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Spanien
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Geneve – St.Genix
Tagesetappe
|
Durchschnitt
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Kumulierte Strecke
|
117 km |
17,1 std./km |
901 km |
Heute Morgen bin ich sehr früh gestartet, kurz nach 8.00
Uhr war ich bereits unterwegs. Es herrscht ein enormer Verkehr. Die
lange Fahrt um die Bucht, um den Hafen auf der anderen Seite zu
besichtigen, spare ich mir, heute ist es trübe, kein Sonnenstrahl
bringt das Wasser des Sees zum Leuchten. Die Fontäne sehe ich auch
von hier aus. Die Blumenrabatten und Denkmäler an dieser Seite der
Bucht sind auch sehr schön. Auch bei trüben Wetter ein
erfreulicher Anblick. Durch den Park sausen Streifenhörnchen, die
gleiche Art, wie in den Cartoons von Walt Disney – Ahörnchen
und Behörnchen. Gestern Abend hatte ich doch noch meinen Schwatz:
Ich hatte mit zu Hause telefoniert und mit meiner Gattin ein
längeres Gespräch. Sie sagte mir auch, dass ein
Schlechtwettergebiet auf mich zukommt. Wie es heute ausschaut,
könnte es stimmen. Ich kämpfe mich durch den dichten Verkehr
in Richtung Rhone, dem Fluss werde ich nun bis Lyon folgen. Ich bin
ganz sicher, dass ich dort einen Radweg finde, wie an der Aare. Aber,
leider, nicht einmal ein Fußweg geht am Fluss entlang Er rauscht
tief eingeschnitten unten im Tal, die Straße führt einige
hundert Meter weiter oben am Hang entlang. Ich muss auch heute wieder
tüchtig klettern. Am Grenzübergang nach Frankreich ist keine
Menschenseele zu sehen, es ist nur ein kleiner Übergang,
wahrscheinlich wird deshalb keiner kontrolliert. Sofort merke ich am
Straßenbelag, dass ich in Frankreich bin, er ist wesentlich rauer
als in der Schweiz oder bei uns. Meine Packtaschen rütteln
dauernd. Ich versuche sie ruhig zu stellen, indem ich kleine Zweige
zwischen die Haken der Taschen und den Gepäckträger klemme,
nach einigen Kilometern fallen diese Zweige aber wieder heraus und der
Radau beginnt von vorne. An einem kleinen Lebensmittelgeschäft
ergattere ich ein paar Streifen Schaumgummi, der hält und stellt
das lästige Klappern ab, dafür quietscht es jetzt ein
bisschen. Wie gesagt, man kann nicht alles haben. Ich bin jetzt
ziemlich weit nach oben gefahren, eine Abfahrt von glatten 5 Kilometern
liegt jetzt vor mir. Es ist doch recht kühl, ich ziehe zur
Vorsicht meine Regenjacke an, ich will mich nicht verkühlen.
Gesundheitlich geht es mir inzwischen gut, die Sitzbeschwerden sind
vorbei, der Rücken schmerzt auch nicht mehr, meine Hände
schlafen zwar immer noch ein, aber ich weiß inzwischen, wie ich
den Lenker halten muss, dass sich das Problem nach kurzer Zeit wieder
von selbst behebt. Mit einem Wort: Nach fast tausend Kilometern bin ich
„eingefahren“!
Die Abfahrt macht Spaß, ich brause durch den
nächsten Ort, halte nur kurz an, um in einer Bank Geld abzuheben.
Die Tür zur Bank ist abgeschlossen, drinnen sitzt Personal, schaut
heraus. Was ist los? Habt Ihr kein Geld mehr? Nein, offensichtlich
reine Sicherheitsmaßnahme, erst wird der Kunde beguckt, dann wird
entschieden, ob er herein darf. Ich durfte! Ich fahre jetzt 3
Währungen spazieren. Außerdem drei verschiedene
Telefonkarten. Jedes Land hat seine Eigenheiten. Das fängt bei der
Sprache an und hört bei den Steckdosen noch lange nicht auf. Es
ist schon ein Wunder, dass man sich wenigstens auf die gleiche Spannung
verständigt hat.
Es beginnt zu regnen. Durch das Abheben von Geld habe ich Zeit
verloren, ich dachte zwar, ich kann noch vor der Mittagspause im
nächsten Ort sein, komme aber leider etwas zu spät: Alle
Läden geschlossen – fermé – wie es so
schön heißt. Nun stehe ich da, nichts zum Beißen und
nur blankes Wasser zum Trinken. Der Regen wird kräftiger. In einem
kleinen Ort – Serrières – halte ich kurz an, um den
Sturzhelm abzunehmen und stattdessen die Kapuze aufzuziehen. Nebenan
ist ein kleines Restaurant, ich lese an der großen Tafel neben
der Türe: „Table de Jour 65 FF“. Dazu reicht mein
Französisch, das heißt Gericht des Tages. Kurz entschlossen
gehe ich in das Restaurant, entfliehe dem Regen, der jetzt doch heftig
fällt und mache eine späte Mittagspause. Ich bin der einzige
Gast, suche mir in einer Nische einen kleinen Tisch – mein
Radler-Outfit ist nicht der richtige Dress für ein Lokal –
und bestelle bei Madame mein Essen, dazu Mineralwasser. Die junge Frau
erkennt natürlich an meinem Wortschatz, dass ich ihrer Sprache
kaum mächtig bin und fragt mich, wo ich herkomme. Ich gebe gerne
Auskunft, nach einem Ausruf der Überraschung: „Mon Dieu,
quelle voyage!“ kramt sie tatsächlich etwas Deutsch aus dem
Gedächtnis, sie war einmal vor einigen Jahren für zwei
Saisons in Baden-Baden in einem Hotel und hat davon noch einiges
übrig behalten. Es wird eine richtig nette Unterhaltung –
mit unserem beschränkten Wortschatz. Das Essen selbst ist eine
Überraschung: Der erste Gang, die Vorspeise, entpuppt sich als gut
bestücktes Büfett zur Selbstbedienung, mit Melone, Schinken,
gefüllten Tomaten, Leberpastete und anderen Leckereien. Ich nehme
von etlichen Speisen nur wenig, ich möchte gerne so viel wie
möglich kosten. Wohlwollend werde ich beobachtet, zwei kleine
Kinder spitzen aus der Küche, auch die Wirtin wirft ab und zu ein
Auge auf mich. Es ist ein kulinarischer Genuss! Das Hauptgericht ist
ein Rindfleischtopf mit Nudeln, eine Riesenportion, als ich
protestiere, heißt es: „Monsieur, Sie müssen heute
noch viele fahren!“ Ich habe erzählt, dass ich heute von
Genf komme und noch bis St. Genix weiter will. Scheint sehr
ungewöhnlich zu sein, dass jemand mit einem bepackten Rad so weit
fährt. Die Wirtin erklärt mir, sie fährt auch Rad, aber
höchstens bis zum anderen Ende des Dorfes, mehr nicht! Als
Nachtisch bekomme ich eine Schale „Fromage bleue“, das ist
Quark mit Zucker, anschließend noch ein Eis. Nach einem kleinen
Café solo bin ich rundum satt, zahle insgesamt 79 FF, das sind
etwa 26 DM und schwinge mich wieder aufs Rad. Wer hätte das
gedacht! Der Regen hat immer noch nicht aufgehört, einen kurzen
Moment überlege ich: Soll ich hier übernachten? Zimmer kann
ich bekommen, aber dann verschenke ich den ganzen Rest des Tages! Also
weiter! Es wird hart, der Regen prasselt zwei Stunden lang pausenlos
vom Himmel, nach kurzer Zeit kommt das Wasser bereits aus den Schuhen
wieder heraus. Eigentlich hatte ich mir die Regenfahrten anders
gedacht. Ich wollte Schuhe und Strümpfe ausziehen und mit den
Badesandalen fahren, aber den Zeitpunkt habe ich verpasst, die Schuhe
sind schon nass. Ein kurzes Stück fährt ein älterer Mann
neben mir her, auch mit Regenumhang, fragt nach woher und wohin,
bemitleidet mich gründlich und biegt dann in seinem Dorf in eine
Seitenstraße ab. Der Regen hört auf, die Sonne kommt wieder
heraus, die Straße dampft, auf den Wiesen stehen Nebelschwaden,
es wird wieder wärmer. Endlich erreiche ich meinen heutigen
Zielort. Nirgends kann ich ein Schild finden, wo der Campingplatz ist.
Ich frage zwei Bauarbeiter, die an dem Straßenbelag arbeiten, wo
ich hin muss. Nach einigen Hin und Her kann ich klarmachen, dass ich
zum „Place Municipal“ will, dem städtischen
Campingplatz. Heute weiß ich, dass es zwei grundverschiedene
Platzarten gibt: Der oben erwähnte von den Gemeinden betriebene
und verwaltete Platz, der überwiegend für das „fahrende
Volk“ gedacht ist und von Privatleuten unterhaltene
Campingplätze, die für die Touristen gedacht sind. Jedenfalls
rutscht mir bei den Erklärungen ein „Ja“ heraus, der
eine Arbeiter schaut mich misstrauisch an, sagt:
„Allemagne?“ Als ich bejahe, dreht er sich wortlos um und
geht zu seiner Arbeit zurück. Der andere winkt kurz ab, nach dem
Motto: Lass den mal! Und erklärt weiter, wo ich hinfahren soll.
Der Platz ist riesengroß, allerdings nur mit dem
Allernötigsten ausgestattet. Die eine Hälfte des Platzes wird
von riesigen Wohnwagen und schweren Limousinen belegt, auf der anderen
Hälfte stehe ich. Der Preis für eine Nacht für mich,
mein Zelt und das Rad sind umgerechnet fünf Mark. In einem
Supermarkt, nur 200 m weit weg, besorge ich mein Abendessen, Brot, Wein
und Käse, dazu eine große Küchenrolle. Ich muss meine
Schuhe dringend ausstopfen, sonst sind sie morgen noch nass und noch
enger, als sie sowieso schon sind. Nachdem ich das Zelt aufgebaut habe,
fällt mir der strenge Geruch im Innenzelt auf. Offensichtlich habe
ich das Zelt zu lange nicht ausgepackt, ich hätte es in Brugg
aufhängen sollen, damit es trocknet. Jetzt könnte ich hier
fast Champignon züchten, so schimmelt es! Ich beschließe,
bei offener Luke zu schlafen.
Ich bin zwar nur ein kurzes Stück in Frankreich gefahren,
trotzdem fällt mir auf, dass nur sehr wenige Rastplätze am
Straßenrand sind, dafür gibt es in jeder noch so kleinen
Stadt Restaurants bzw. Gasthöfe. Meistens bieten sie keine Zimmer,
aber immer sind die Speiseräume erstklassig ausgestattet. Ich
denke mir, dass die Mehrzahl der Franzosen lieber in einem Restaurant
stilvoll diniert, als an einem Picknickplatz zu essen. Noch etwas
prinzipielles: Hier gibt es offensichtlich keine Reiseradler, entweder
man fährt mit dem Rennrad, meistens in Pulks oder nur in der Stadt
oder im Dorf, dazwischen, auf den schönen kleinen
Landstraßen ist kein einziger Radfahrer zu sehen. Noch etwas
gefällt mir sehr: Vor jedem Ort ist ein Verkehrskreisel angelegt,
der nur sehr langsam umfahren werden kann und damit die Geschwindigkeit
der heranbrausenden Fahrzeuge zuverlässiger mindert als ein
Verbotsschild. So etwas nenne ich eine positive Verkehrsberuhigung.
Allerdings gibt es auch Verkehrsregelungen, die nicht meinen Beifall
finden: In größeren Städten wird die Hauptstraße
regelmäßig alle paar hundert Meter künstlich verengt,
mit Fußgängerüberwegen ausgestattet. Im Normalfall kann
man in den Städten auf den Seitenstreifen gut fahren, man hat
immer einen halben oder sogar ganzen Meter seitlich Luft zum
Durchgangsverkehr. An den Engstellen aber muss man in die Fahrbahn der
Pkws und Lkws einschwenken. Es ist ein sehr kribbeliges Gefühl,
wenn hinter einem ein Zwanzigtonner mit zischenden Druckluftbremsen
abbremst, damit er einen nicht auf die Hörner nimmt. Viel besser
wäre es, wenn der Radstreifen seitwärts an der Engstelle
vorbei geführt würde, aber wie schon gesagt: Hier gibt es
keine Radler, die auf Hauptstraßen fahren – außer
mir.
St. Genix – Lyon
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
88,6 km |
16,8 std./km |
990 km |
Im Gegensatz zu gestern starte ich heute sehr spät, es
ist schon zehn Uhr, das fahrende Volk ist zum größten Teil
heute Morgen schon um 8.00 Uhr oder kurz vorher gestartet. Viele
riesige Wohnwagen hängen hinter kurzen Lkws, die fast wie
Schlepper aussehen. Diese Art Vehikel habe ich vorher noch nie gesehen.
Dicker Nebel hängt über dem Platz, ich warte, bis er sich
etwas aufhellt, verzehre einstweilen mein Frühstück, das aus
altem Brot, dem Rest Käse und zwei Schluck Mineralwasser besteht.
Endlich ist es soweit, die Sonne kommt durch, schlagartig wird es warm,
noch feucht packe ich meine Kleidung und das Zelt zusammen, ich werde
heute unterwegs eine Trockenpause einlegen müssen! Die Etappe
selbst ist nicht so lang, in Lyon will ich wieder in einer
Jugendherberge schlafen. Die Fahrt selbst ist sehr angenehm, es geht
überwiegend links oder rechts an der Rhone durch kleine
Dörfer. Radwege finde ich keine, aber es herrscht so wenig
Verkehr, dass ich es verschmerzen kann. Wieder einmal fällt mir
auf, die Hunde am Weg in den Gärten oder Höfen werden fast
wahnsinnig, wenn ich mit dem Rad vorbeifahre. Sie bellen, bis ihnen der
Schaum vor dem Maul steht, bei Autos oder normalen Radlern keine
Reaktion! Es müssen die Packtaschen sein, die immer Geräusche
von sich geben, quietschen, klappern, im Wind flattern. Denn selbst
wenn ich noch nicht zu sehen bin, also hinter einer Mauer oder dichten
Zaun herfahre, toben die Hunde wie toll. Heute Morgen habe ich den
Lehrsatz von Konrad Lorenz in der Wirklichkeit bestätigt gefunden.
Der Tierforscher hatte zwei Hunde beobachtet, die durch einen Zaun
getrennt waren und fürchterlich bellten. Sie rasten den Zaun
hinauf, am Ende wurde gemeinsam gewendet und wieder auf die andere
Seite gerast. Eines Tages war durch Baumaßnahmen der Zaun
teilweise weg. Die beiden Köter rasten den Zaun entlang, bellten
wie immer. Plötzlich, oh welch ein Schreck, war der Zaun weg. Sie
stutzten kurz, drehten beide um, bis sie wieder durch den Zaun getrennt
sind und bellten dort weiter. Also ein reiner Schaukampf, auf die echte
Auseinandersetzung war keiner scharf. Genau dieses Verhalten habe ich
heute an einem Bauernhof erlebt. Der kleine Hofhund, etwa so groß
wie ein Dackel, aber schwarz und weiß gefleckt, bellt wütend
hinter dem Zaun vor und verfolgt mich als ich vorbeifahre.
Plötzlich ist das Hoftor offen, er steht vor mir, keine zwei Meter
entfernt, stutzt kurz und sprintet wieder hinter den Zaun. Von dort
bellt er weiter.
Mittags brennt die Sonne wieder vom Himmel, ich decke mich mit Getränken und Verpflegung ein,
heute kalt, aber sehr gut. In einer Metzgerei habe ich eine Theke mit
Lebensmitteln für einen Imbiss entdeckt. Mit einigen
Zeigebewegungen ist der Einkauf erledigt. Es sind mit Reis und Fleisch
gefüllte Tomaten, noch etwas Ähnliches wie eine Pastete und
Weißbrot. So lässt es sich leben! Ich finde auch einen
Fleck, wo ich Pause machen kann, meistens sind in den Orten auch
Bänke und Brunnen, so auch hier. Vor mir steht auf einem
Hügel mitten in der Stadt eine wunderschöne Kirche. Am Hang
Blumen und Büsche, es ist eine Pracht, wie diese in der Sonne
leuchten.
Am Nachmittag stehe ich am Stadtrand von Lyon. Ich weiß,
dass diese Stadt nach Paris das zweite große Zentrum von
Frankreich ist. Im Lexikon steht eine Menge:
Hauptstadt des französischen Departements Rhône, an
der Mündung der Saône in die Rhône, 418000 Einwohner,
Kathedrale (12. Jh.); Kultur- u. Wirtschaftszentrum; 3
Universitäten; Messestadt; Hauptsitz der französischen.
Seidenindustrie; chemische, Maschinen-, Fahrzeug-, Elektro-,
Nahrungsmittelindustrie; Binnenhafen; Flughafen. - Als Lugdunum
Hauptstadt Galliens; 1312 an Frankreich; im 16. Jahrhundert ein Zentrum
der Hugenotten; 1793 blutige Niederschlagung eines Aufstandes gegen die
Jakobiner.
Vor allem aber sehe ich Straßen, Autos und keinen
einzigen Radfahrer! Nachdenklich stehe ich vor einer Telefonzelle. Mir
kommt eine tolle Idee: Wie wäre es, wenn ich einen Taxifahrer
rufen würde, der mich und mein Rad zu der Jugendherberge
fährt? Ich habe keine Ahnung, an welcher Ecke der Stadt die JH
ist. Lyon ist so groß wie Nürnberg, mit den ganzen Vororten
ist es sehr gut mit dem mittelfränkischen Raum vergleichbar.
Plötzlich bremst ein Mopedfahrer neben mir. Er klappt das Visier
seines Helmes hoch und ruft mir etwas zu. Ich verstehe kein Wort,
reiße die Arme nach oben in der international verständlichen
Geste des Nichtverstehens. Er stellt sein Moped ab, nimmt den Helm ab
und gestikuliert genau wie ich. Nach einigen Minuten verstehen wir uns.
Er erklärt mit vielen Namen den Weg zur Jugendherberge. Ich kann
nicht folgen, da führt er mich einige Meter weiter zu einer
Bushaltestelle und zeigt mir dort einen Stadtplan, auf dem auch die JH
eingezeichnet ist. Mit dem Finger fährt er auf dem Stadtplan
entlang, zeigt mir, wo wir jetzt sind und welche Straße ich
fahren soll. Ich möchte ihm am liebsten für so viel Hilfe um
den Hals fallen. Überschwänglich bedanke ich mich und fahre
weiter. Die Himmelsrichtung habe ich mir in etwa gemerkt,
Bushaltestellen gibt es auch ab und zu, so dass ich nicht in die Irre
fahre. Nur einmal folge ich einer schönen glatten Straße,
leicht abwärts um eine Straßenrampe herum und stehe
plötzlich auf der Autobahn. Das Schild mit dem Symbol Autobahn war
sinnigerweise genau hinter der Kurve. Also absteigen und wieder
zurück schieben. Übrigens das erste Schild, das auf die JH
hinweist, sehe ich genau 500 m vor der Herberge. Sie ist in einer
tristen Industrie-Vorstadt, am Ende einer langen Sackstraße. Um
in das Zentrum von Lyon zu kommen, müsste ich wieder den
größten Teil der Strecke zurück, den ich eben gekommen
bin. Ich beziehe mein Zimmer, beschließe, die Stadt morgen auf
dem Weg weiter nach St. Etienne zu besichtigen. In einiger Entfernung
ist ein Kiosk, der Pizza verkauft, dort hole ich mir, wie alle andern
auch, mein Abendessen. Es ist viel Betrieb in der Herberge, ich sehe im
Vorraum ein Fahrrad mit roten Packtaschen stehen, das muss sicher ein
Deutscher sein! Die bekannten Ortlieb-Taschen gibt es nur in
Deutschland. Leider verpasse ich den Fahrer, bzw. die Fahrerin, erst am
nächsten Morgen sehe ich sie eben noch mit ihrem Rad um die Ecke
verschwinden. Sehr schade, allmählich vermisse ich eine
Unterhaltung in meiner Muttersprache. Mit meinen Kenntnissen der
Landessprache ist keine Unterhaltung möglich.
Lyon – St. Etienne
Tagesetappe |
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
94 km |
13,8 std./km |
1.084 km |
Kurz nach 8.00 Uhr bin ich unterwegs. Heute steht mir eine schwere Arbeit bevor. Ich muss durch
Lyon durch und dann aus dem Tal der Rhone heraus auf die
Hochfläche. Auf der Fahrt durch die Stadt sehe ich einen Radler
mit einem Mountainbike fahren. Das ist der einzige, den ich an diesem
Morgen sehe. Nachdem ich im Zentrum der Stadt auf der Brücke
über den Fluss angekommen bin, habe ich die Nase gestrichen voll
von Verkehr, Problemen und der Stadt, ich will nur noch raus! Keine
Besichtigung, vor allem nicht mit dem bepackten Rad. Sollte ich noch
einmal das Glück haben, nach Lyon zu kommen, werde ich auf keinen
Fall mit dem Rad hier herumfahren. Endlich habe ich die Stadt hinter
mir, es geht beständig bergauf. Der nächste Ort heißt
St. Martin en Haut ,
übersetzt „auf der Höhe“, genau das ist er auch.
Fast zwei Stunden geht es im kleinsten Gang schweißtreibend nach
oben. Ich wollte es ja nicht anders! Ich bin ganz alleine schuld, ich
allein habe die Route ausgesucht, hätte auch anders fahren
können, aber nein! Hier herauf soll es sein. Wenn es zu schlimm
wird, steige ich ab und schiebe einige hundert Meter, dann wieder auf
den Bock und weiter geht’s. Wenn die Moral nachlässt, kann
ich immer das Lied von Edith Piaf vor mich hin singen: „Non, je
ne regrette rien“ – nein, ich bereue es nicht! Kurz vor dem
Ende der Moral, wenn man ernsthaft überlegt, was der Quatsch soll,
ist auch der längste Berg zu Ende. St. Martin auf der Höhe
entpuppt sich als langweiliger kleiner Ort, die Kirche mitten im Ort
sieht aus wie alle Kirchen, da mir die Häuser den Blick
versperren, gibt es auch keinen spektakulären Blick ins Tal der
Rhone, das einzig positive sind die beiden Lebensmittelgeschäfte,
die auch noch offen haben und mich mit einer Mahlzeit versorgen.
Bänke sind auch da, es ist etwas kühl, vor allem nach den
Kilometern bergauf. Aber es lässt sich aushalten.
An dieser Stelle
möchte ich einmal ein paar Worte über die viel verspottete
Bekleidung beim Radeln sagen. Inzwischen kann ich mir ein Urteil
erlauben. Ich bin sehr froh, dass es diese Materialien gibt. Sie saugen
Schweiß und Feuchtigkeit auf und geben es nach außen ab,
man hat trotz Schwitzen immer noch das Gefühl, der Stoff ist nicht
durchgeweicht. Wenn ich daran denke, jetzt ein Baumwollhemd anzuhaben,
das wie ein nasser Umschlag am Rücken klebt und ewig nicht
trocknet, bin ich doch froh, meine vorherige Skepsis überwunden zu
haben. Außerdem trocknen diese Teile nach dem Waschen derart
schnell, wie sonst nur dünne Seiden oder ähnliches. Dabei
sind sie auch noch ziemlich winddicht, bei Abfahrten reicht es, den
Reißverschluss am Hals zu schließen und man kühlt
nicht zu sehr aus. So, genug der Lobeshymnen, die Profis wissen schon,
warum sie diese neuen Textilien tragen. Also warum soll ich nicht von
deren Erfahrungen profitieren?
Der Nachmittag vergeht in ständigem Auf und Ab. Kleine Orte
auf Hügeln wechseln sich ab mit Feldern und Wäldern in den
Tälern. Ich werde heute meine schlechteste
Durchschnittsgeschwindigkeit der ganzen Tour erzielen, aber was soll
ich ändern? Es geht nicht schneller. Endlich komme ich nach St.
Etienne, einer mittelgroßen Stadt, deutlich kleiner als Lyon,
aber trotzdem voll bis zum Straßenrand mit brausendem Verkehr.
Kreuz und quer fahre ich in der Innenstadt herum auf der Suche nach der
Hauptpost, denn nur hier kann ich von meinem Sparbuch Geld abheben. Wie
ich endlich das Gebäude erreiche, fällt mit einem lauten
Klatschen die Kette vom Rad auf die Straße. Seit dem zweiten Tag
hat das Kettenschloss gehalten, jetzt war es am Ende. Als erstes hole
ich Geld, dann starte ich schiebend durch die Innenstadt auf der Suche
nach einem Fahrradhändler. Eine Dame weist mir den Weg, ich
schiebe oder trete das Rad wie einen Roller und komme endlich an.
Leider hat der Betrieb vor 10 Minuten geschlossen, die Werkstatt ist
zu, ich könnte höchstens ein neues Rad kaufen. Das ist mir
denn doch zu teuer, ich beschließe, heute ein Hotelzimmer zu
nehmen und schiebe die Strecke wieder zurück, denn dort war ein
nettes Hotel, das ich am Hinweg schon angeschaut hatte. Kurz vorher
geht eine kleine Gasse ab, ich denke mir, da kann ich ein Stück
abkürzen, plötzlich stehe ich vor einem winzigen
Geschäft mit Fahrrädern im Schaufenster. Ich stürme
hinein, der Chef ist noch da, hier heißt er „Patron“,
sein Mechaniker ebenfalls, mir wird sofort geholfen! Nach einer
Viertelstunde ist eine neue Kette montiert, weil das Rad schon
aufgebockt ist, stellt der Mechaniker auch gleich noch die Schaltung
ein, schon ist alles erledigt. Ich bin so froh, dass ich dem
hilfreichen Menschen ein wirklich dickes Trinkgeld gebe. Der
überschlägt sich fast, scheinbar war das der dickste Batzen
des Jahres, er gibt mir zum Abschied noch ein Ölkännchen und
seinen heißgeliebten Lappen mit, den ich in Zukunft in Ehren
halten werde. Nach kurzer Zeit lande ich auf dem Campingplatz von St.
Etienne für sparsame 22 FF, statt für ein Hotel ein
Mehrfaches auszugeben. So gesehen ein gutes Geschäft. Zum
Ausgleich gehe ich heute groß essen, es ist ein Thailänder,
ich bestelle blind, was auf der Karte
steht kann ich nicht lesen, aber alles schmeckt erstklassig. Zum ersten
Mal wird mir das Essen – sechs Gänge - in Spankörben
serviert.
Der Campingplatz ist so
einfach, dass hier sogar die Duschen gespart wurden, es gibt nur kaltes
Wasser am Waschbecken. Dafür ist die Aussicht über die Stadt
grandios. Langsam senkt sich die Abenddämmerung über den
Platz, in einiger Entfernung stehen einige Wohnwagen. Es sind
ältere Gefährte, jede Menge Wäsche hängt auf der
Leine. Männer mit Aktentaschen unter dem Arm kommen die
Straße herauf, sie sind müde, kommen von der Arbeit. Ob es
Saisonarbeiter sind? Möglicherweise ist die Wohnungsnot hier so
groß, dass die Leute vorübergehend in den Wohnwagen hausen.
In den Fenstern wird es hell, Schatten an den Vorhängen zeigen
geschäftige Bewegungen, das Abendessen wird zubereitet. Ich liege
rund und satt auf meiner Matratze und versuche mit meinem kleinen Radio
etwas Heimat einzufangen. Jetzt, am Abend, sollte ich eigentlich
über Mittelwelle einen Sender finden. Aber alle Sender, die ich
mit dem kleinen Gerät empfangen kann, sind fremdsprachlich. Nach
einer halben Stunde gebe ich auf, lasse mir von einem Sender auf UKW
noch ein bisschen Musik vorspielen. Kurze Zeit später gibt es nur
noch Geplapper, ich schalte aus und lege mich aufs Ohr.
St. Etienne - Vorey
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
71,6 km |
16,2 std./km |
1.155 km |
Laut Plan fahre ich heute durch das Tal der Loire. Aber erst einmal kommt die Hausfrauenpflicht:
Ich muss dringend waschen, nur noch eine saubere Garnitur, die habe ich
heute morgen angezogen. Das Wetter ist zwar kalt, aber trocken, das
Zelt erstmals wieder abgetrocknet. Ich brause den Berg hinunter in die
Stadt. Heute Morgen, kurz nach 6 Uhr, war ziemlich Radau am Platz, da
sind die Leute aufgebrochen und zur Arbeit gegangen. Ich bin deshalb
auch etwas früher dran, denn mit dem Kaffeeduft rund um mich herum
konnte ich nicht mehr weiter schlafen. Mein Frühstück war
wieder spartanisch, altes Brot, Käse und Wasser. Ich gondele kreuz
und quer durch die Innenstadt, suche einen Münzwaschsalon. In Lyon
hatte ich einige gesehen, aber hier dauert es, bis ich einen finde.
Schließlich, in einer Ausfallstraße, aber in der falschen
Richtung, finde ich einen Salon. Das Waschen dauert etwa 2 Stunden,
dann muss ich nochmals durch die Stadt, lande wieder einmal auf einem
Stück Autobahn, werde von hupenden Autos verscheucht, hebe mein
Rad über eine Hecke und verlasse erleichtert St. Etienne. Endlich
komme ich zur Loire! Ein landschaftlich wunderbarer Fleck, links
und rechts am Hang kleine Schlösser oder Villen, die auch wie ein
Schloss aussehen. Ich hatte mir das so schön gedacht: Am Ufer
entlang gondeln, ab und zu bei einem netten Café anhalten, einen
kleinen Schwarzen und ein Wasser kippen, ansonsten kein Stress mit Berg
und Tal. Aber leider, wie schon bei der Rhone, meine frohe Erwartung
wird schnöde enttäuscht: Die Straße zieht sich
teilweise hoch an den Hängen hin, führt wieder ins Tal,
hinter der nächsten Biegung wieder nach oben. Da kann auch die
schöne
Landschaft nicht trösten. An einem Hinweisschild sehe ich dass ich
die „Gorges de Loire“ befahre, also die Schluchten oder
Durchbrüche. Zusätzlich zum Fluss und der Straße windet
sich auch noch ein Bahngleis durch das enge Tal. Natürlich weicht
die Straße aus, die Loire und die Bahn bleiben auf gleicher
Höhe. Zum ersten Mal sehe ich eine romanische Kirche. Die Kuppeln
des Innenraumes – eine kleine und eine große – haben
jeweils in den Ecken nochmals kleine Kuppeln, die den Druck des
Mauerwerks abfangen. Ich bleibe eine ganze Weile in der kleinen Kirche
und lasse die Atmosphäre auf mich wirken. Die dicken Mauern halten
jedes Geräusch ab, ich könnte hier anfangen zu meditieren.
Plötzlich, klapper, schepper, wird die Tür geöffnet,
eine ältere Dame stürmt herein: „Bonjour, Monsieur!
Je“ der Rest geht mir durch die Lappen, aber an den Eimern sehe
ich, heute ist Putztag! Ich schlendere durch die offene Tür in die
Mittagssonne hinaus. Ein paar Meter weiter finde ich einen Norma-Laden,
ich kaufe das Mittagessen, das Leben hat mich wieder. Am frühen
Nachmittag finde ich einen kleinen Campingplatz. Die Dame an der
Rezeption zeigt mir den Platz, wo ich mein Zelt aufstellen soll. Sie
kommt aus dem Büro, ein großer Schäferhund, der unter
dem Schreibtisch lag, erhebt sich und läuft hinterher, ein kleiner
Junge, der vor dem Haus spielte, lässt sein Auto liegen und kommt
ebenfalls hinterher. Die junge Frau dreht die Augen nach oben:
„Le chien, les enfants!“ Auch ohne mein Französisch zu
strapazieren, weiß ich, was sie meint: Immer wenn ich aufstehe,
laufen mir alle hinterher, der Hund genauso wie das Kind! Kurze Zeit
später steht das Zelt, ich kaufe mir etwas zum Essen, heute zum
Ausgleich einmal etwas weniger, es gibt nur einen Laden in dem kleinen
Ort. Meine Frage, ob es etwas in deutscher Sprache zum Lesen gibt, wird
mit verwundertem Kopfschütteln quittiert. Dafür sehe ich
Ansichtskarten, die das Leben auf dem Land vor langer Zeit zeigen. Die
muss ich unbedingt mitnehmen. Ich kaufe gleich drei Stück. Eine
zeigt eine Werkstatt mit Haspeln, auf denen Schnüre oder Litzen
aufgewickelt sind und uralte Spinnmaschinen, die andere eine
Postkutsche, die letzte eine Gruppe Männer, die mit einer
Säge aus einem Baumstamm Bretter sägen.
Vorey - Saugues
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
73 km |
13,1 std./km |
1.229 km |
Der heutige Start
war von einem kargen Frühstück geprägt, nur ein
Automatenkaffee und Reste des gestrigen Abendessens. Das Wetter ist
zwar kühl, aber ohne Regen. Jetzt endlich zeigt sich die Loire von
ihrer schönen Seite, mit einem leichten Rückenwind fliegen
die Kilometer nur so vorbei.
Die Strecke ist auch flacher und besser ausgebaut als gestern. Kurz vor
der Mittagszeit fahre ich nach Le Puy hinein. Der Dom ist nicht zu
übersehen. Er steht mitten in der Stadt auf einem Hügel, von
einer gigantischen Marienstatue überragt. Ich kette mein Fahrrad
mit den Gepäcktaschen an das Treppengeländer unterhalb der
Kirche und steige die ewig lange Treppe hinauf. Ein kleiner
Seiteneingang nimmt mich auf, nach einigen Schritten stehe ich vor dem
Hauptaltar, der im Zentrum des kreuzförmigen Doms steht. Der
Innenraum ist riesig, nachdem ich einige Minuten herumgeschlendert bin
und die Nebenaltäre bestaunt habe, trete ich aus dem Hauptportal
in das grelle Sonnenlicht hinaus. Die Stadt breitet sich zu meinen
Füßen aus! Unzählige Ziegeldächer in
rötlichen oder gelblichen Farbtönen werfen das Sonnenlicht an
verwitterte Kamine, lassen auch die kleinsten Winkel hell erscheinen.
Ich drehe mich um, über mir wölbt sich die Hauptpforte des
Doms nach oben, links und rechts sind von Säulen getragene
Gewölbe, die tiefe Nischen bilden. Dort sitzen und liegen einige
junge Leute auf Schlafsäcken, essen, rauchen oder unterhalten
sich. Die Kathedrale bildet mit den umliegenden Gebäuden ein
geschlossenes Ensemble. Man erkennt nicht, wo der Dom aufhört und
die Nebengebäude beginnen. Leider wird die Fassade soeben
renoviert, mehr als die Hälfte des Doms ist eingerüstet,
weshalb der Anblick etwas eingeschränkt ist. Im Lauf der
Jahrhunderte – die erste Wallfahrt hierher fand bereits unter
Bischof Godescale im Jahr 951 statt – wurden unzählige
Gebäude an- und umgebaut. Ein Kreuzgang ist noch erhalten, den
Gang in das kleine Museum mit sakralen Kunstgegenständen und
Stücken aus der dreihundertjährigen Baugeschichte des Doms
kann ich mir sparen, mittags ist es geschlossen. Schade! Ich sehe beim
Gang durch die Verbindungsgänge ein modernes Kunstwerk, es sind
einige aus Holz geschnitzte Pilger. Dann verlasse ich das Labyrinth und
besteige den Hügel hinter dem Dom und erklimme die endlosen
Treppen, um zum Fuß der Madonna zu kommen. Von hier aus hat man
einen wunderschönen Blick auf die Kathedrale und die Stadt.
Spektakulär ist aber die Aussicht in die andere Richtung! Ich
schaue von oben auf eine kleine Kirche hinab, die auf einen spitzen
Basaltkegel gesetzt wurde! Es ist die Kirche Saint-Michel
d’Aiguilhe, zu der 268 Stufen hinauf führen. Sie vereint
arabische, christliche, byzantinische und koptische Einflüsse.
Wenn ich mir es richtig überlege, sollte ich diese Kirche auch
besichtigen! Nach kurzer Zeit durchquere ich den Dom, um mein Fahrrad
zu holen und die Kirche Saint-Michel anzufahren. Aber oh Schreck! Ich
habe die Übersicht verloren. Welche Pforte habe ich beim Eintritt
benutzt? Ich weiß es nicht mehr. Es gibt zu viele. Ich
beschließe, zur Hauptpforte zu gehen, dort die Kirche zu
verlassen und links um den Dom herumzugehen. So sollte ich mein Rad
wieder finden. Nach nervenaufreibenden zwanzig Minuten sehe ich endlich
die Treppe wieder, an der mein Rad angekettet ist, es ist noch alles
da! Ich fahre durch die verwinkelten Gässchen von Le Puy und
versuche die Richtung zur Kirche auf dem Basaltkegel einzuhalten. Aber
leider – nach einiger Zeit merke ich, dass ich bereits in den
Außenbezirken der Stadt bin. Umdrehen will ich auch nicht,
hoffentlich kann ich noch ein schönes Foto von den angrenzenden
Hügeln machen! Aber auch das wird mir verwehrt, es sind zu viele
Bäume im Weg, als ich schließlich am Gipfel des Hügels
bin, kann ich die Stadt nur noch in der Ferne sehen. In einem kleinen
Dorf kehre ich zur Mittagspause ein und zahle für ein ziemlich
bescheidenes Menü 80 FF. Der Ort hieß Bains. Ich fahre auf
kleinen Straßen weiter, der Verkehr lässt nach, zeitweise
bin ich ganz allein auf weiter Flur. Nur das Summen der Insekten
begleitet mich, Rapsfelder blühen noch hier oben. Ab und zu
fährt man in kleine Täler hinab und durch Wald wieder nach
oben. In einer dieser Waldpassagen treffe ich zwei Radtouristen. An den
roten Packtaschen erkenne ich: Das müssen Deutsche sein und so ist
es auch. Die beiden sind Jurastudenten, kommen aus Tübingen und
haben das halbe Frankreich per Rad abgeklappert. Jetzt sind sie auf dem
Rückweg nach Lyon. Ich bin froh, jemand getroffen zu haben, der
meine Sprache spricht und quassele munter darauf los. Wir vergleichen
unsere Ausrüstung, logischerweise haben sie nicht ganz so viel zu
schleppen wie ich, sie teilen sich ein Zelt und haben auch sonst wenig
dabei. Sie bestaunen meine schwere Spiegelreflexkamera – das ist
aber gefährlich! Geht die nicht kaputt? Nachdem sie die
ausgeformten Schaumgummiklötze in meiner Fronttasche gesehen
haben, sagen sie: „Ja, das ist eine prima Idee!“ Zur
damaligen Zeit war ich auch noch überzeugt, dass meiner Kamera
nichts passieren wird, inzwischen weiß ich es besser! Nach ein
paar Minuten geht uns der Gesprächsstoff aus, wir wünschen
uns gegenseitig alles Gute und trennen uns. Schade! Langsam
dämmert mir, dass es doch ganz schön anstrengend wird, sich
nur mit dem Fahrrad zu unterhalten. Ich ertappe mich manchmal dabei,
dass ich vor mich hin rede. Aber solange das Fahrrad nicht antwortet,
ist alles in Ordnung. Eben trete ich eine lange Steigung im kleinsten
Gang hinauf, als ich plötzlich von links angesprochen werde! Ich
falle vor Schreck fast vom Bock, fasse mich dann aber und sage meinen
Zaubersatz: „Je ne parle Francais!“ Der so plötzlich
aufgetauchte Radler fährt neben mir her und erklärt mir dann
in englischer Sprache, dass er die Beiden aus Tübingen vor einiger
Zeit getroffen hat, die ihm sagten, ein Deutscher fährt mit dem
Rad in seiner Richtung. Und „eh voila!“ hier bin ich schon.
Mein neuer Mitradler fährt mit einem uralten Rad mit einer
Dreigang-Kettenschaltung, einem ewig breiten Gepäckträger und
einer dicken Tennistasche darauf für sein Gepäck. Kunstvoll
hat er die Tasche mit Gummischnüren zur Achse hin abgespannt,
damit sie beim Fahren nicht wackelt. Aber dadurch ist er auch so breit
wie ein halbes Auto, er fährt deshalb immer etwas weiter links in
der Straße. Seiner Meinung nach ist es besser, wenn Autos, die
überholen wollen, notfalls abbremsen müssen, um den
Gegenverkehr vorbei zu lassen, als sich knapp an ihm vorbei zu
drücken. Recht hat er! Manchmal habe ich schon mal den Ellenbogen
eingezogen, weil ich dachte, ein Lkw streift mich, so knapp donnern die
dicken Brummer vorbei. Jetzt fährt er links neben mir, wir
erzählen uns, woher wir kommen und wohin es gehen soll. Philip,
so heißt er, kommt aus Ribauld, lebt zurzeit aber in Lyon und
fährt zu seiner Freundin nach Auriac. Sie macht dort Ferien und er
wollte für seine Kondition etwas tun, fährt deshalb die
Strecke mit dem Rad. Mein Englisch ist etwas eingerostet, es dauert,
bis wir eine einigermaßen flüssige Unterhaltung zustande
bringen. Aber nach einiger Zeit geht es, sein Englisch ist jedenfalls
viel besser als meines! „Kein Wunder, ich habe ja auch drei Jahre
in England gelebt und gearbeitet!“ Die meiste Mühe hat
Philipp mit meinem Vornamen. Lothar, wie spricht man das aus? Was
bedeutet es? Ich zucke die Schultern, irgendetwas aus dem Germanischen
soll es sein. Aber was heißt „Germane“ auf Englisch?
German? Nein, ich muss länger ausholen, versuche es mit
„Vergangenheit“ und alten Völkern verständlich zu
machen. Am Ende einigen wir uns auf „Luther“, den Namen
kennt er, das klingt so ähnlich, und überhaupt, zu was
braucht man einen Namen, wenn sich zwei Leute unterhalten? Die Zeit
vergeht wie im Flug, schon sind wir am Campingplatz, Philipp hat weder
ein Zelt noch einen Schlafsack dabei, er muss sich eine Unterkunft
suchen. Nach einigen Worten mit dem Personal des Platzes ist klar, er
kann in einem Raum schlafen, eine Matratze liegt dort auch und auch
zwei Decken bekommt er. Wir gehen in den Ort, Abendessen kaufen.
Philipp erklärt: „Hier ist es zwar billiger, als in St.
Etienne oder Le Puy, aber ich gebe nicht mehr Geld aus, als ich
unbedingt muss!“ Wir kaufen in einem kleinen Laden ein, tragen
unsere Plastiktüten zum Campingplatz. Am Weg kommen wir an einem
Pferch vorbei, von hohen Mauern umgeben, wir können von oben
hinein schauen. Der Platz ist aufgeweicht vom Regen, Schlamm und
Wasserpfützen lassen fast nicht zu, dass man ein trockenes
Fleckchen sieht. In diesem Loch haust eine Hündin mit zwei
halbwüchsigen Jungen. Mitten im Pferch hängt auf drei
Ästen ein Blech, dort ist die Hündin mit einem Strick
angebunden. Die Jungen laufen frei herum. Der einzige trockene Platz
ist ein Brett, das vor dem Blechdach am Boden liegt, dort liegt die
Hundemutter – der Strick an ihrem Hals reicht gerade so weit,
dass sie sich quer auf das Brett legen kann, die beiden Jungen
drücken sich zitternd an sie und drängen sich auf dem Rest
des Brettes. Philipp sagt: „Hier werden berühmte Jagdhunde
gezogen, das ist eine ganz besondere Rasse, sehr teuer, wenn man einen
Welpen kaufen will, kostet das mehr als 3.000 FF.“ Ich bin
konsterniert, wie kann man solch tolle Hunde in einem derartigen Loch
halten! Philipp meint: „Ach, das ist ganz in Ordnung, die halten
das schon aus!“ Und außerdem ist es ja noch nicht so kalt.
Ich muss mir einen Ruck geben, hier im schönen Frankreich ist eben
doch manches anders als bei uns. Ich schlucke meine bissigen
Bemerkungen hinunter, aber den ganzen Abend gehen mir die armen Tiere
nicht aus dem Sinn. Uns selbst geht es heute richtig gut, in dem Raum,
den Philipp benutzen darf, stehen Stühle und ein Tisch, sogar
Gläser gibt es. Wir speisen mit Besteck und trinken den Wein aus
Gläsern! Beim Gang über den Platz zu meinem Zelt merke ich,
wir sind doch ziemlich nach oben gekommen, der höchste Punkt, den
wir heute passierten, war auf 1164 Meter Meereshöhe. Es wird
empfindlich kalt, sobald die Sonne untergegangen ist. Ich ziehe zum
ersten Mal meinen Trainingsanzug an, bevor ich in den Schlafsack
krieche, trotzdem wird es eine sehr kalte Nacht, ich friere
erbärmlich.
Saugues – Chaudes Augues
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
76 km |
Nicht notiert |
1.305 km |
Heute Morgen ist der Platz
in Nebel gehüllt, trotzdem weht ein kräftiger Wind, es ist
sehr kalt. Die Straßen, denen wir folgen, steigen und fallen
permanent, kleine Abfahrten, bei denen der kalte Wind einem fast die
Ohren abfallen lässt werden gefolgt von knackigen Anstiegen. So
geht es den ganzen Tag. Philipp hat Probleme, mit seinen drei
Gängen einigermaßen voran zu kommen, wenn ich in einen
niedrigen Gang schalten muss, weil die Steigung zu steil wird, ist es
für ihn zu langsam. So tritt er weiter, kommt total außer
Puste oben an und muss sich verschnaufen. In der Zwischenzeit bin ich
auch wieder zu ihm aufgefahren, nun geht es wieder nach unten. Die
höchste Stelle ist auf über 1270 Meter, meistens haben wir
Rückenwind, das hilft uns sehr. Der Wind ist teilweise bis zu 50
Stundenkilometer schnell, wir lesen bei einer Abfahrt vom Tachometer
diese Geschwindigkeit, die Wolkenschatten flitzen mit der gleichen
Geschwindigkeit vor uns über die Straße. Langsam bessert
sich das Wetter, der Wind lässt nach, die Wolken werden weniger,
die Sonne scheint. Wir genießen die angenehmen Temperaturen,
legen eine kleine Pause am Wegesrand ein. Ich mache ein Foto von den
sonnengelben Feldern, dem bergigen Land, das sich bis zum Horizont
zieht. Weit im Norden sehen wir die Vulkankegel um Clermont-Ferrand.
Nur das Zirpen der Grillen zerreißt die Stille, einige Minuten
lang stehen wir still und lassen die Landschaft auf uns wirken. Hier,
mitten im Zentrum von Frankreich, stehen wir auf einer kleinen
Landstraße und haben seit einer Viertelstunde kein Auto mehr
gehört oder gesehen! Was für ein Unterschied zu Deutschland!
„Im Gegensatz zu Euch wohnt die Hälfte der Franzosen in
einigen Großstädten wie Paris, Lyon und Marseille.“
Philipp erklärt mir, dass in seinem Heimatland einiges anders ist,
als bei uns. Der mittlere Teil Frankreichs, den wir zurzeit
durchqueren, war schon immer dünn besiedelt, in diesen Höhen
lohnt sich Landwirtschaft nicht mehr, nur Viehzucht bringt etwas ein.
Aber auch hier ziehen die jungen Leute fort und verdienen ihr Geld
leichter in einer Großstadt, die Alten bleiben zuhause. So stirbt
das Land immer mehr aus. Mittags finden wir in einem Ort eine
Metzgerei, die gegrilltes Fleisch verkauft, wir leisten uns ein halbes
Hähnchen mit Weißbrot und noch einige Leckereien. Philipp
kann einen Kneipier dazu überreden, dass wir vor dem Lokal an
einem Tisch im Freien unser Hähnchen verspeisen können,
natürlich kaufen wir die Getränke bei ihm! Es ist zwar wieder
sehr kalt, aber hier ist es trotz Abgasen und Radau ganz nett.
Immer wieder fahren wir
durch kleine Orte, die meisten liegen in einem Talkessel. Wenn wir auf
der Straße näher kommen, schauen wir meistens von oben in
das Tal, der Ort liegt da unten wie Spielzeug ausgebreitet. Die
nächste größere Stadt ist Chaudes Augues ,
ein Heilbad, das überwiegend von älteren Menschen bevorzugt
wird. Einen Campingplatz finden wir heute nicht, wir versuchen unser
Glück bei einigen Häusern am Weg, die „Gites
d’Hote“ anbieten, das französische Gegenstück zu
unseren guten alten Privatzimmern. Philipp verhandelt eine ganze Zeit
lang mit den Leuten, kommt aber immer wieder zurück und sagt:
„Zu teuer!“ Langsam werde ich unruhig, bisher musste ich
noch nicht im Freien übernachten, sollte es heute so weit sein?
Aber noch ist es erst Spätnachmittag, wir werden schon noch etwas
finden! Nach einer langen Abfahrt treffen wir in dem Heilbad ein, der
Blick auf die Preistafeln der Hotels und Gasthöfe sagt uns, dass
hier die Gutbetuchten kuren. Wir sind zu geizig, fahren deshalb am
anderen Ortsrand wieder aus der Stadt hinaus, auf die Hochfläche.
Dort oben ist eine Feriensiedlung mit Bungalows, vielleicht finden wir
dort eine Unterkunft. Und so ist es auch, die Chefin der Siedlung hat
Mitleid mit zwei durchfrorenen Radlern und überlässt uns
einen Bungalow zum Sonderpreis von 180 FF für eine Nacht. Und um
die Güte voll zu machen, gibt sie uns auch noch einige Konserven,
die wir in der kleinen Küche zu einem frugalen Abendessen
zubereiten. Das Einzige, das fehlt, ist eine Flasche Wein, so
trösten wir uns mit Wasser aus der Leitung. Wir sitzen bequem auf
einer Couch, langsam tauen sogar die Füße wieder auf. Es
wird ein sehr netter Abend.
Chaudes Augues - Conques
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
107,4 km |
18,7 std./km |
1.412 km |
Wir haben sehr gut
geschlafen. Leider gab es kein Frühstück, wir haben gestern
alles aufgegessen. Als wir um 8.30 Uhr aufbrechen, ist es derart kalt,
dass wir alles anziehen, was wir dabei haben. Leider keine Handschuhe!
Aber nach einigen Minuten bergwärts treten wird uns wieder warm,
wir müssen die eben angezogene Trainingsjacke (bei mir) bzw.
Pullover (bei Philipp) wieder einpacken. Philipp schätzt die
Temperatur auf etwa 5° Celsius. Ich halte das für
übertrieben, glaube, dass es doch nicht so kalt ist. Immerhin
haben wir erst Ende August, Anfang September, also noch mitten im
Sommer. Nach einer Stunde Treten kommt die Sonne heraus, am Ortseingang
eines kleinen Ortes eine Tankstelle, ein Thermometer an der Preistafel
zeigt 6° Celsius an. Bis mein Foto ausgepackt ist, steigt die Zahl
auf acht. Immerhin scheint ja jetzt die Sonne! Hier finden wir endlich
ein Lokal zum Frühstücken. Das übliche
Frühstück in Frankreich ist ein Croissant und ein
großer Pott Milchkaffee, also ein Espresso mit einem Schuss
normale heiße Milch dazu. Brrr... nicht für mich! Ich nehme
zwei Croissants und einen großen Espresso, heißt hier Cafe
grande. Aber hier sehe ich, dass auch andere ihr Frühstück
anders gestalten. An die Theke tritt ein älterer Mann, verlangt
einen kleinen Cafe und einen großen Schnaps, gießt beides
hinter die Binde, steigt auf seinen Trecker und geht an die Arbeit.
Heute trennen sich unsere
Wege, nach dem Frühstück biegt Philipp nach rechts ab, ich
nach links, wir winken uns noch lange zu. Schade, etwas Gesellschaft
ist doch sehr nett! Das Auf und Ab von gestern geht heute weiter, am
Berg mit dem kleinsten oder zweitkleinsten Gang nach oben, vor mir
macht die Straße eine Kurve. Aha, hier ist die Kuppe! Denkste,
die Steigung geht hinter der Kurve weiter. Endlich oben, in den
größten Gang geschaltet, geht es mit sagenhafter
Geschwindigkeit nach unten. Aber nicht lange! Kaum ist die Talsohle
erreicht, zurück schalten rack, rack, rack, wieder in den ersten
Gang. Der Schwung reicht eben 20 Meter den Gegenhang hinauf, schon ist
er verpufft, die Schinderei geht weiter. Aber jetzt: Vor mir ein
Schild: 8 km mit 7% Gefälle, da freut sich der Radler. Es geht
hinunter in das Tal des Lot. Mein massives Rad liegt selbst voll
beladen sicher auf der Straße, kein Flattern oder Schlingern, ich
kann es laufen lassen. Bis zu 60 Stundenkilometer schnell brause ich in
das Tal hinab. Schneller wird es leider nicht, denn die
Gepäcktaschen bieten doch sehr viel Windwiderstand. Ich komme an
einem Feld vorbei, der Bauer sitzt oben ohne auf seinem Trecker. Nanu,
so warm ist es hier? Tatsächlich, als ich unten in Espalion
abbremse, ist es richtig warm geworden. Nicht nur meine Bremsen! Wenn
ich mit dem nassen Finger auf die Bremstrommel tippe, dann zischt es.
Aber trotz der Belastung, die Bremsen zogen ohne Fading, ich kann mich
auf sie verlassen. Meine Jacke wandert für sehr lange Zeit in die
Packtasche, an einem Thermometer an einer Tankstelle sehe ich - 22 Grad
– richtig angenehm! Mein weiterer Weg führt mich jetzt zwar
wieder nach Nordwesten, ein Umweg, ich muss ja nach Südwesten,
aber ich folge hier dem Flüsschen Lot, im Tal ist es sehr viel
angenehmer zu fahren. In den Gärten links und rechts blüht
und grünt es, Sommer- und die ersten Herbstblumen leuchten aus den
Beeten. Ich komme an einem kleinen Gebäude vorbei, das sogar zwei
Eingänge hat, es ist eine Dorfschule, in der Mitte steht
„Mairie“, über den Eingängen links und rechts
wahrscheinlich für Jungs und Mädchen – natürlich
in französisch, aber das ist nicht mehr lesbar. Der nächste
größere Ort ist Estaing ,
eine Burg reckt sich trutzig in den blauen Himmel, eine alte,
mehrbogige Brücke überquert hier den Fluss. Der ehemalige
französische Präsident „Giscard d’Estaing“
soll auf dieser Burg aufgewachsen sein. Mein Mittagessen kaufe ich in
einem kleinen Supermarkt, es besteht aus Käsesalat, Birnen, Limo
und dem unvermeidbaren Weißbrot. Inzwischen habe ich gelernt, wie
ich diese Stangen Brot am besten transportieren kann: Ich klemme sie
außen an dem Lowraider mit den Spannriemen fest, so sind sie
nicht im Weg und ich vermeide die Brotkrümel in den Taschen. Ich
finde einen schönen Parkplatz mit Tisch und Bänken, hier kann
man es aushalten! Im nächsten Ort führt die Straße den
Berg hinauf, ich folge auf einem winzigen Sträßchen weiter
dem Fluss. Mitten im Flussbett liegt ein gewaltiger Stein, bestimmt 3
Meter schaut er aus dem Wasser heraus, obenauf liegt quer ein
Baumstamm. Wenn das Wasser den Stamm da oben hin transportiert hat,
muss der Pegel aber so hoch gewesen sein, dass der ganze Talgrund
überflutet war. Bei allem Nachdenken fällt mir aber keine
andere Lösung ein. Vielleicht donnern im Frühjahr bei der
Schneeschmelze derartige Wassermassen aus den Pyrenäen herunter?
Plötzlich fallen mir am Straßenrand Mülltonnen auf,
aber es sind keine Häuser zu sehen. Ich schaue nach oben, die
Bäume geben den Blick auf die felsigen Wände des Tales frei.
Dort oben sollen Häuser sein? Und jetzt fällt es mir auf: In
der Felswand sind Löcher wie Fensterhöhlen. Das müssen
Felsenwohnungen sein! Und offensichtlich sind die auch noch bewohnt,
sonst würde die Müllabfuhr bestimmt keine Tonnen hier stehen
lassen.
Mein heutiges Ziel, die Stadt Conques, rückt näher. Ich verlasse das Tal über eine neue
Betonbrücke, unten im Fluss paddeln einige Kanuten vorbei. Kurze
Zeit später stehe ich vor dem Campingplatz. Er ist unter
Bäumen versteckt, vor mir fährt ein großes Wohnmobil in
den Platz, vorsichtig schiebt die Beifahrerin die Äste zur Seite,
sie zeigt wahrhaftig artistische Leistungen, hängt mit dem halben
Körper aus der Fensteröffnung der rechten Tür. Ich
selbst habe keine Schwierigkeiten, ein Plätzchen ist schnell
gefunden. Der Ort ist noch ein ganzes Stück entfernt, ich klettere
über tausend Treppenstufen nach oben und stehe endlich nach einer
halben Stunde vor der beeindruckenden Kathedrale von Conques. In meinen
„Fliegenden Blättern“ steht:
Kirche (1045-1061): Das
Äußere: Mächtige, durch die beiden Zwillingstürme
eingefasste Westfassade, wirkt zunächst streng und schmucklos.
Tympanon, das zu den größten und schönsten seiner Art
zählt. Details: Heilige und Engel zur Rechten und Linken von
Christus. Über dem Satteldach des unteren Registers links: Fides
vor der Hand Gottes. Engel rechts, auf dem Gewandsaum das arabische
Wort alhoum (Glückseligkeit)
Das Innere: Typisch für die großen Pilgerbasiliken: Höhe 22m, besonders betont durch das schmale Langhaus.
Figuren: Jesaja, Johannes
der Täufer, Engel Gabriel und Maria in der
Verkündigungsgruppe. Kirchenschatz: Pippinschrein (9.-11.Jh),
5-eckiger Schrein (8-13), Reliquiar Karls des Großen in Form
eines „A“ (Ende 11.), Laterne des Begon (Ende 11.),
Tragaltäre des Begon, goldene Sitzfigur der heiligen Fides (Ende
11.)
Der ganze Ort wirkt auf
mich wie ein Museum. Die Häuser sind aus grauen Granitsteinen
gebaut, die Dächer mit Steinplatten gedeckt. Um die Kirche herum
sehe ich Restaurants und Geschäfte, die
„Devotionalien“ verkaufen. Hier könnte ich mich als
Jakobspilger mit allem eindecken, was „man“ so mit sich
führt. Angefangen mit dem breitkrempigen Hut über die
Trinkflasche am Wanderstab bis zur Jakobsmuschel. Ich widerstehe
vorerst und betrete die Kirche. Ein Schauer läuft mir über
den Rücken, hier sehe ich zum ersten Mal die typische
Pilgerkirche. Unendlich hohe steinerne
Säulen tragen das Dach, das im Halbdunkel verschwindet. Der
Innenraum ist schlicht, im Gegensatz zu unseren katholischen Kirchen
regelrecht ärmlich. Ein leichter Duft nach Weihrauch hängt in
der Luft, ich bin im Moment der einzige Besucher. Ich setze mich in
eine Bank, lasse meine Gedanken kreisen. Zwei Treppen führen an
den Längswänden nach oben, sind aber nicht zugänglich.
Dort oben auf den Emporen über den Seitenschiffen durften im
Mittelalter die Pilger übernachten. Tausend Jahre steht diese
Kirche bereits, wie viel Elend und Leid wurde vor dem Altar wohl
ausgebreitet? Die Zeit vergeht, plötzlich wird das Portal
aufgestoßen, eine Gruppe Reisender poltert in die Kirche, die
lauten Erklärungen des Reiseführers verjagen mich. Ich
schlendere noch etwas im Ort herum. Hinter der Kirche liegen Steine am
Boden, die wie die unteren Hälften von Sarkophagen aussehen.
Vielleicht war hier einmal ein Friedhof, der aufgelöst wurde, als
das Dorf größer wurde. Hat man die Gräber geleert und
die schweren Steine nicht abtransportiert? Es nützt nichts, kein
Mensch gibt mir Antworten auf die Fragen, die jeden Tag durch das
Gehirn schießen. Leider ist mein Französisch so schlecht,
dass ich die Antwort des Wirtes, wann es etwas zu Essen gibt, erst im
zweiten Anlauf verstehe. Wie soll ich denn da Erklärungen zu
Steinen, die wie Sarkophage aussehen, verstehen? Jetzt kann ich wieder
am „Gastro-Roulette“ teilnehmen. Meistens kapiere ich
nicht, was auf der Speisekarte steht, das kleine Lexikon liegt sicher
verwahrt in der
Packtasche im Zelt. Also, was heißt das jetzt? Egal, ich nehme
die Nummer zwei, klingt irgendwie vielversprechend: Saucisses avec
purée de pommes de terre. Muss etwas mit Kartoffel sein. Die
Augen werden groß, als die Kellnerin das Essen bringt:
Heiße Würstchen mit Kartoffelpüree. Es ist essbar, ich
bin heute so ausgehungert – eigentlich fast immer – dass
ich ALLES essen kann, aber... Da sitze ich in einem Restaurant, das
übersetzt „Zum Jakobspilger“ heißt und esse
Würstchen. Nichts mit der berühmten französischen
Küche. Nun ja, überwiegend selbst schuld. Erstens: Warum habe
ich in der Schule nicht besser aufgepasst! Zweitens: Wenn ich schon ein
Lexikon mitschleife, sollte ich es auch benutzen! Zum Tagesschluss noch
ein kurzes Gespräch mit Zuhause, leider ist die Telefonkarte schon
fast verbraucht, Münztelefon gibt es hier nicht, also nur ein
kurzes „Mir geht es gut, bin in Conques, und tschüss!“
Der Abstieg ins Tal zum Platz geht in die Beine, heute werde ich gut
schlafen!
Conques – St. Gely
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
123,3 km |
18,4 std./km |
1.535 km |
Heute ist es
ziemlich dunstig, vom Fluss ziehen Nebelschwaden bis hinauf zum
Campingplatz. Ich lasse mir Zeit mit dem Packen, es ist jeden Tag die
gleiche Prozedur. Alles, was ich herausgezogen habe, muss wieder in die
Packtaschen. Zuhause hatte ich alles so schön eingeräumt,
dass ich oben sogar noch Platz in den Taschen hatte. Aber jetzt? Es ist
ein nerviges Getue, besonders der Schlafsack sträubt sich, wieder
in seine Hülle zu rutschen, schimpfend gelingt es
schließlich. Das Zelt soll noch etwas abtrocknen, ich gehe
vorerst einmal zum Frühstücken. Ich mag immer noch keinen
Milchkaffee, aber auch Tee kann ich hier erhalten. Lecker! Einmal
wieder an einem Tisch sitzen und mit Komfort essen!
Kurz nach 9.00 Uhr bin ich wieder unterwegs. Die Sonne spitzt durch die Nebelfetzen, ich habe
einen tollen Blick zurück auf den Lot, dem ich heute den ganzen
Tag folgen werde. Um die Mittagszeit komme ich nach Figeac, nur leider
finde ich die Kirche nicht, die so toll sein soll! Ich fahre zweimal
durch die Altstadt, immer wieder taucht ein Turm auf, aber die
Verkehrsführung bringt mich immer wieder weg von der Kirche. Ich
müsste absteigen und schieben, aber mit über 20 kg
Gepäck? Vergesst die Kirche! So schön kann die nicht sein
(Ist sie schon – zwei Jahre später habe ich sie besichtigt,
aber das ist eine andere Geschichte). Soll ich jetzt wieder nach unten
fahren, zum Lot? Ich vertiefe mich in meine Landkarte: Wenn ich diesem
kleinen Flüsschen folge, komme ich auch wieder zum großen
Fluss und muss nicht mehr zurück und nach unten. Das kleine
Flüsschen ist die „Celé“, ein
wunderschönes Tal mit einer winzigen Straße nimmt mich auf.
Nach einer Stunde komme ich an einem pittoresken Ort vorbei, die Tafel
am Straßenrand weist auf eine Abtei hin, ich mache einen kleinen
Abstecher. Leider ist die kleine Kirche mit ihrem schiefen Turm
abgeschlossen, ich kann nur den Friedhof besichtigen. Nebenan ist ein
Hinweis: „Gites d’hote“ Nanu? Privatzimmer? Ja, aber
von der besonderen Art, hier kann der müde Wanderer in einer Art
Jugendherberge, die nicht bewirtschaftet wird, unterkommen. Ich
riskiere ein, zwei Blicke durch die geöffnete Tür: Ein alter
Herd, einige Töpfe, Wasserhahn, Toilette nebenan, oben im ersten
Stock ist scheinbar der Schlafraum. Wer hier als Wanderer oder
Radfahrer ankommt, kann den Schlüssel nebenan bei Madame Prisou
abholen. Interessant! Aber jetzt ist eben
Mittag vorbei, ich will noch weiter. Endlich mündet das
Flüsschen wieder in den Lot. Ich bin wieder im richtigen Tal. In
einem kleinen Ort hole ich mir etwas zu trinken. Vor mir stehen zwei
Leute an der Kasse und unterhalten sich. Deutsche! Ich gebe mich als
Landsmann zu erkennen. Ein Hallo! „Wo kommen Sie denn her? Aus
Nürnberg? Na, so ein Zufall, wir sind aus Pegnitz!“ Der Ort
liegt etwa 50 km von meiner Heimat entfernt. Als sie mein Fahrrad
sehen, wollen sie mir nicht glauben, dass ich von zuhause aus losfuhr.
Einer der Männer hebt probeweise das Rad an: „Und ich
dachte, das ist leicht!“ Sie erzählen mir, dass sie vom
Atlantik aus den Lot mit einem Hausboot befahren. Hier ist der Wendepunkt,
sie müssen wieder umdrehen, weiter ist der Lot nicht schiffbar
– zumindest nicht für Hausboote. „Viel Glück und
immer genug Wasser unterm Kiel!“ wünsche ich ihnen und fahre
weiter. Heute zieht sich mein Tagespensum enorm, durch die vielen
Windungen der Täler komme ich kaum vorwärts, immer wieder
schlängelt sich mein Weg nach links und rechts, teilweise habe ich
das Gefühl, rückwärts zu fahren. Aber das Wetter ist
schön, und außerdem, was hätte ich denn für eine
Alternative? Über die Hochfläche fahren? Dauernd auf den
Hauptstraßen den Lastwagen ausweichen? Nein, lieber ein paar
Kilometer weiter, aber dafür einer fast idealen Radroute folgen!
Endlich kommt der Campingplatz in Sicht. Es ist bereits nach 19.00 Uhr,
an der Rezeption niemand mehr da, alles abgeschlossen. Nun ja, dann
werde ich eben morgen bezahlen. Schnell ist das Zelt aufgebaut, heute
gibt es nur noch kaltes Essen. Wäsche waschen fällt auch aus,
wird auf morgen verschoben. Ein paar Meter weiter sitzen drei
Männer auf einer Bank, haben einen Kocher zwischen sich und kochen
Tee. So ein Schluck heißer Tee wäre nicht schlecht! Ich
pirsche mich langsam näher, aber leider ist das kein Tee, sondern
Suppe, welches die Drei da kochen. Zu meiner Freude sind die
Männer aus Deutschland, wir kommen schnell ins Gespräch.
„Wo kommen Sie her?“ „Aus Nürnberg. Und woher
kommen Sie?“ „Wir kommen aus Göttingen und Berlin, wir
machen einmal im Jahr eine Radtour. Heuer sind wir mit dem Bus nach
Lyon gefahren, jetzt sind wir bereits wieder auf dem Heimweg, wir
fahren noch bis Perpignan, von dort wieder mit dem Bus
zurück.“ Als ich meine Horrorgeschichte vom Radfahren in
Lyon erzähle, lachen die Herren herzhaft: „Für uns war
das kein Problem, es war praktisch kein Verkehr in der Stadt, erst in
den Außenbezirken war etwas Betrieb.“ Meine dreiundzwanzig
Fragezeichen auf der Stirn werden schnell weniger. „Wir sind
nachts um halb drei dort angekommen, da war natürlich nichts
los!“ Ach so! Na dann! Es wird ein langer Abend, wir machen
zusammen ein paar Flaschen Wein leer und quatschen, bis einige Nachbarn
am Zeltplatz demonstrativ ihr Licht ausschalten und laut „Bonne
nuit!“ sagen.
St. Gely - Moissac
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
83,5 km |
17,0 std./km |
1.619 km |
Es ist ein
wunderschöner, strahlender Morgen, nur wir strahlen nicht. Erst
nachdem ich mich verabschiedet habe, in einer kleinen Bar ein
Frühstück erhalten habe, natürlich Cafe und Croissants,
kehren die Lebensgeister langsam zurück. Ich schwitze den Alkohol
von gestern wieder aus. Der nächste größere Ort ist
Cahors. Der Dom soll nach dem Petersdom die höchste Kuppel der
Welt haben. Vielleicht stimmt es, aber mein Empfinden sagt mir, dass
die Kuppel der Kathedrale in
Florenz höher ist. Möglicherweise täusche ich mich auch,
denn auf die Kuppel in Florenz sind wir hinauf gestiegen, meine Beine
protestierten ganz schön, das weiß ich noch ganz genau. Hier
blicke ich nur nach oben. Trotzdem, sehr schön, aber etwas dunkel.
Ich gehe wieder in den blendenden Sonnenschein hinaus. Heute ist
Markttag in Cahors, ich schlendere über den Markt, kaufe etwas
Obst und einige Lebensmittel. Es ist toll, was es hier alles gibt!
Sogar lebende Wachteln sehe ich an einem Stand. Die Gänse, Enten,
Hühner, Fasane usw. sind nicht geschlachtet, sondern stehen lebend
in Körben unter den Theken. Wenn eine Hausfrau ein Tier kauft,
fischt der Händler mit blitzschnellen Bewegungen das
gewünschte Tier aus dem Korb – der natürlich einen
Deckel hat – bindet dem Tier die Flügel und die Beine
zusammen, hängt es an eine Waage und reicht es der Käuferin.
Die steckt das lebende Tier in eine Tasche oder einen Korb und kauft in
aller Seelenruhe weiter ein. Inzwischen schreit sich das arme Vieh die
Kehle aus dem Hals. Aber keine Menschenseele kümmert sich darum.
Ich mache ein Foto, hier könnte ich einen ganzen Film verknipsen,
später bereue ich, dass ich es nicht getan habe. Denn so einen
bunten Markt habe ich auf meiner Reise nicht mehr gesehen.
Heute ist Waschtag, einen
Waschsalon habe ich schnell gefunden. Nur noch ein Problem: Woher das
Kleingeld nehmen? Etwas ratlos stehe ich vor dem Schaufenster, eine
ältere Dame sagt einige Worte zu mir. Wie bitte? Plötzlich
die Frage: „Sind Sie Deutscher?“ Verdutzt bejahe ich. In
perfektem Deutsch fragt mich die Dame: „Sie haben wohl kein
Kleingeld? Warten Sie, ich wohne hier gleich nebenan, zuhause habe ich
etwas Kleingeld.“ Immer noch staunend folge ich der Dame in eine
kleine Wohnung. Sie gibt mir Münzen für einen 10 Franc
Schein, das reicht locker für die Wäsche und das Trocknen.
Ich kann mich nun doch nicht mehr zurückhalte und frage, woher sie
denn so gut deutsch spricht. „Ich komme aus dem Sudetenland, bin
dort aufgewachsen. Natürlich haben wir zuhause deutsch gesprochen.
Nach dem Krieg bin ich weg und nach Frankreich gegangen, ich wollte
unter den Kommunisten dort nicht leben! Hier habe ich meinen Mann
kennen gelernt, der ist aber leider vor einigen Jahren gestorben. So
habe ich nur noch eine Schwester, die lebt aber noch in Deutschland,
ich habe sie seit 20 Jahren nicht mehr gesehen!“ „Und wo
wohnt Ihre Schwester jetzt?“ „In Nürnberg, gleich
hinterm Bahnhof wohnt sie.“ Mir bleibt vor Staunen der Mund offen
stehen: „In Nürnberg? Ich komme auch aus
Nürnberg!“ Jetzt staunt sie ebenfalls, wir lachen beide
über solch einen Zufall. Ich kann sie ja einmal von ihrer
Schwester grüßen, wenn ich wieder zurück bin. Lachend
verspreche ich es.
Neben dem Dom hat Cahors noch eine andere Sehenswürdigkeit, es ist die alte Brücke
über den Fluss. Die beiden Türme an den Enden waren
während des Mittelalters durch Truppen besetzt, die Reisende
anhielten und so nach Feinden spähten. Ich mache noch ein paar
Aufnahmen. Auf einmal kommt ein Radler auf mich zu und fragt:
„Soll ich Sie vor der Brücke aufnehmen?“ Nein danke,
denn vor der Kamera komme ich mir immer blöd vor. Ich bin lieber
dahinter. Aber so kommen wir ins Gespräch, mein Gegenüber ist
ein Deutscher, der vor über 30 Jahren in die USA auswanderte und
mit seinem Freund jetzt den Jakobsweg befährt. Beide haben
Rennräder mit wenig Gepäck, sie übernachten immer in
Hotels oder Gasthöfen und kommen flott voran. Mindestens 120 km am
Tag müssen es schon sein, meint mein Gesprächspartner, ihre
Zeit ist knapp. Ich versuche, einige Kilometer mit ihnen mitzuhalten,
aber am ersten Berg sind sie weg. Das waren die ersten Jakobspilger,
die ich auf meinem Weg traf!
Am Spätnachmittag
erreiche ich Moissac. Der Campingplatz auf einer Insel im Fluss ist
Spitze, ich will aber noch den Kreuzgang und die Kirche ansehen,
deshalb zu Fuß in die Stadt, es ist nicht weit. Leider ist der
Kreuzgang nur bis 18.00 Uhr geöffnet, das muss ich also morgen
nachholen. Pizzerias gibt es hier auch, ich kann günstig essen,
ich muss mein Geld etwas zusammen halten. Satt und zufrieden sitze ich
dann vor meinem Zelt, leise summend umkreisen mich Stechmücken,
das Klatschen, mit dem ich sie erschlage, hallt laut über den
Platz, andere Klatschgeräusche dringen durch die Stille. Die
anderen Camper sitzen auch draußen! Der Canal de Midi, der an
Moissac vorbei führt, ist wie ausgestorben, kein Schiff oder Boot
zu sehen.
Moissac - Condome
Tagesetappe
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Durchschnitt
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Kumulierte Strecke
|
87,4 km |
14,9 std./km |
1.707 km |
Der erste Eindruck des Kreuzganges ist überwältigend. Man kommt – natürlich nach
dem man den Eintritt gezahlt hat – durch eine breite Tür aus
der Finsternis des Vorraumes in den Innenhof des ehemaligen Klosters.
Das Gegenlicht bringt die Säulen zum Leuchten. Ich sitze
mindestens 10 Minuten auf einer kleinen Bank in der Ecke und lasse den
Eindruck auf mich wirken. Ich bin so dankbar, dass ich gestern zu
spät dran war. Das Licht, die tiefstehende Morgensonne und die
Säulen im Gegenlicht! Einfach traumhaft! Langsam schlendere ich
durch den Kreuzgang, studiere die Kapitelle, die auch heute noch nach
so vielen Jahren winzige Details zeigen. Jede Säule ist anders,
die 4 Ecksäulen sind figürlich
ausgearbeitet, sie zeigen Propheten des alten Testaments. Ich kann zwar
die Schrift nicht entziffern, aber das Bild von Moses ist nicht zu
verwechseln. Die Strahlen am Kopf, wie an den Statuen von Michelangelo.
Erst nach einer guten Stunde geht es weiter. Das Wetter ist richtig
heiß, keine Wolke am Himmel, kaum Wind, ich muss trinken ohne
Unterlass, zuerst Grapefruitsaft, als mir dieser zu bitter wird,
Apfelsaft, insgesamt 2 Liter. Ich hätte besser mehr Wasser und
weniger Saft trinken sollen, meine Innereien rebellieren, alle paar
Minuten muss ich hinter einige Büsche, es stehen netterweise auch
noch Maisfelder, in denen ich Deckung suchen kann. Ich habe
übrigens die Boys aus USA heute morgen noch einmal in der Stadt
getroffen, so schnell waren sie offensichtlich doch nicht unterwegs!
Oder lag es an meiner Wegeplanung? Sie erzählen, dass sie gestern
weit über 100 km gefahren sind. Bei mir war es wesentlich weniger.
Wahrscheinlich gehen wir von verschiedenen Startpunkten aus. Jetzt
jedenfalls sind sie weg und ich treffe sie nicht mehr. Mittags frischt
der Wind auf, er bläst mir voll entgegen. Die Landschaft wird
hügelig, ich bin den Pyrenäen und ihren Vorbergen schon nahe
gekommen. Die Straßen sind nun recht gerade, man sieht also, wo
es hingeht, den einen Hügel runter, den nächsten wieder
hinauf. Als ich am Abend zusammenrechne, habe ich laut meiner Planung
rund 83 km gefahren, es sollten aber nur 65 sein. Irgendwo hat sich
wieder ein Umweg eingeschlichen.
Condome - Hagetmau
Tagesetappe
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Durchschnitt
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Kumulierte Strecke
|
106,7 km |
16,8 std./km |
1.813 km |
Morgens bei Hochnebel vom Platz gefahren, mittags löst er sich auf, es wird wieder sehr warm. Ein
sogenannter 3-Liter-Tag. Hügel folgt auf Hügel, ein stetiges
Auf und Ab. Bei der Vorbereitung war schon klar, in dieser Gegend wird
es hart. Die Täler streben weg von den Bergen nach Norden, ich
muss aber noch weiter nach Westen, also muss ich die Täler queren.
Das ganze Jammern nützt nichts, sing ich eben noch ein paar Mal
mein Lied „Je ne regrette“, schließlich bin ich
selbst schuld! In der Nähe von Aire sur l’adoure sehe ich
zum ersten Mal hier in Frankreich den Hinweis auf den Jakobsweg. Der
Weg zweigt rechts von der Straße ab, ist mit dem Symbol markiert
und verschwindet hinter dem nächsten Hügel. Kein Weg zum
Radfahren! Nur Geröll und dicke Steine. In der Stadt, die ich eben
durchquerte, sah ich einen Touristen mit Rucksack, leider konnte ich
ihm nur ein „Bon jour“ zurufen, ich hätte ihn gerne
nach dem Woher und Wohin gefragt. Aber er bog eben ab und ich konnte
die Hauptstraße nicht überqueren. Der Mittelstreifen war im
Weg. Jetzt fahre ich auf Hagetmau zu, sehe erst jetzt, dass der Ort ein
Kurort ist, hätte ich das vorher gewusst, wäre ich anders
gefahren. Aber nun ist es zu spät, ob ich will oder nicht, hier
muss ich übernachten. Im Ort ist ein Zirkus zu Gast,
außerdem ist es Freitag Abend. Da wird einiges los sein! Endlich
finde ich den Campingplatz. Nanu? Schranke unten, kein Mensch zu sehen?
So spät ist es noch nicht, aber möglicherweise hat der Platz
bereits geschlossen? Ich sehe kein Zelt, keinen Wohnwagen, nichts. Die
Preistafel verkündet, dass die Übernachtung 80 FF kosten
soll, egal, mit was
man übernachtet. Die Plätze sind wie vierblätterige
Kleeblätter angelegt, in der Mitte steht jeweils ein kleines
Sanitärgebäude, hat für jede Seite separate Zugänge
und Waschplätze. Leider alles abgesperrt. Ich traue mich nicht,
sozusagen „schwarz“ zu campen. Wenn einer in der Nacht
kommt und mir eine überbrät, ist es zu spät für die
Vorsicht. Also schauen wir einmal nach einem Zimmer. Natürlich
sind alle preiswerten Häuser ausgebucht, ein Kongress ist in der
Stadt, aber das teuerste Haus am Platz hat noch ein Zimmer frei, ich
zahle 240 FF und genieße den Luxus einer heißen Dusche in
einem gekachelten Bad und den Schlaf im schönen weichen Bett.
Vorher aber, um die Verschwendung voll zu machen, ein Menü im
Restaurant, erstklassig, aber auch vom Preis her! Am Abend hatte ich
noch versucht, meine liebe Frau am Telefon zu erreichen, aber leider
war sie nicht da, sehr schade. Ich hatte mich so auf das Gespräch
gefreut.
Hagetmau – St.Jean Pied de Port
Tagesetappe
|
Durchschnitt
|
Kumulierte Strecke
|
93,6 km |
16,2 std./km |
1.907 km |
Schon wieder Nebel, er löst sich gegen 11.00 Uhr auf, dann wird es heiß, sehr heiß. Ein leichter
Rückenwind hilft beim Vorwärtskommen, leider fährt man
da zeitweise in der eigenen Wolke. Immer noch ein stetiges Auf und Ab,
es wird wieder ein 3-Liter-Tag. Meine Schaltung macht Probleme, das
ständige Rauf und Runter zwingt dazu, auch die Gänge
ständig zu wechseln. Im Moment kann ich nicht mehr auf die
höchsten und niedrigsten Gänge schalten, ich behelfe mich
damit, dass ich mehr mit dem vorderen Kettenblatt schalte. Diese
Schaltung geht noch. Heute Abend werde ich das Fahrrad abschmieren,
Öl habe ich ja dank dem netten Mechaniker in St. Etienne dabei.
Mittags habe ich es eben noch geschafft, in einen Supermarkt
„Hinein zu rutschen“, im letzten Moment, die Dame wollte
schon die Tür abschließen. So geht es mir häufig. Vor
12 Uhr will ich noch nichts kaufen, sonst fahre ich das Zeug zu lange
in der Hitze spazieren, wenn ich dann anfange, nach einem Laden
auszuschauen, fahre ich oft durch kleine und kleinste Dörfer, wo
es so etwas nicht gibt. Aber meistens klappt es ja noch, so wie heute.
Mit hängender Zunge komme ich auf dem Platz in St. Jean an, das
letzte Stück war wirklich hart. Heiß und das ständige
hinauf- und herunterfahren haben mich gefordert. Die Getränke sind
mir ausgegangen, keine Geschäfte gefunden, kein Brunnen, also
Durst leiden. Mir kommt dabei ein Radtour in den Sinn, wir fuhren an
einem ebenso heißen Tag von Nürnberg nach Bamberg, der Weg
am neuen Kanal entlang war neu mit Schotter gestreut, wir waren kurz
vor dem Verdursten in Bamberg angekommen, an einer Tankstelle zogen wir
eine Dose Limonade aus der Kühltruhe, zu unserem Schrecken war sie
warm. Vom Tankwart kam der kurze Satz: „Unsere Kühltruhe ist
kaputt!“ Also haben wir das warme Limo zu dritt getrunken. Es war
nur ein Schluck für jeden, denn das Meiste spritzte beim
Öffnen in die Gegend.
Aber jetzt ist das Zelt aufgebaut, die abendliche Dusche vorbei, etwas Wäsche gewaschen, der
Durst mit Wasser aus der Leitung gestillt. Nun brauche ich nur noch
etwas zum Essen. Neben mir, etwa 50 Meter entfernt, hat ein junger Mann
mit Rucksack sein Zelt aufgebaut. Ich gehe einige Male vorbei,
grüße freundlich, aber keine Reaktion. Ich denke, das muss
ein Jakobspilger sein. Aber wenn die alle so sind, na, dann Gute Nacht.
Ich mache mich auf den Weg in die Stadt, es ist ziemlich weit, Hin- und
Rückweg zusammen über eine Stunde, aber mir tut das Laufen
gut. Wenn nur die Schmerzen an den Zehen nicht wären! Meine
Radschuhe sind entweder geschrumpft, oder meine Füße
gewachsen. Jetzt, mit den leichten Sportschuhen, kann ich ohne
Schmerzen laufen. Ich erreiche St. Jean, es scheint so eine Art
Oberstdorf für Franzosen zu sein, ein Geschäft für
Andenken neben dem anderen. In den Auslagen sehe ich wüste Sachen!
Nichts geschmackvolles, wirklich nur Tand. Ganz versteckt ein kleiner
Markt, der sich aber nach dem Eintreten überraschend groß
zeigt. Er geht durch den ganzen Häuserblock hindurch bis zur
nächsten Querstraße. Endlich was zu essen und zu trinken.
Ich kaufe reichlich ein, denn morgen geht es in die Berge, wer
weiß, wo ich da wieder etwas finde. Auf dem Rückweg zieht
mir die Plastiktüte den Arm lang, nach ein paar hundert Metern
wird es mir fast zu viel. Wäre ich doch mit dem Rad gefahren! Um
mich abzulenken, studiere ich die Hänge der Pyrenäen. Hier
beginnen sie, die Berge! Ich sehe von hier aus, dass die Baumgrenze
nicht allzu weit oben beginnt, darüber nur kahle Hänge, keine
Felsen, alles Wiese wie im Allgäu. Wenn ich Glück habe, ist
morgen früh wieder Nebel, dann wird es nicht so heiß auf dem
Weg nach oben. Ich habe einen Mordsrespekt vor dem Pass, in meiner
Zettelsammlung steht:
„Dieser Berg ist so
hoch, dass er den Himmel zu berühren scheint; wer ihn besteigt,
glaubt mit eigener Hand an den Himmel reichen zu können. Vom
Gipfel kann man das Meer der Bretagne und des Westens sehen und auch
die drei Länder Kastilien, Aragonien und Frankreich. Der Ort auf
der Spitze wird »Karlskreuz« genannt, weil dort Karl der
Große, als er mit seinem Heer nach Spanien zog, einen Pfad mit
Beilen, Äxten und Hacken bahnte, ein Kreuzzeichen aufstellte, dann
das Knie beugte und nach Galicien gewandt Gott und den hl. Jakobus in
einem Bittgebet anrief. Deshalb pflegen die Pilger hier niederzuknien,
mit Blick auf das Land des hl. Jakobus zu beten und ein Kreuz wie ein
Feldzeichen aufzustellen.“
Außerdem weiß
ich aus der Literatur, dass alle Fußpilger diesen Abschnitt als
„furchtbar anstrengend“ bezeichnen. Es nützt nichts,
ich muss da drüber! Ob ich jetzt Angst habe oder nicht, wenn ich
die Steigung nicht mehr treten kann, muss ich eben schieben.
Kleines Zwischenspiel: Hunde
Soeben komme ich an einem Hund vorbei. Ausdauernd werde ich verbellt, ich bin der
Liebling aller Hunde, aber wenn ich nicht reagiere, sondern einfach
weitergehe, stellen sie schnell ihr Gebelle ein und schauen
schwanzwedelnd hinter dem Fremden her. Mir fiel bisher auf, dass in der
Schweiz die Schäferhunde richtig „viereckig“ waren,
d.h. kein abfallender Rücken wie bei uns. In Frankreich, in der
Rhonegegend, gab es viele Jagdhundarten, groß, hell und gefleckt,
ähnlich unserem Münsterländer. Hinter St.Etienne, in den
Bergen des mittleren Frankreichs, waren die Hunde kleiner, wuschelig,
meistens apricot-farben. Vom Aussehen her mit langen Schlappohren und
der kurzen Schnauze wie der Glückdrache Fuchur aus dem Film
„Die unendliche Geschichte“. Es sind sehr schöne
Tiere, offensichtlich hellwach und intelligent. In der Nähe des
Lot, also um Moissac herum, sehen die Hunde mehr wie Rottweiler aus,
aber bei weitem nicht so massig. Und noch eine Besonderheit: An den
Hinterläufen haben die Tiere zwei Daumenkrallen, eine davon steht
wie eine Sense nach innen. Ich habe das bei einigen Hunden gesehen, die
einige 50 km auseinander waren, es war also nicht nur eine
zufällige Missbildung.
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