Lac – Geneve

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
92,8 km 17,2 std./km 784 km

Gleich nach dem Frühstück geht heute die Arbeit los: Kaum bin ich aus der Stadt, beginnt die Straße zu steigen, zwar nicht zu steil, aber es zieht sich mehr als eine Stunde hin, bis ich den Buckel, der sich zwischen den beiden Seen auftürmt, erklommen habe. Aber dann habe ich eine unglaubliche Fernsicht. Es ist heute ziemlich kühl, kein Regen in Sicht, deshalb ist es wahrscheinlich auch so klar. Rechts von mir ziehen sich die letzten Höhen des Schweizer Jura hin, links sehe ich die Kette der Drei- und Viertausender am Horizont. Ich komme nicht näher heran, der Abstand bleibt gleich, es ist ein ständiges Auf und Ab, von der Strecke her kommt es mir so vor, wie bei uns in der Hersbrucker oder Fränkischen Schweiz. Kleine Dörfer mit niedrigen Häusern, aber alle sehr sauber, nirgendwo Gerümpel vor oder hinter dem Haus. Ich fahre eine Nebenstraße, die Hauptstraße ist einige Kilometer weit in südlicher Richtung. Der Verkehr hat, im Gegensatz zu Deutschland, schon sehr nachgelassen. Nach einigen Stunden beginnt die Straße zu fallen, es geht hinunter nach Lausanne. Diese Stadt liegt am östlichen Ende des Genfer Sees, Sehenswürdigkeiten kenne ich keine, die Vorbereitung war in dieser Hinsicht schlecht, auf der ganzen anderen Strecke habe ich zumindest einige Bemerkungen zu den Städten in meinem Fahrtenbuch, hier in der Schweiz fehlt mir das. Kein Wunder also, dass ich nach einer wirklich langen, sausenden Abfahrt direkt durch Lausanne hindurch fahre und erst am Genfer See wieder anhalte, mit anderen Worten, ich habe von Lausanne nur die Außenbezirke gesehen. Habe ich etwas versäumt? Ich weiß es nicht! Am See entlang finde ich endlich wieder einen Radweg, die Straße ist jetzt doch gut befahren, es sind aber überwiegend PKW, der LKW-Verkehr wird vermutlich die weiter oben vorbeiziehende Autobahn nehmen.

Mittagspause mache ich an einem Stück Promenade, es gibt Bänke, ich finde auch einen kleinenGenfer See Kiosk, an dem ich etwas Obst und Wasser kaufen kann. Ich genieße die Ruhe, nur einige Enten wuseln im Wasser an einem Landungssteg herum. Sie hoffen auf meine milden Gaben, aber abgebissene Apfelbutzen mögen sie auch nicht. Hier habe ich eine grandiose Aussicht über den See, im Hintergrund die Berge, leider hängt noch etwas Dunst über dem Wasser, so dass die Fernsicht leidet. Als ich eine Stunde später noch eine kurze Rast an einem Parkplatz einlege, fährt einige Meter vor mir ein Auto weg. Plötzlich sehe ich, dass etwas vom Autodach herunter flattert. Ich schreie mit voller Kraft: „Hallo, Sie haben etwas verloren!“ Aber der Wagen ist schon zu weit weg, der Fahrer hört mich nicht mehr. Ich hebe einen israelischen Pass vom Boden auf! Der gute Mann wird sich ärgern, wenn er beim Grenzübertritt seinen Ausweis herzeigen soll! Nachdem ich hier am Parkplatz keine Möglichkeit finde, den Pass sichtbar hinzulegen, beschließe ich, als treuer Bürger, diesen im nächsten Ort bei der Polizei abzugeben. Ich muss vom Radweg ziemlich weit nach oben fahren, komme dabei durch Obstplantagen, dort hätte ich mein Mittagessen mühelos von den Bäumen pflücken können. Im nächsten Ort gibt es tatsächlich eine Polizeistation, die aber jetzt geschlossen ist. Im Café nebenan radebreche ich mit meinen drei Brocken französisch, ob ich den Pass auch hier abgeben kann. „Non, Monsieur, Sie müssen warten bis Gendarmerie wieder hier, einer sprechen gut deutsch.“ So ist es auch, nach einer halben Stunde taucht ein Polizist auf, dem ich den Pass übergeben will. „Halt, so schnell geht das nicht! Wer sind Sie, wie kommen Sie an den Pass? Was, gefunden haben Sie den? Ja, da müssten Sie normalerweise zum Fundbüro!“ Ich denke mit Schrecken, dass ich jetzt wieder nach Lausanne zurück fahren soll? Das ist ja ein Kreuz mit der Bürokratie! Mir fällt voll Schrecken wieder die Geldtausch-Aktion ein, die mich fast zwei Stunden gekostet hatte. Kurz nach der Schweizer Grenze hatte ich im nächsten größeren Ort am Postamt angehalten, um von meinem Postsparbuch Geld in Landeswährung abzuheben. Wie mir von vielen Seiten versichert wurde, ist das die beste und kostengünstigste Methode, im europäischen Ausland an Geld zu kommen. Eine Dame hatte mein Sparbuch in Empfang genommen, dann war sie eine kleine Ewigkeit im Büro des Leiters verschwunden, hatte dann mit dem zusammen am Schalter in meinem Sparbuch herumgekritzelt und mir nach langer, langer Zeit endlich die ersehnten Franken über den Tresen geschoben. Soll das wieder so ein Akt werden? Nein, lieber werfe ich den Pass draußen in die nächste Hecke! Ich weigere mich entschieden, irgendeinen Weg auf mich zu nehmen. Erst als der Polizist erfährt, dass ich mit dem Rad unterwegs Richtung Spanien bin, hat er ein Einsehen, packt den Pass in eine Tüte und sagt, er schickt ihn an das Konsulat von Israel. Gott sei Dank! Fluchtartig verlasse ich die Polizeiwache, mache mich wieder auf den Weg. Als ich in Genf eintreffe, sehe ich, dass der Aufenthalt doch nicht so schlecht war, ich hätte sonst vor der Herberge die halbe Stunde absitzen müssen. So war es schon besser, ich habe außerdem jetzt ein gutes Gewissen! Die JH ist ein moderner Betonbau, kotzhässlich! Dafür ist die Ausstattung hübsch, ich lande in einem Raum mit 6 Betten, drei Leute sind bereits hier, haben ihre Habseligkeiten ausgebreitet, ich bin der einzige Radler. Kontakt mit denen? Nichts! Jeder kramt stumm in seinen Sachen, verschwindet nach einiger Zeit wortlos, taucht wieder auf usw. Das kann ja heiter werden. Die menschliche Ansprache ist für mich doch sehr wichtig, ich merke es, wenn ich den ganzen Tag allein unterwegs war, hätte ich abends doch gern einen Schwatz. Aber hier bekomme ich nichts. Ich verziehe mich, genau so „französisch“ wie die anderen und gehe zum Einkaufen. Heute esse ich kalt, auf dem Weg durch die Stadt habe ich an zwei Lokalen angehalten und einen Blick auf die Preise geworfen. Horror pur!Genfer See Fontäne Aber auch die Preise in den Lebensmittelgeschäften sind exorbitant hoch. Jetzt muss ich noch außerplanmäßig Geld ausgeben, weil ich in der letzten JH in Yverdon mein Shampoo stehen ließ. Den Hafen und die berühmte Fontäne werde ich morgen besichtigen, heute habe ich keine Lust mehr, mich auf das Rad zu setzen und die paar Meter zum Hafen zu fahren. Die meisten Sehenswürdigkeiten der Stadt sind für mich sowieso außer Reichweite, ich müsste durch den Großstadtverkehr auf die andere Seite der Bucht fahren, dort sind die bekannten Gebäude, wie der Palast der Nationen. Das werde ich mir nicht antun! Ich habe das Gefühl, dass jeder Kilometer in der Stadt ein verschenktes Lebensjahr ist. Zumindest das Risiko, seine Lebensjahre zu verschenken.

Weiter nach Frankreich

Zurück zu Ultreia