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Geneve – St.Genix

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
117 km 17,1 std./km 901 km

Heute Morgen bin ich sehr früh gestartet, kurz nach 8.00 Uhr war ich bereits unterwegs. Es herrscht ein enormer Verkehr. Die lange Fahrt um die Bucht, um den Hafen auf der anderen Seite zu besichtigen, spare ich mir, heute ist es trübe, kein Sonnenstrahl bringt das Wasser des Sees zum Leuchten. Die Fontäne sehe ich auch von hier aus. Die Blumenrabatten und Denkmäler an dieser Seite der Bucht sind auch sehr schön. Auch bei trüben Wetter ein erfreulicher Anblick. Durch den Park sausen Streifenhörnchen, die gleiche Art, wie in den Cartoons von Walt Disney – Ahörnchen und Behörnchen. Gestern Abend hatte ich doch noch meinen Schwatz: Ich hatte mit zu Hause telefoniert und mit meiner Gattin ein längeres Gespräch. Sie sagte mir auch, dass ein Schlechtwettergebiet auf mich zukommt. Wie es heute ausschaut, könnte es stimmen. Ich kämpfe mich durch den dichten Verkehr in Richtung Rhone, dem Fluss werde ich nun bis Lyon folgen. Ich bin ganz sicher, dass ich dort einen Radweg finde, wie an der Aare. Aber, leider, nicht einmal ein Fußweg geht am Fluss entlang Er rauscht tief eingeschnitten unten im Tal, die Straße führt einige hundert Meter weiter oben am Hang entlang. Ich muss auch heute wieder tüchtig klettern. Am Grenzübergang nach Frankreich ist keine Menschenseele zu sehen, es ist nur ein kleiner Übergang, wahrscheinlich wird deshalb keiner kontrolliert. Sofort merke ich am Straßenbelag, dass ich in Frankreich bin, er ist wesentlich rauer als in der Schweiz oder bei uns. Meine Packtaschen rütteln dauernd. Ich versuche sie ruhig zu stellen, indem ich kleine Zweige zwischen die Haken der Taschen und den Gepäckträger klemme, nach einigen Kilometern fallen diese Zweige aber wieder heraus und der Radau beginnt von vorne. An einem kleinen Lebensmittelgeschäft ergattere ich ein paar Streifen Schaumgummi, der hält und stellt das lästige Klappern ab, dafür quietscht es jetzt ein bisschen. Wie gesagt, man kann nicht alles haben. Ich bin jetzt ziemlich weit nach oben gefahren, eine Abfahrt von glatten 5 Kilometern liegt jetzt vor mir. Es ist doch recht kühl, ich ziehe zur Vorsicht meine Regenjacke an, ich will mich nicht verkühlen. Gesundheitlich geht es mir inzwischen gut, die Sitzbeschwerden sind vorbei, der Rücken schmerzt auch nicht mehr, meine Hände schlafen zwar immer noch ein, aber ich weiß inzwischen, wie ich den Lenker halten muss, dass sich das Problem nach kurzer Zeit wieder von selbst behebt. Mit einem Wort: Nach fast tausend Kilometern bin ich „eingefahren“!

Die Abfahrt macht Spaß, ich brause durch den nächsten Ort, halte nur kurz an, um in einer Bank Geld abzuheben. Die Tür zur Bank ist abgeschlossen, drinnen sitzt Personal, schaut heraus. Was ist los? Habt Ihr kein Geld mehr? Nein, offensichtlich reine Sicherheitsmaßnahme, erst wird der Kunde beguckt, dann wird entschieden, ob er herein darf. Ich durfte! Ich fahre jetzt 3 Währungen spazieren. Außerdem drei verschiedene Telefonkarten. Jedes Land hat seine Eigenheiten. Das fängt bei der Sprache an und hört bei den Steckdosen noch lange nicht auf. Es ist schon ein Wunder, dass man sich wenigstens auf die gleiche Spannung verständigt hat.

Es beginnt zu regnen. Durch das Abheben von Geld habe ich Zeit verloren, ich dachte zwar, ich kann noch vor der Mittagspause im nächsten Ort sein, komme aber leider etwas zu spät: Alle Läden geschlossen – fermé – wie es so schön heißt. Nun stehe ich da, nichts zum Beißen und nur blankes Wasser zum Trinken. Der Regen wird kräftiger. In einem kleinen Ort – Serrières – halte ich kurz an, um den Sturzhelm abzunehmen und stattdessen die Kapuze aufzuziehen. Nebenan ist ein kleines Restaurant, ich lese an der großen Tafel neben der Türe: „Table de Jour 65 FF“. Dazu reicht mein Französisch, das heißt Gericht des Tages. Kurz entschlossen gehe ich in das Restaurant, entfliehe dem Regen, der jetzt doch heftig fällt und mache eine späte Mittagspause. Ich bin der einzige Gast, suche mir in einer Nische einen kleinen Tisch – mein Radler-Outfit ist nicht der richtige Dress für ein Lokal – und bestelle bei Madame mein Essen, dazu Mineralwasser. Die junge Frau erkennt natürlich an meinem Wortschatz, dass ich ihrer Sprache kaum mächtig bin und fragt mich, wo ich herkomme. Ich gebe gerne Auskunft, nach einem Ausruf der Überraschung: „Mon Dieu, quelle voyage!“ kramt sie tatsächlich etwas Deutsch aus dem Gedächtnis, sie war einmal vor einigen Jahren für zwei Saisons in Baden-Baden in einem Hotel und hat davon noch einiges übrig behalten. Es wird eine richtig nette Unterhaltung – mit unserem beschränkten Wortschatz. Das Essen selbst ist eine Überraschung: Der erste Gang, die Vorspeise, entpuppt sich als gut bestücktes Büfett zur Selbstbedienung, mit Melone, Schinken, gefüllten Tomaten, Leberpastete und anderen Leckereien. Ich nehme von etlichen Speisen nur wenig, ich möchte gerne so viel wie möglich kosten. Wohlwollend werde ich beobachtet, zwei kleine Kinder spitzen aus der Küche, auch die Wirtin wirft ab und zu ein Auge auf mich. Es ist ein kulinarischer Genuss! Das Hauptgericht ist ein Rindfleischtopf mit Nudeln, eine Riesenportion, als ich protestiere, heißt es: „Monsieur, Sie müssen heute noch viele fahren!“ Ich habe erzählt, dass ich heute von Genf komme und noch bis St. Genix weiter will. Scheint sehr ungewöhnlich zu sein, dass jemand mit einem bepackten Rad so weit fährt. Die Wirtin erklärt mir, sie fährt auch Rad, aber höchstens bis zum anderen Ende des Dorfes, mehr nicht! Als Nachtisch bekomme ich eine Schale „Fromage bleue“, das ist Quark mit Zucker, anschließend noch ein Eis. Nach einem kleinen Café solo bin ich rundum satt, zahle insgesamt 79 FF, das sind etwa 26 DM und schwinge mich wieder aufs Rad. Wer hätte das gedacht! Der Regen hat immer noch nicht aufgehört, einen kurzen Moment überlege ich: Soll ich hier übernachten? Zimmer kann ich bekommen, aber dann verschenke ich den ganzen Rest des Tages! Also weiter! Es wird hart, der Regen prasselt zwei Stunden lang pausenlos vom Himmel, nach kurzer Zeit kommt das Wasser bereits aus den Schuhen wieder heraus. Eigentlich hatte ich mir die Regenfahrten anders gedacht. Ich wollte Schuhe und Strümpfe ausziehen und mit den Badesandalen fahren, aber den Zeitpunkt habe ich verpasst, die Schuhe sind schon nass. Ein kurzes Stück fährt ein älterer Mann neben mir her, auch mit Regenumhang, fragt nach woher und wohin, bemitleidet mich gründlich und biegt dann in seinem Dorf in eine Seitenstraße ab. Der Regen hört auf, die Sonne kommt wieder heraus, die Straße dampft, auf den Wiesen stehen Nebelschwaden, es wird wieder wärmer. Endlich erreiche ich meinen heutigen Zielort. Nirgends kann ich ein Schild finden, wo der Campingplatz ist. Ich frage zwei Bauarbeiter, die an dem Straßenbelag arbeiten, wo ich hin muss. Nach einigen Hin und Her kann ich klarmachen, dass ich zum „Place Municipal“ will, dem städtischen Campingplatz. Heute weiß ich, dass es zwei grundverschiedene Platzarten gibt: Der oben erwähnte von den Gemeinden betriebene und verwaltete Platz, der überwiegend für das „fahrende Volk“ gedacht ist und von Privatleuten unterhaltene Campingplätze, die für die Touristen gedacht sind. Jedenfalls rutscht mir bei den Erklärungen ein „Ja“ heraus, der eine Arbeiter schaut mich misstrauisch an, sagt: „Allemagne?“ Als ich bejahe, dreht er sich wortlos um und geht zu seiner Arbeit zurück. Der andere winkt kurz ab, nach dem Motto: Lass den mal! Und erklärt weiter, wo ich hinfahren soll. Der Platz ist riesengroß, allerdings nur mit dem Allernötigsten ausgestattet. Die eine Hälfte des Platzes wird von riesigen Wohnwagen und schweren Limousinen belegt, auf der anderen Hälfte stehe ich. Der Preis für eine Nacht für mich, mein Zelt und das Rad sind umgerechnet fünf Mark. In einem Supermarkt, nur 200 m weit weg, besorge ich mein Abendessen, Brot, Wein und Käse, dazu eine große Küchenrolle. Ich muss meine Schuhe dringend ausstopfen, sonst sind sie morgen noch nass und noch enger, als sie sowieso schon sind. Nachdem ich das Zelt aufgebaut habe, fällt mir der strenge Geruch im Innenzelt auf. Offensichtlich habe ich das Zelt zu lange nicht ausgepackt, ich hätte es in Brugg aufhängen sollen, damit es trocknet. Jetzt könnte ich hier fast Champignon züchten, so schimmelt es! Ich beschließe, bei offener Luke zu schlafen.

Ich bin zwar nur ein kurzes Stück in Frankreich gefahren, trotzdem fällt mir auf, dass nur sehr wenige Rastplätze am Straßenrand sind, dafür gibt es in jeder noch so kleinen Stadt Restaurants bzw. Gasthöfe. Meistens bieten sie keine Zimmer, aber immer sind die Speiseräume erstklassig ausgestattet. Ich denke mir, dass die Mehrzahl der Franzosen lieber in einem Restaurant stilvoll diniert, als an einem Picknickplatz zu essen. Noch etwas prinzipielles: Hier gibt es offensichtlich keine Reiseradler, entweder man fährt mit dem Rennrad, meistens in Pulks oder nur in der Stadt oder im Dorf, dazwischen, auf den schönen kleinen Landstraßen ist kein einziger Radfahrer zu sehen. Noch etwas gefällt mir sehr: Vor jedem Ort ist ein Verkehrskreisel angelegt, der nur sehr langsam umfahren werden kann und damit die Geschwindigkeit der heranbrausenden Fahrzeuge zuverlässiger mindert als ein Verbotsschild. So etwas nenne ich eine positive Verkehrsberuhigung. Allerdings gibt es auch Verkehrsregelungen, die nicht meinen Beifall finden: In größeren Städten wird die Hauptstraße regelmäßig alle paar hundert Meter künstlich verengt, mit Fußgängerüberwegen ausgestattet. Im Normalfall kann man in den Städten auf den Seitenstreifen gut fahren, man hat immer einen halben oder sogar ganzen Meter seitlich Luft zum Durchgangsverkehr. An den Engstellen aber muss man in die Fahrbahn der Pkws und Lkws einschwenken. Es ist ein sehr kribbeliges Gefühl, wenn hinter einem ein Zwanzigtonner mit zischenden Druckluftbremsen abbremst, damit er einen nicht auf die Hörner nimmt. Viel besser wäre es, wenn der Radstreifen seitwärts an der Engstelle vorbei geführt würde, aber wie schon gesagt: Hier gibt es keine Radler, die auf Hauptstraßen fahren – außer mir. 

St. Genix – Lyon

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
88,6 km 16,8 std./km 990 km

Im Gegensatz zu gestern starte ich heute sehr spät, es ist schon zehn Uhr, das fahrende Volk ist zum größten Teil heute Morgen schon um 8.00 Uhr oder kurz vorher gestartet. Viele riesige Wohnwagen hängen hinter kurzen Lkws, die fast wie Schlepper aussehen. Diese Art Vehikel habe ich vorher noch nie gesehen. Dicker Nebel hängt über dem Platz, ich warte, bis er sich etwas aufhellt, verzehre einstweilen mein Frühstück, das aus altem Brot, dem Rest Käse und zwei Schluck Mineralwasser besteht. Endlich ist es soweit, die Sonne kommt durch, schlagartig wird es warm, noch feucht packe ich meine Kleidung und das Zelt zusammen, ich werde heute unterwegs eine Trockenpause einlegen müssen! Die Etappe selbst ist nicht so lang, in Lyon will ich wieder in einer Jugendherberge schlafen. Die Fahrt selbst ist sehr angenehm, es geht überwiegend links oder rechts an der Rhone durch kleine Dörfer. Radwege finde ich keine, aber es herrscht so wenig Verkehr, dass ich es verschmerzen kann. Wieder einmal fällt mir auf, die Hunde am Weg in den Gärten oder Höfen werden fast wahnsinnig, wenn ich mit dem Rad vorbeifahre. Sie bellen, bis ihnen der Schaum vor dem Maul steht, bei Autos oder normalen Radlern keine Reaktion! Es müssen die Packtaschen sein, die immer Geräusche von sich geben, quietschen, klappern, im Wind flattern. Denn selbst wenn ich noch nicht zu sehen bin, also hinter einer Mauer oder dichten Zaun herfahre, toben die Hunde wie toll. Heute Morgen habe ich den Lehrsatz von Konrad Lorenz in der Wirklichkeit bestätigt gefunden. Der Tierforscher hatte zwei Hunde beobachtet, die durch einen Zaun getrennt waren und fürchterlich bellten. Sie rasten den Zaun hinauf, am Ende wurde gemeinsam gewendet und wieder auf die andere Seite gerast. Eines Tages war durch Baumaßnahmen der Zaun teilweise weg. Die beiden Köter rasten den Zaun entlang, bellten wie immer. Plötzlich, oh welch ein Schreck, war der Zaun weg. Sie stutzten kurz, drehten beide um, bis sie wieder durch den Zaun getrennt sind und bellten dort weiter. Also ein reiner Schaukampf, auf die echte Auseinandersetzung war keiner scharf. Genau dieses Verhalten habe ich heute an einem Bauernhof erlebt. Der kleine Hofhund, etwa so groß wie ein Dackel, aber schwarz und weiß gefleckt, bellt wütend hinter dem Zaun vor und verfolgt mich als ich vorbeifahre. Plötzlich ist das Hoftor offen, er steht vor mir, keine zwei Meter entfernt, stutzt kurz und sprintet wieder hinter den Zaun. Von dort bellt er weiter.

Mittags brennt die Sonne wieder vom Himmel, ich decke mich mit Getränken und Verpflegung ein, heute kalt, aber sehr gut. In einer Metzgerei habe ich eine Theke mit Lebensmitteln für einen Imbiss entdeckt. Mit einigen Zeigebewegungen ist der Einkauf erledigt. Es sind mit Reis und Fleisch gefüllte Tomaten, noch etwas Ähnliches wie eine Pastete und Weißbrot. So lässt es sich leben! Ich finde auch einen Fleck, wo ich Pause machen kann, meistens sind in den Orten auch Bänke und Brunnen, so auch hier. Vor mir steht auf einem Hügel mitten in der Stadt eine wunderschöne Kirche. Am Hang Blumen und Büsche, es ist eine Pracht, wie diese in der Sonne leuchten.

Am Nachmittag stehe ich am Stadtrand von Lyon. Ich weiß, dass diese Stadt nach Paris das zweite große Zentrum von Frankreich ist. Im Lexikon steht eine Menge:

Hauptstadt des französischen Departements Rhône, an der Mündung der Saône in die Rhône, 418000 Einwohner, Kathedrale (12. Jh.); Kultur- u. Wirtschaftszentrum; 3 Universitäten; Messestadt; Hauptsitz der französischen. Seidenindustrie; chemische, Maschinen-, Fahrzeug-, Elektro-, Nahrungsmittelindustrie; Binnenhafen; Flughafen. - Als Lugdunum Hauptstadt Galliens; 1312 an Frankreich; im 16. Jahrhundert ein Zentrum der Hugenotten; 1793 blutige Niederschlagung eines Aufstandes gegen die Jakobiner.

Vor allem aber sehe ich Straßen, Autos und keinen einzigen Radfahrer! Nachdenklich stehe ich vor einer Telefonzelle. Mir kommt eine tolle Idee: Wie wäre es, wenn ich einen Taxifahrer rufen würde, der mich und mein Rad zu der Jugendherberge fährt? Ich habe keine Ahnung, an welcher Ecke der Stadt die JH ist. Lyon ist so groß wie Nürnberg, mit den ganzen Vororten ist es sehr gut mit dem mittelfränkischen Raum vergleichbar. Plötzlich bremst ein Mopedfahrer neben mir. Er klappt das Visier seines Helmes hoch und ruft mir etwas zu. Ich verstehe kein Wort, reiße die Arme nach oben in der international verständlichen Geste des Nichtverstehens. Er stellt sein Moped ab, nimmt den Helm ab und gestikuliert genau wie ich. Nach einigen Minuten verstehen wir uns. Er erklärt mit vielen Namen den Weg zur Jugendherberge. Ich kann nicht folgen, da führt er mich einige Meter weiter zu einer Bushaltestelle und zeigt mir dort einen Stadtplan, auf dem auch die JH eingezeichnet ist. Mit dem Finger fährt er auf dem Stadtplan entlang, zeigt mir, wo wir jetzt sind und welche Straße ich fahren soll. Ich möchte ihm am liebsten für so viel Hilfe um den Hals fallen. Überschwänglich bedanke ich mich und fahre weiter. Die Himmelsrichtung habe ich mir in etwa gemerkt, Bushaltestellen gibt es auch ab und zu, so dass ich nicht in die Irre fahre. Nur einmal folge ich einer schönen glatten Straße, leicht abwärts um eine Straßenrampe herum und stehe plötzlich auf der Autobahn. Das Schild mit dem Symbol Autobahn war sinnigerweise genau hinter der Kurve. Also absteigen und wieder zurück schieben. Übrigens das erste Schild, das auf die JH hinweist, sehe ich genau 500 m vor der Herberge. Sie ist in einer tristen Industrie-Vorstadt, am Ende einer langen Sackstraße. Um in das Zentrum von Lyon zu kommen, müsste ich wieder den größten Teil der Strecke zurück, den ich eben gekommen bin. Ich beziehe mein Zimmer, beschließe, die Stadt morgen auf dem Weg weiter nach St. Etienne zu besichtigen. In einiger Entfernung ist ein Kiosk, der Pizza verkauft, dort hole ich mir, wie alle andern auch, mein Abendessen. Es ist viel Betrieb in der Herberge, ich sehe im Vorraum ein Fahrrad mit roten Packtaschen stehen, das muss sicher ein Deutscher sein! Die bekannten Ortlieb-Taschen gibt es nur in Deutschland. Leider verpasse ich den Fahrer, bzw. die Fahrerin, erst am nächsten Morgen sehe ich sie eben noch mit ihrem Rad um die Ecke verschwinden. Sehr schade, allmählich vermisse ich eine Unterhaltung in meiner Muttersprache. Mit meinen Kenntnissen der Landessprache ist keine Unterhaltung möglich.

Lyon – St. Etienne

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
94 km 13,8 std./km 1.084 km

Kurz nach 8.00 Uhr bin ich unterwegs. Heute steht mir eine schwere Arbeit bevor. Ich muss durchLyon Rhonebrücke Lyon durch und dann aus dem Tal der Rhone heraus auf die Hochfläche. Auf der Fahrt durch die Stadt sehe ich einen Radler mit einem Mountainbike fahren. Das ist der einzige, den ich an diesem Morgen sehe. Nachdem ich im Zentrum der Stadt auf der Brücke über den Fluss angekommen bin, habe ich die Nase gestrichen voll von Verkehr, Problemen und der Stadt, ich will nur noch raus! Keine Besichtigung, vor allem nicht mit dem bepackten Rad. Sollte ich noch einmal das Glück haben, nach Lyon zu kommen, werde ich auf keinen Fall mit dem Rad hier herumfahren. Endlich habe ich die Stadt hinter mir, es geht beständig bergauf. Der nächste Ort heißt St. Martin en HautSt. Martin, übersetzt „auf der Höhe“, genau das ist er auch. Fast zwei Stunden geht es im kleinsten Gang schweißtreibend nach oben. Ich wollte es ja nicht anders! Ich bin ganz alleine schuld, ich allein habe die Route ausgesucht, hätte auch anders fahren können, aber nein! Hier herauf soll es sein. Wenn es zu schlimm wird, steige ich ab und schiebe einige hundert Meter, dann wieder auf den Bock und weiter geht’s. Wenn die Moral nachlässt, kann ich immer das Lied von Edith Piaf vor mich hin singen: „Non, je ne regrette rien“ – nein, ich bereue es nicht! Kurz vor dem Ende der Moral, wenn man ernsthaft überlegt, was der Quatsch soll, ist auch der längste Berg zu Ende. St. Martin auf der Höhe entpuppt sich als langweiliger kleiner Ort, die Kirche mitten im Ort sieht aus wie alle Kirchen, da mir die Häuser den Blick versperren, gibt es auch keinen spektakulären Blick ins Tal der Rhone, das einzig positive sind die beiden Lebensmittelgeschäfte, die auch noch offen haben und mich mit einer Mahlzeit versorgen. Bänke sind auch da, es ist etwas kühl, vor allem nach den Kilometern bergauf. Aber es lässt sich aushalten.

An dieser Stelle möchte ich einmal ein paar Worte über die viel verspottete Bekleidung beim Radeln sagen. Inzwischen kann ich mir ein Urteil erlauben. Ich bin sehr froh, dass es diese Materialien gibt. Sie saugen Schweiß und Feuchtigkeit auf und geben es nach außen ab, man hat trotz Schwitzen immer noch das Gefühl, der Stoff ist nicht durchgeweicht. Wenn ich daran denke, jetzt ein Baumwollhemd anzuhaben, das wie ein nasser Umschlag am Rücken klebt und ewig nicht trocknet, bin ich doch froh, meine vorherige Skepsis überwunden zu haben. Außerdem trocknen diese Teile nach dem Waschen derart schnell, wie sonst nur dünne Seiden oder ähnliches. Dabei sind sie auch noch ziemlich winddicht, bei Abfahrten reicht es, den Reißverschluss am Hals zu schließen und man kühlt nicht zu sehr aus. So, genug der Lobeshymnen, die Profis wissen schon, warum sie diese neuen Textilien tragen. Also warum soll ich nicht von deren Erfahrungen profitieren?

Der Nachmittag vergeht in ständigem Auf und Ab. Kleine Orte auf Hügeln wechseln sich ab mit Feldern und Wäldern in den Tälern. Ich werde heute meine schlechteste Durchschnittsgeschwindigkeit der ganzen Tour erzielen, aber was soll ich ändern? Es geht nicht schneller. Endlich komme ich nach St. Etienne, einer mittelgroßen Stadt, deutlich kleiner als Lyon, aber trotzdem voll bis zum Straßenrand mit brausendem Verkehr. Kreuz und quer fahre ich in der Innenstadt herum auf der Suche nach der Hauptpost, denn nur hier kann ich von meinem Sparbuch Geld abheben. Wie ich endlich das Gebäude erreiche, fällt mit einem lauten Klatschen die Kette vom Rad auf die Straße. Seit dem zweiten Tag hat das Kettenschloss gehalten, jetzt war es am Ende. Als erstes hole ich Geld, dann starte ich schiebend durch die Innenstadt auf der Suche nach einem Fahrradhändler. Eine Dame weist mir den Weg, ich schiebe oder trete das Rad wie einen Roller und komme endlich an. Leider hat der Betrieb vor 10 Minuten geschlossen, die Werkstatt ist zu, ich könnte höchstens ein neues Rad kaufen. Das ist mir denn doch zu teuer, ich beschließe, heute ein Hotelzimmer zu nehmen und schiebe die Strecke wieder zurück, denn dort war ein nettes Hotel, das ich am Hinweg schon angeschaut hatte. Kurz vorher geht eine kleine Gasse ab, ich denke mir, da kann ich ein Stück abkürzen, plötzlich stehe ich vor einem winzigen Geschäft mit Fahrrädern im Schaufenster. Ich stürme hinein, der Chef ist noch da, hier heißt er „Patron“, sein Mechaniker ebenfalls, mir wird sofort geholfen! Nach einer Viertelstunde ist eine neue Kette montiert, weil das Rad schon aufgebockt ist, stellt der Mechaniker auch gleich noch die Schaltung ein, schon ist alles erledigt. Ich bin so froh, dass ich dem hilfreichen Menschen ein wirklich dickes Trinkgeld gebe. Der überschlägt sich fast, scheinbar war das der dickste Batzen des Jahres, er gibt mir zum Abschied noch ein Ölkännchen und seinen heißgeliebten Lappen mit, den ich in Zukunft in Ehren halten werde. Nach kurzer Zeit lande ich auf dem Campingplatz von St. Etienne für sparsame 22 FF, statt für ein Hotel ein Mehrfaches auszugeben. So gesehen ein gutes Geschäft. Zum Ausgleich gehe ich heute groß essen, es ist ein Thailänder, ich bestelle blind, was auf der Karte steht kann ich nicht lesen, aber alles schmeckt erstklassig. Zum ersten Mal wird mir das Essen – sechs Gänge - in Spankörben serviert.

Der Campingplatz ist so einfach, dass hier sogar die Duschen gespart wurden, es gibt nur kaltes Wasser am Waschbecken. Dafür ist die Aussicht über die Stadt grandios. Langsam senkt sich die Abenddämmerung über den Platz, in einiger Entfernung stehen einige Wohnwagen. Es sind ältere Gefährte, jede Menge Wäsche hängt auf der Leine. Männer mit Aktentaschen unter dem Arm kommen die Straße herauf, sie sind müde, kommen von der Arbeit. Ob es Saisonarbeiter sind? Möglicherweise ist die Wohnungsnot hier so groß, dass die Leute vorübergehend in den Wohnwagen hausen. In den Fenstern wird es hell, Schatten an den Vorhängen zeigen geschäftige Bewegungen, das Abendessen wird zubereitet. Ich liege rund und satt auf meiner Matratze und versuche mit meinem kleinen Radio etwas Heimat einzufangen. Jetzt, am Abend, sollte ich eigentlich über Mittelwelle einen Sender finden. Aber alle Sender, die ich mit dem kleinen Gerät empfangen kann, sind fremdsprachlich. Nach einer halben Stunde gebe ich auf, lasse mir von einem Sender auf UKW noch ein bisschen Musik vorspielen. Kurze Zeit später gibt es nur noch Geplapper, ich schalte aus und lege mich aufs Ohr.

St. Etienne - Vorey

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
 71,6 km  16,2 std./km  1.155 km

Laut Plan fahre ich heute durch das Tal der Loire. Aber erst einmal kommt die Hausfrauenpflicht:Garten im Loiretal Ich muss dringend waschen, nur noch eine saubere Garnitur, die habe ich heute morgen angezogen. Das Wetter ist zwar kalt, aber trocken, das Zelt erstmals wieder abgetrocknet. Ich brause den Berg hinunter in die Stadt. Heute Morgen, kurz nach 6 Uhr, war ziemlich Radau am Platz, da sind die Leute aufgebrochen und zur Arbeit gegangen. Ich bin deshalb auch etwas früher dran, denn mit dem Kaffeeduft rund um mich herum konnte ich nicht mehr weiter schlafen. Mein Frühstück war wieder spartanisch, altes Brot, Käse und Wasser. Ich gondele kreuz und quer durch die Innenstadt, suche einen Münzwaschsalon. In Lyon hatte ich einige gesehen, aber hier dauert es, bis ich einen finde. Schließlich, in einer Ausfallstraße, aber in der falschen Richtung, finde ich einen Salon. Das Waschen dauert etwa 2 Stunden, dann muss ich nochmals durch die Stadt, lande wieder einmal auf einem Stück Autobahn, werde von hupenden Autos verscheucht, hebe mein Rad über eine Hecke und verlasse erleichtert St. Etienne. Endlich komme ich zur Loire! Ein landschaftlich wunderbarer Fleck, links und rechts am Hang kleine Schlösser oder Villen, die auch wie ein Schloss aussehen. Ich hatte mir das so schön gedacht: Am Ufer entlang gondeln, ab und zu bei einem netten Café anhalten, einen kleinen Schwarzen und ein Wasser kippen, ansonsten kein Stress mit Berg und Tal. Aber leider, wie schon bei der Rhone, meine frohe Erwartung wird schnöde enttäuscht: Die Straße zieht sich teilweise hoch an den Hängen hin, führt wieder ins Tal, hinter der nächsten Biegung wieder nach oben. Da kann auch die schöneLoiretal am Morgen Landschaft nicht trösten. An einem Hinweisschild sehe ich dass ich die „Gorges de Loire“ befahre, also die Schluchten oder Durchbrüche. Zusätzlich zum Fluss und der Straße windet sich auch noch ein Bahngleis durch das enge Tal. Natürlich weicht die Straße aus, die Loire und die Bahn bleiben auf gleicher Höhe. Zum ersten Mal sehe ich eine romanische Kirche. Die Kuppeln des Innenraumes – eine kleine und eine große – haben jeweils in den Ecken nochmals kleine Kuppeln, die den Druck des Mauerwerks abfangen. Ich bleibe eine ganze Weile in der kleinen Kirche und lasse die Atmosphäre auf mich wirken. Die dicken Mauern halten jedes GeräuschInnenraum Kirche Loiretalab, ich könnte hier anfangen zu meditieren. Plötzlich, klapper, schepper, wird die Tür geöffnet, eine ältere Dame stürmt herein: „Bonjour, Monsieur! Je“ der Rest geht mir durch die Lappen, aber an den Eimern sehe ich, heute ist Putztag! Ich schlendere durch die offene Tür in die Mittagssonne hinaus. Ein paar Meter weiter finde ich einen Norma-Laden, ich kaufe das Mittagessen, das Leben hat mich wieder. Am frühen Nachmittag finde ich einen kleinen Campingplatz. Die Dame an der Rezeption zeigt mir den Platz, wo ich mein Zelt aufstellen soll. Sie kommt aus dem Büro, ein großer Schäferhund, der unter dem Schreibtisch lag, erhebt sich und läuft hinterher, ein kleiner Junge, der vor dem Haus spielte, lässt sein Auto liegen und kommt ebenfalls hinterher. Die junge Frau dreht die Augen nach oben: „Le chien, les enfants!“ Auch ohne mein Französisch zu strapazieren, weiß ich, was sie meint: Immer wenn ich aufstehe, laufen mir alle hinterher, der Hund genauso wie das Kind! Kurze Zeit später steht das Zelt, ich kaufe mir etwas zum Essen, heute zum Ausgleich einmal etwas weniger, es gibt nur einen Laden in dem kleinen Ort. Meine Frage, ob es etwas in deutscher Sprache zum Lesen gibt, wird mit verwundertem Kopfschütteln quittiert. Dafür sehe ich Ansichtskarten, die das Leben auf dem Land vor langer Zeit zeigen. Die muss ich unbedingt mitnehmen. Ich kaufe gleich drei Stück. Eine zeigt eine Werkstatt mit Haspeln, auf denen Schnüre oder Litzen aufgewickelt sind und uralte Spinnmaschinen, die andere eine Postkutsche, die letzte eine Gruppe Männer, die mit einer Säge aus einem Baumstamm Bretter sägen.

Vorey - Saugues

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
 73 km  13,1 std./km  1.229 km

 Der heutige Start war von einem kargen Frühstück geprägt, nur ein Automatenkaffee und Reste des gestrigen Abendessens. Das Wetter ist zwar kühl, aber ohne Regen. Jetzt endlich zeigt sich die Loire von ihrer schönen Seite, mit einem leichten Rückenwind fliegen die Kilometer nur so vorbei.Le Puy Kathetrale Die Strecke ist auch flacher und besser ausgebaut als gestern. Kurz vor der Mittagszeit fahre ich nach Le Puy hinein. Der Dom ist nicht zu übersehen. Er steht mitten in der Stadt auf einem Hügel, von einer gigantischen Marienstatue überragt. Ich kette mein Fahrrad mit den Gepäcktaschen an das Treppengeländer unterhalb der Kirche und steige die ewig lange Treppe hinauf. Ein kleiner Seiteneingang nimmt mich auf, nach einigen Schritten stehe ich vor dem Hauptaltar, der im Zentrum des kreuzförmigen Doms steht. Der Innenraum ist riesig, nachdem ich einige Minuten herumgeschlendert bin und die Nebenaltäre bestaunt habe, trete ich aus dem Hauptportal in das grelle Sonnenlicht hinaus. Die Stadt breitet sich zu meinen Füßen aus! Unzählige Ziegeldächer in rötlichen oder gelblichen Farbtönen werfen das Sonnenlicht an verwitterte Kamine, lassen auch die kleinsten Winkel hell erscheinen. Ich drehe mich um, über mir wölbt sich die Hauptpforte des Doms nach oben, links und rechts sind von Säulen getragene Gewölbe, die tiefe Nischen bilden. Dort sitzen und liegen einige junge Leute auf Schlafsäcken, essen, rauchen oder unterhalten sich. Die Kathedrale bildet mit den umliegenden Gebäuden ein geschlossenes Ensemble. Man erkennt nicht, wo der Dom aufhört und die Nebengebäude beginnen. Leider wird die Fassade soeben renoviert, mehr als die Hälfte des Doms ist eingerüstet, weshalb der Anblick etwas eingeschränkt ist. Im Lauf der Jahrhunderte – die erste Wallfahrt hierher fand bereits unter Bischof Godescale im Jahr 951 statt – wurden unzählige Gebäude an- und umgebaut. Ein Kreuzgang ist noch erhalten, den Gang in das kleine Museum mit sakralen Kunstgegenständen und Stücken aus der dreihundertjährigen Baugeschichte des Doms kann ich mir sparen, mittags ist es geschlossen. Schade! Ich sehe beim Gang durch die Verbindungsgänge ein modernes Kunstwerk, es sind einige aus Holz geschnitzte Pilger. Dann verlasse ich das Labyrinth und besteige den Hügel hinter dem Dom und erklimme die endlosen Treppen, um zum Fuß der Madonna zu kommen. Von hier aus hat man einen wunderschönen Blick auf die Kathedrale und die Stadt. Spektakulär ist aber die Aussicht in die andere Richtung! Ich schaue von oben auf eine kleine Kirche hinab, die auf einen spitzenLe Puy St.Martin Basaltkegel gesetzt wurde! Es ist die Kirche Saint-Michel d’Aiguilhe, zu der 268 Stufen hinauf führen. Sie vereint arabische, christliche, byzantinische und koptische Einflüsse. Wenn ich mir es richtig überlege, sollte ich diese Kirche auch besichtigen! Nach kurzer Zeit durchquere ich den Dom, um mein Fahrrad zu holen und die Kirche Saint-Michel anzufahren. Aber oh Schreck! Ich habe die Übersicht verloren. Welche Pforte habe ich beim Eintritt benutzt? Ich weiß es nicht mehr. Es gibt zu viele. Ich beschließe, zur Hauptpforte zu gehen, dort die Kirche zu verlassen und links um den Dom herumzugehen. So sollte ich mein Rad wieder finden. Nach nervenaufreibenden zwanzig Minuten sehe ich endlich die Treppe wieder, an der mein Rad angekettet ist, es ist noch alles da! Ich fahre durch die verwinkelten Gässchen von Le Puy und versuche die Richtung zur Kirche auf dem Basaltkegel einzuhalten. Aber leider – nach einiger Zeit merke ich, dass ich bereits in den Außenbezirken der Stadt bin. Umdrehen will ich auch nicht, hoffentlich kann ich noch ein schönes Foto von den angrenzenden Hügeln machen! Aber auch das wird mir verwehrt, es sind zu viele Bäume im Weg, als ich schließlich am Gipfel des Hügels bin, kann ich die Stadt nur noch in der Ferne sehen. In einem kleinen Dorf kehre ich zur Mittagspause ein und zahle für ein ziemlich bescheidenes Menü 80 FF. Der Ort hieß Bains. Ich fahre auf kleinen Straßen weiter, der Verkehr lässt nach, zeitweise bin ich ganz allein auf weiter Flur. Nur das Summen der Insekten begleitet mich, Rapsfelder blühen noch hier oben. Ab und zu fährt man in kleine Täler hinab und durch Wald wieder nach oben. In einer dieser Waldpassagen treffe ich zwei Radtouristen. An den roten Packtaschen erkenne ich: Das müssen Deutsche sein und so ist es auch. Die beiden sind Jurastudenten, kommen aus Tübingen und haben das halbe Frankreich per Rad abgeklappert. Jetzt sind sie auf dem Rückweg nach Lyon. Ich bin froh, jemand getroffen zu haben, der meine Sprache spricht und quassele munter darauf los. Wir vergleichen unsere Ausrüstung, logischerweise haben sie nicht ganz so viel zu schleppen wie ich, sie teilen sich ein Zelt und haben auch sonst wenig dabei. Sie bestaunen meine schwere Spiegelreflexkamera – das ist aber gefährlich! Geht die nicht kaputt? Nachdem sie die ausgeformten Schaumgummiklötze in meiner Fronttasche gesehen haben, sagen sie: „Ja, das ist eine prima Idee!“ Zur damaligen Zeit war ich auch noch überzeugt, dass meiner Kamera nichts passieren wird, inzwischen weiß ich es besser! Nach ein paar Minuten geht uns der Gesprächsstoff aus, wir wünschen uns gegenseitig alles Gute und trennen uns. Schade! Langsam dämmert mir, dass es doch ganz schön anstrengend wird, sich nur mit dem Fahrrad zu unterhalten. Ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich vor mich hin rede. Aber solange das Fahrrad nicht antwortet, ist alles in Ordnung. Eben trete ich eine lange Steigung im kleinsten Gang hinauf, als ich plötzlich von links angesprochen werde! Ich falle vor Schreck fast vom Bock, fasse mich dann aber und sage meinen Zaubersatz: „Je ne parle Francais!“ Der so plötzlich aufgetauchte Radler fährt neben mir her und erklärt mir dann in englischer Sprache, dass er die Beiden aus Tübingen vor einiger Zeit getroffen hat, die ihm sagten, ein Deutscher fährt mit dem Rad in seiner Richtung. Und „eh voila!“ hier bin ich schon. Mein neuer Mitradler fährt mit einem uralten Rad mit einer Dreigang-Kettenschaltung, einem ewig breiten Gepäckträger und einer dicken Tennistasche darauf für sein Gepäck. Kunstvoll hat er die Tasche mit Gummischnüren zur Achse hin abgespannt, damit sie beim Fahren nicht wackelt. Aber dadurch ist er auch so breit wie ein halbes Auto, er fährt deshalb immer etwas weiter links in der Straße. Seiner Meinung nach ist es besser, wenn Autos, die überholen wollen, notfalls abbremsen müssen, um den Gegenverkehr vorbei zu lassen, als sich knapp an ihm vorbei zu drücken. Recht hat er! Manchmal habe ich schon mal den Ellenbogen eingezogen, weil ich dachte, ein Lkw streift mich, so knapp donnern die dicken Brummer vorbei. Jetzt fährt er links neben mir, wir erzählen uns, woher wir kommen und wohin es gehen soll. Reisegefährte PhilipPhilip, so heißt er, kommt aus Ribauld, lebt zurzeit aber in Lyon und fährt zu seiner Freundin nach Auriac. Sie macht dort Ferien und er wollte für seine Kondition etwas tun, fährt deshalb die Strecke mit dem Rad. Mein Englisch ist etwas eingerostet, es dauert, bis wir eine einigermaßen flüssige Unterhaltung zustande bringen. Aber nach einiger Zeit geht es, sein Englisch ist jedenfalls viel besser als meines! „Kein Wunder, ich habe ja auch drei Jahre in England gelebt und gearbeitet!“ Die meiste Mühe hat Philipp mit meinem Vornamen. Lothar, wie spricht man das aus? Was bedeutet es? Ich zucke die Schultern, irgendetwas aus dem Germanischen soll es sein. Aber was heißt „Germane“ auf Englisch? German? Nein, ich muss länger ausholen, versuche es mit „Vergangenheit“ und alten Völkern verständlich zu machen. Am Ende einigen wir uns auf „Luther“, den Namen kennt er, das klingt so ähnlich, und überhaupt, zu was braucht man einen Namen, wenn sich zwei Leute unterhalten? Die Zeit vergeht wie im Flug, schon sind wir am Campingplatz, Philipp hat weder ein Zelt noch einen Schlafsack dabei, er muss sich eine Unterkunft suchen. Nach einigen Worten mit dem Personal des Platzes ist klar, er kann in einem Raum schlafen, eine Matratze liegt dort auch und auch zwei Decken bekommt er. Wir gehen in den Ort, Abendessen kaufen. Philipp erklärt: „Hier ist es zwar billiger, als in St. Etienne oder Le Puy, aber ich gebe nicht mehr Geld aus, als ich unbedingt muss!“ Wir kaufen in einem kleinen Laden ein, tragen unsere Plastiktüten zum Campingplatz. Am Weg kommen wir an einem Pferch vorbei, von hohen Mauern umgeben, wir können von oben hinein schauen. Der Platz ist aufgeweicht vom Regen, Schlamm und Wasserpfützen lassen fast nicht zu, dass man ein trockenes Fleckchen sieht. In diesem Loch haust eine Hündin mit zwei halbwüchsigen Jungen. Mitten im Pferch hängt auf drei Ästen ein Blech, dort ist die Hündin mit einem Strick angebunden. Die Jungen laufen frei herum. Der einzige trockene Platz ist ein Brett, das vor dem Blechdach am Boden liegt, dort liegt die Hundemutter – der Strick an ihrem Hals reicht gerade so weit, dass sie sich quer auf das Brett legen kann, die beiden Jungen drücken sich zitternd an sie und drängen sich auf dem Rest des Brettes. Philipp sagt: „Hier werden berühmte Jagdhunde gezogen, das ist eine ganz besondere Rasse, sehr teuer, wenn man einen Welpen kaufen will, kostet das mehr als 3.000 FF.“ Ich bin konsterniert, wie kann man solch tolle Hunde in einem derartigen Loch halten! Philipp meint: „Ach, das ist ganz in Ordnung, die halten das schon aus!“ Und außerdem ist es ja noch nicht so kalt. Ich muss mir einen Ruck geben, hier im schönen Frankreich ist eben doch manches anders als bei uns. Ich schlucke meine bissigen Bemerkungen hinunter, aber den ganzen Abend gehen mir die armen Tiere nicht aus dem Sinn. Uns selbst geht es heute richtig gut, in dem Raum, den Philipp benutzen darf, stehen Stühle und ein Tisch, sogar Gläser gibt es. Wir speisen mit Besteck und trinken den Wein aus Gläsern! Beim Gang über den Platz zu meinem Zelt merke ich, wir sind doch ziemlich nach oben gekommen, der höchste Punkt, den wir heute passierten, war auf 1164 Meter Meereshöhe. Es wird empfindlich kalt, sobald die Sonne untergegangen ist. Ich ziehe zum ersten Mal meinen Trainingsanzug an, bevor ich in den Schlafsack krieche, trotzdem wird es eine sehr kalte Nacht, ich friere erbärmlich. 

Saugues – Chaudes Augues

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
 76 km  Nicht notiert  1.305 km

Heute Morgen ist der Platz in Nebel gehüllt, trotzdem weht ein kräftiger Wind, es ist sehr kalt. Die Straßen, denen wir folgen, steigen und fallen permanent, kleine Abfahrten, bei denen der kalte Wind einem fast die Ohren abfallen lässt werden gefolgt von knackigen Anstiegen. So geht es den ganzen Tag. Philipp hat Probleme, mit seinen drei Gängen einigermaßen voran zu kommen, wenn ich in einen niedrigen Gang schalten muss, weil die Steigung zu steil wird, ist es für ihn zu langsam. So tritt er weiter, kommt total außer Puste oben an und muss sich verschnaufen. In der Zwischenzeit bin ich auch wieder zu ihm aufgefahren, nun geht es wieder nach unten. Die höchste Stelle ist auf über 1270 Meter, meistens haben wir Rückenwind, das hilft uns sehr. Der Wind ist teilweise bis zu 50 Stundenkilometer schnell, wir lesen bei einer Abfahrt vom Tachometer diese Geschwindigkeit, die Wolkenschatten flitzen mit der gleichen Geschwindigkeit vor uns über die Straße. Langsam bessert sich das Wetter, der Wind lässt nach, die Wolken werden weniger, die Sonne scheint. Wir genießen die angenehmen Temperaturen, legen eine kleine Pause am Wegesrand ein. Ich mache ein Foto von den sonnengelben Feldern, dem bergigen Land, das sich bis zum Horizont zieht. Weit im Norden sehen wir die Vulkankegel um Clermont-Ferrand. Nur das Zirpen der Grillen zerreißt die Stille, einige Minuten lang stehen wir still und lassen die Landschaft auf uns wirken. Hier, mitten im Zentrum von Frankreich, stehen wir auf einer kleinen Landstraße und haben seit einer Viertelstunde kein Auto mehr gehört oder gesehen! Was für ein Unterschied zu Deutschland! „Im Gegensatz zu Euch wohnt die Hälfte der Franzosen in einigen Großstädten wie Paris, Lyon und Marseille.“ Philipp erklärt mir, dass in seinem Heimatland einiges anders ist, als bei uns. Der mittlere Teil Frankreichs, den wir zurzeit durchqueren, war schon immer dünn besiedelt, in diesen Höhen lohnt sich Landwirtschaft nicht mehr, nur Viehzucht bringt etwas ein. Aber auch hier ziehen die jungen Leute fort und verdienen ihr Geld leichter in einer Großstadt, die Alten bleiben zuhause. So stirbt das Land immer mehr aus. Mittags finden wir in einem Ort eine Metzgerei, die gegrilltes Fleisch verkauft, wir leisten uns ein halbes Hähnchen mit Weißbrot und noch einige Leckereien. Philipp kann einen Kneipier dazu überreden, dass wir vor dem Lokal an einem Tisch im Freien unser Hähnchen verspeisen können, natürlich kaufen wir die Getränke bei ihm! Es ist zwar wieder sehr kalt, aber hier ist es trotz Abgasen und Radau ganz nett.

Immer wieder fahren wir durch kleine Orte, die meisten liegen in einem Talkessel. Wenn wir auf der Straße näher kommen, schauen wir meistens von oben in das Tal, der Ort liegt da unten wie Spielzeug ausgebreitet. Die nächste größere Stadt ist Chaudes AuguesChaudes Augues, ein Heilbad, das überwiegend von älteren Menschen bevorzugt wird. Einen Campingplatz finden wir heute nicht, wir versuchen unser Glück bei einigen Häusern am Weg, die „Gites d’Hote“ anbieten, das französische Gegenstück zu unseren guten alten Privatzimmern. Philipp verhandelt eine ganze Zeit lang mit den Leuten, kommt aber immer wieder zurück und sagt: „Zu teuer!“ Langsam werde ich unruhig, bisher musste ich noch nicht im Freien übernachten, sollte es heute so weit sein? Aber noch ist es erst Spätnachmittag, wir werden schon noch etwas finden! Nach einer langen Abfahrt treffen wir in dem Heilbad ein, der Blick auf die Preistafeln der Hotels und Gasthöfe sagt uns, dass hier die Gutbetuchten kuren. Wir sind zu geizig, fahren deshalb am anderen Ortsrand wieder aus der Stadt hinaus, auf die Hochfläche. Dort oben ist eine Feriensiedlung mit Bungalows, vielleicht finden wir dort eine Unterkunft. Und so ist es auch, die Chefin der Siedlung hat Mitleid mit zwei durchfrorenen Radlern und überlässt uns einen Bungalow zum Sonderpreis von 180 FF für eine Nacht. Und um die Güte voll zu machen, gibt sie uns auch noch einige Konserven, die wir in der kleinen Küche zu einem frugalen Abendessen zubereiten. Das Einzige, das fehlt, ist eine Flasche Wein, so trösten wir uns mit Wasser aus der Leitung. Wir sitzen bequem auf einer Couch, langsam tauen sogar die Füße wieder auf. Es wird ein sehr netter Abend.

Chaudes Augues - Conques

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
 107,4 km  18,7 std./km  1.412 km

Wir haben sehr gut geschlafen. Leider gab es kein Frühstück, wir haben gestern alles aufgegessen. Als wir um 8.30 Uhr aufbrechen, ist es derart kalt, dass wir alles anziehen, was wir dabei haben. Leider keine Handschuhe! Aber nach einigen Minuten bergwärts treten wird uns wieder warm, wir müssen die eben angezogene Trainingsjacke (bei mir) bzw. Pullover (bei Philipp) wieder einpacken. Philipp schätzt die Temperatur auf etwa 5° Celsius. Ich halte das für übertrieben, glaube, dass es doch nicht so kalt ist. Immerhin haben wir erst Ende August, Anfang September, also noch mitten im Sommer. Nach einer Stunde Treten kommt die Sonne heraus, am Ortseingang eines kleinen Ortes eine Tankstelle, ein Thermometer an der Preistafel zeigt 6° Celsius an. Bis mein Foto ausgepackt ist, steigt die Zahl auf acht. Immerhin scheint ja jetzt die Sonne! Hier finden wir endlich ein Lokal zum Frühstücken. Das übliche Frühstück in Frankreich ist ein Croissant und ein großer Pott Milchkaffee, also ein Espresso mit einem Schuss normale heiße Milch dazu. Brrr... nicht für mich! Ich nehme zwei Croissants und einen großen Espresso, heißt hier Cafe grande. Aber hier sehe ich, dass auch andere ihr Frühstück anders gestalten. An die Theke tritt ein älterer Mann, verlangt einen kleinen Cafe und einen großen Schnaps, gießt beides hinter die Binde, steigt auf seinen Trecker und geht an die Arbeit.

Heute trennen sich unsere Wege, nach dem Frühstück biegt Philipp nach rechts ab, ich nach links, wir winken uns noch lange zu. Schade, etwas Gesellschaft ist doch sehr nett! Das Auf und Ab von gestern geht heute weiter, am Berg mit dem kleinsten oder zweitkleinsten Gang nach oben, vor mir macht die Straße eine Kurve. Aha, hier ist die Kuppe! Denkste, die Steigung geht hinter der Kurve weiter. Endlich oben, in den größten Gang geschaltet, geht es mit sagenhafter Geschwindigkeit nach unten. Aber nicht lange! Kaum ist die Talsohle erreicht, zurück schalten rack, rack, rack, wieder in den ersten Gang. Der Schwung reicht eben 20 Meter den Gegenhang hinauf, schon ist er verpufft, die Schinderei geht weiter. Aber jetzt: Vor mir ein Schild: 8 km mit 7% Gefälle, da freut sich der Radler. Es geht hinunter in das Tal des Lot. Mein massives Rad liegt selbst voll beladen sicher auf der Straße, kein Flattern oder Schlingern, ich kann es laufen lassen. Bis zu 60 Stundenkilometer schnell brause ich in das Tal hinab. Schneller wird es leider nicht, denn die Gepäcktaschen bieten doch sehr viel Windwiderstand. Ich komme an einem Feld vorbei, der Bauer sitzt oben ohne auf seinem Trecker. Nanu, so warm ist es hier? Tatsächlich, als ich unten in Espalion abbremse, ist es richtig warm geworden. Nicht nur meine Bremsen! Wenn ich mit dem nassen Finger auf die Bremstrommel tippe, dann zischt es. Aber trotz der Belastung, die Bremsen zogen ohne Fading, ich kann mich auf sie verlassen. Meine Jacke wandert für sehr lange Zeit in die Packtasche, an einem Thermometer an einer Tankstelle sehe ich - 22 Grad – richtig angenehm! Mein weiterer Weg führt mich jetzt zwar wieder nach Nordwesten, ein Umweg, ich muss ja nach Südwesten, aber ich folge hier dem Flüsschen Lot, im Tal ist es sehr viel angenehmer zu fahren. In den Gärten links und rechts blüht und grünt es, Sommer- und die ersten Herbstblumen leuchten aus den Beeten. Ich komme an einem kleinen Gebäude vorbei, das sogar zwei Eingänge hat, es ist eine Dorfschule, in der Mitte steht „Mairie“, über den Eingängen links und rechts wahrscheinlich für Jungs und Mädchen – natürlich in französisch, aber das ist nicht mehr lesbar. Der nächste größere Ort ist EstaingEstaing, eine Burg reckt sich trutzig in den blauen Himmel, eine alte, mehrbogige Brücke überquert hier den Fluss. Der ehemalige französische Präsident „Giscard d’Estaing“ soll auf dieser Burg aufgewachsen sein. Mein Mittagessen kaufe ich in einem kleinen Supermarkt, es besteht aus Käsesalat, Birnen, Limo und dem unvermeidbaren Weißbrot. Inzwischen habe ich gelernt, wie ich diese Stangen Brot am besten transportieren kann: Ich klemme sie außen an dem Lowraider mit den Spannriemen fest, so sind sie nicht im Weg und ich vermeide die Brotkrümel in den Taschen. Ich finde einen schönen Parkplatz mit Tisch und Bänken, hier kann man es aushalten! Im nächsten Ort führt die Straße den Berg hinauf, ich folge auf einem winzigen Sträßchen weiter dem Fluss. Mitten im Flussbett liegt ein gewaltiger Stein, bestimmt 3 Meter schaut er aus dem Wasser heraus, obenauf liegt quer ein Baumstamm. Wenn das Wasser den Stamm da oben hin transportiert hat, muss der Pegel aber so hoch gewesen sein, dass der ganze Talgrund überflutet war. Bei allem Nachdenken fällt mir aber keine andere Lösung ein. Vielleicht donnern im Frühjahr bei der Schneeschmelze derartige Wassermassen aus den Pyrenäen herunter? Plötzlich fallen mir am Straßenrand Mülltonnen auf, aber es sind keine Häuser zu sehen. Ich schaue nach oben, die Bäume geben den Blick auf die felsigen Wände des Tales frei. Dort oben sollen Häuser sein? Und jetzt fällt es mir auf: In der Felswand sind Löcher wie Fensterhöhlen. Das müssen Felsenwohnungen sein! Und offensichtlich sind die auch noch bewohnt, sonst würde die Müllabfuhr bestimmt keine Tonnen hier stehen lassen.

Mein heutiges Ziel, die Stadt Conques, rückt näher. Ich verlasse das Tal über eine neueConque Betonbrücke, unten im Fluss paddeln einige Kanuten vorbei. Kurze Zeit später stehe ich vor dem Campingplatz. Er ist unter Bäumen versteckt, vor mir fährt ein großes Wohnmobil in den Platz, vorsichtig schiebt die Beifahrerin die Äste zur Seite, sie zeigt wahrhaftig artistische Leistungen, hängt mit dem halben Körper aus der Fensteröffnung der rechten Tür. Ich selbst habe keine Schwierigkeiten, ein Plätzchen ist schnell gefunden. Der Ort ist noch ein ganzes Stück entfernt, ich klettere über tausend Treppenstufen nach oben und stehe endlich nach einer halben Stunde vor der beeindruckenden Kathedrale von Conques. In meinen „Fliegenden Blättern“ steht:Conque Kathetrale

Kirche (1045-1061): Das Äußere: Mächtige, durch die beiden Zwillingstürme eingefasste Westfassade, wirkt zunächst streng und schmucklos. Tympanon, das zu den größten und schönsten seiner Art zählt. Details: Heilige und Engel zur Rechten und Linken von Christus. Über dem Satteldach des unteren Registers links: Fides vor der Hand Gottes. Engel rechts, auf dem Gewandsaum das arabische Wort alhoum (Glückseligkeit)
Das Innere: Typisch für die großen Pilgerbasiliken: Höhe 22m, besonders betont durch das schmale Langhaus.

Figuren: Jesaja, Johannes der Täufer, Engel Gabriel und Maria in der Verkündigungsgruppe. Kirchenschatz: Pippinschrein (9.-11.Jh), 5-eckiger Schrein (8-13), Reliquiar Karls des Großen in Form eines „A“ (Ende 11.), Laterne des Begon (Ende 11.), Tragaltäre des Begon, goldene Sitzfigur der heiligen Fides (Ende 11.)

Der ganze Ort wirkt auf mich wie ein Museum. Die Häuser sind aus grauen Granitsteinen gebaut, die Dächer mit Steinplatten gedeckt. Um die Kirche herum sehe ich Restaurants und Geschäfte, die „Devotionalien“ verkaufen. Hier könnte ich mich als Jakobspilger mit allem eindecken, was „man“ so mit sich führt. Angefangen mit dem breitkrempigen Hut über die Trinkflasche am Wanderstab bis zur Jakobsmuschel. Ich widerstehe vorerst und betrete die Kirche. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, hier sehe ich zum ersten Mal die typische Pilgerkirche. Unendlich hohe steinerneKathetrale Innenraum Säulen tragen das Dach, das im Halbdunkel verschwindet. Der Innenraum ist schlicht, im Gegensatz zu unseren katholischen Kirchen regelrecht ärmlich. Ein leichter Duft nach Weihrauch hängt in der Luft, ich bin im Moment der einzige Besucher. Ich setze mich in eine Bank, lasse meine Gedanken kreisen. Zwei Treppen führen an den Längswänden nach oben, sind aber nicht zugänglich. Dort oben auf den Emporen über den Seitenschiffen durften im Mittelalter die Pilger übernachten. Tausend Jahre steht diese Kirche bereits, wie viel Elend und Leid wurde vor dem Altar wohl ausgebreitet? Die Zeit vergeht, plötzlich wird das Portal aufgestoßen, eine Gruppe Reisender poltert in die Kirche, die lauten Erklärungen des Reiseführers verjagen mich. Ich schlendere noch etwas im Ort herum. Hinter der Kirche liegen Steine am Boden, die wie die unteren Hälften von Sarkophagen aussehen. Vielleicht war hier einmal ein Friedhof, der aufgelöst wurde, als das Dorf größer wurde. Hat man die Gräber geleert und die schweren Steine nicht abtransportiert? Es nützt nichts, kein Mensch gibt mir Antworten auf die Fragen, die jeden Tag durch das Gehirn schießen. Leider ist mein Französisch so schlecht, dass ich die Antwort des Wirtes, wann es etwas zu Essen gibt, erst im zweiten Anlauf verstehe. Wie soll ich denn da Erklärungen zu Steinen, die wie Sarkophage aussehen, verstehen? Jetzt kann ich wieder am „Gastro-Roulette“ teilnehmen. Meistens kapiere ich nicht, was auf der Speisekarte steht, das kleine Lexikon liegt sicher verwahrt in derTymphanon Packtasche im Zelt. Also, was heißt das jetzt? Egal, ich nehme die Nummer zwei, klingt irgendwie vielversprechend: Saucisses avec purée de pommes de terre. Muss etwas mit Kartoffel sein. Die Augen werden groß, als die Kellnerin das Essen bringt: Heiße Würstchen mit Kartoffelpüree. Es ist essbar, ich bin heute so ausgehungert – eigentlich fast immer – dass ich ALLES essen kann, aber... Da sitze ich in einem Restaurant, das übersetzt „Zum Jakobspilger“ heißt und esse Würstchen. Nichts mit der berühmten französischen Küche. Nun ja, überwiegend selbst schuld. Erstens: Warum habe ich in der Schule nicht besser aufgepasst! Zweitens: Wenn ich schon ein Lexikon mitschleife, sollte ich es auch benutzen! Zum Tagesschluss noch ein kurzes Gespräch mit Zuhause, leider ist die Telefonkarte schon fast verbraucht, Münztelefon gibt es hier nicht, also nur ein kurzes „Mir geht es gut, bin in Conques, und tschüss!“ Der Abstieg ins Tal zum Platz geht in die Beine, heute werde ich gut schlafen!

Conques – St. Gely

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
 123,3 km  18,4 std./km  1.535 km

 Heute ist es ziemlich dunstig, vom Fluss ziehen Nebelschwaden bis hinauf zum Campingplatz. Ich lasse mir Zeit mit dem Packen, es ist jeden Tag die gleiche Prozedur. Alles, was ich herausgezogen habe, muss wieder in die Packtaschen. Zuhause hatte ich alles so schön eingeräumt, dass ich oben sogar noch Platz in den Taschen hatte. Aber jetzt? Es ist ein nerviges Getue, besonders der Schlafsack sträubt sich, wieder in seine Hülle zu rutschen, schimpfend gelingt es schließlich. Das Zelt soll noch etwas abtrocknen, ich gehe vorerst einmal zum Frühstücken. Ich mag immer noch keinen Milchkaffee, aber auch Tee kann ich hier erhalten. Lecker! Einmal wieder an einem Tisch sitzen und mit Komfort essen!

Kurz nach 9.00 Uhr bin ich wieder unterwegs. Die Sonne spitzt durch die Nebelfetzen, ich habeAltar in Figeac einen tollen Blick zurück auf den Lot, dem ich heute den ganzen Tag folgen werde. Um die Mittagszeit komme ich nach Figeac, nur leider finde ich die Kirche nicht, die so toll sein soll! Ich fahre zweimal durch die Altstadt, immer wieder taucht ein Turm auf, aber die Verkehrsführung bringt mich immer wieder weg von der Kirche. Ich müsste absteigen und schieben, aber mit über 20 kg Gepäck? Vergesst die Kirche! So schön kann die nicht sein (Ist sie schon – zwei Jahre später habe ich sie besichtigt, aber das ist eine andere Geschichte). Soll ich jetzt wieder nach unten fahren, zum Lot? Ich vertiefe mich in meine Landkarte: Wenn ich diesem kleinen Flüsschen folge, komme ich auch wieder zum großen Fluss und muss nicht mehr zurück und nach unten. Das kleine Flüsschen ist die „Celé“, ein wunderschönes Tal mit einer winzigen Straße nimmt mich auf. Nach einer Stunde komme ich an einem pittoresken Ort vorbei, die Tafel am Straßenrand weist auf eine Abtei hin, ich mache einen kleinen Abstecher. Leider ist die kleine Kirche mit ihrem schiefen Turm abgeschlossen, ich kann nur den Friedhof besichtigen. Nebenan ist ein Hinweis: „Gites d’hote“ Nanu? Privatzimmer? Ja, aber von der besonderen Art, hier kann der müde Wanderer in einer Art Jugendherberge, die nicht bewirtschaftet wird, unterkommen. Ich riskiere ein, zwei Blicke durch die geöffnete Tür: Ein alter Herd, einige Töpfe, Wasserhahn, Toilette nebenan, oben im ersten Stock ist scheinbar der Schlafraum. Wer hier als Wanderer oder Radfahrer ankommt, kann den Schlüssel nebenan bei Madame Prisou abholen. Interessant! Aber jetzt ist ebenKathetrale Figeac Glasfenster Mittag vorbei, ich will noch weiter. Endlich mündet das Flüsschen wieder in den Lot. Ich bin wieder im richtigen Tal. In einem kleinen Ort hole ich mir etwas zu trinken. Vor mir stehen zwei Leute an der Kasse und unterhalten sich. Deutsche! Ich gebe mich als Landsmann zu erkennen. Ein Hallo! „Wo kommen Sie denn her? Aus Nürnberg? Na, so ein Zufall, wir sind aus Pegnitz!“ Der Ort liegt etwa 50 km von meiner Heimat entfernt. Als sie mein Fahrrad sehen, wollen sie mir nicht glauben, dass ich von zuhause aus losfuhr. Einer der Männer hebt probeweise das Rad an: „Und ich dachte, das ist leicht!“ Sie erzählen mir, dass sie vom Atlantik aus denIm Celetal Lot mit einem Hausboot befahren. Hier ist der Verfallenes KlosterWendepunkt, sie müssen wieder umdrehen, weiter ist der Lot nicht schiffbar – zumindest nicht für Hausboote. „Viel Glück und immer genug Wasser unterm Kiel!“ wünsche ich ihnen und fahre weiter. Heute zieht sich mein Tagespensum enorm, durch die vielen Windungen der Täler komme ich kaum vorwärts, immer wieder schlängelt sich mein Weg nach links und rechts, teilweise habe ich das Gefühl, rückwärts zu fahren. Aber das Wetter ist schön, und außerdem, was hätte ich denn für eine Alternative? Über die Hochfläche fahren? Dauernd auf den Hauptstraßen den Lastwagen ausweichen? Nein, lieber ein paar Kilometer weiter, aber dafür einer fast idealen Radroute folgen! Endlich kommt der Campingplatz in Sicht. Es ist bereits nach 19.00 Uhr, an der Rezeption niemand mehr da, alles abgeschlossen. Nun ja, dann werde ich eben morgen bezahlen. Schnell ist das Zelt aufgebaut, heute gibt es nur noch kaltes Essen. Wäsche waschen fällt auch aus, wird auf morgen verschoben. Ein paar Meter weiter sitzen drei Männer auf einer Bank, haben einen Kocher zwischen sich und kochen Tee. So ein Schluck heißer Tee wäre nicht schlecht! Ich pirsche mich langsam näher, aber leider ist das kein Tee, sondern Suppe, welches die Drei da kochen. Zu meiner Freude sind die Männer aus Deutschland, wir kommen schnell ins Gespräch. „Wo kommen Sie her?“ „Aus Nürnberg. Und woher kommen Sie?“ „Wir kommen aus Göttingen und Berlin, wir machen einmal im Jahr eine Radtour. Heuer sind wir mit dem Bus nach Lyon gefahren, jetzt sind wir bereits wieder auf dem Heimweg, wir fahren noch bis Perpignan, von dort wieder mit dem Bus zurück.“ Als ich meine Horrorgeschichte vom Radfahren in Lyon erzähle, lachen die Herren herzhaft: „Für uns war das kein Problem, es war praktisch kein Verkehr in der Stadt, erst in den Außenbezirken war etwas Betrieb.“ Meine dreiundzwanzig Fragezeichen auf der Stirn werden schnell weniger. „Wir sind nachts um halb drei dort angekommen, da war natürlich nichts los!“ Ach so! Na dann! Es wird ein langer Abend, wir machen zusammen ein paar Flaschen Wein leer und quatschen, bis einige Nachbarn am Zeltplatz demonstrativ ihr Licht ausschalten und laut „Bonne nuit!“ sagen.

St. Gely - Moissac

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
 83,5 km  17,0 std./km  1.619 km

Es ist ein wunderschöner, strahlender Morgen, nur wir strahlen nicht. Erst nachdem ich mich verabschiedet habe, in einer kleinen Bar ein Frühstück erhalten habe, natürlich Cafe und Croissants, kehren die Lebensgeister langsam zurück. Ich schwitze den Alkohol von gestern wieder aus. Der nächste größere Ort ist Cahors. Der Dom soll nach dem Petersdom die höchste Kuppel der Welt haben. Vielleicht stimmt es, aber mein Empfinden sagt mir, dass die Kuppel der Kathedrale inMarkt in Cahors Florenz höher ist. Möglicherweise täusche ich mich auch, denn auf die Kuppel in Florenz sind wir hinauf gestiegen, meine Beine protestierten ganz schön, das weiß ich noch ganz genau. Hier blicke ich nur nach oben. Trotzdem, sehr schön, aber etwas dunkel. Ich gehe wieder in den blendenden Sonnenschein hinaus. Heute ist Markttag in Cahors, ich schlendere über den Markt, kaufe etwas Obst und einige Lebensmittel. Es ist toll, was es hier alles gibt! Sogar lebende Wachteln sehe ich an einem Stand. Die Gänse, Enten, Hühner, Fasane usw. sind nicht geschlachtet, sondern stehen lebend in Körben unter den Theken. Wenn eine Hausfrau ein Tier kauft, fischt der Händler mit blitzschnellen Bewegungen das gewünschte Tier aus dem Korb – der natürlich einen Deckel hat – bindet dem Tier die Flügel und die Beine zusammen, hängt es an eine Waage und reicht es der Käuferin. Die steckt das lebende Tier in eine Tasche oder einen Korb und kauft in aller Seelenruhe weiter ein. Inzwischen schreit sich das arme Vieh die Kehle aus dem Hals. Aber keine Menschenseele kümmert sich darum. Ich mache ein Foto, hier könnte ich einen ganzen Film verknipsen, später bereue ich, dass ich es nicht getan habe. Denn so einen bunten Markt habe ich auf meiner Reise nicht mehr gesehen.

Heute ist Waschtag, einen Waschsalon habe ich schnell gefunden. Nur noch ein Problem: Woher das Kleingeld nehmen? Etwas ratlos stehe ich vor dem Schaufenster, eine ältere Dame sagt einige Worte zu mir. Wie bitte? Plötzlich die Frage: „Sind Sie Deutscher?“ Verdutzt bejahe ich. In perfektem Deutsch fragt mich die Dame: „Sie haben wohl kein Kleingeld? Warten Sie, ich wohne hier gleich nebenan, zuhause habe ich etwas Kleingeld.“ Immer noch staunend folge ich der Dame in eine kleine Wohnung. Sie gibt mir Münzen für einen 10 Franc Schein, das reicht locker für die Wäsche und das Trocknen. Ich kann mich nun doch nicht mehr zurückhalte und frage, woher sie denn so gut deutsch spricht. „Ich komme aus dem Sudetenland, bin dort aufgewachsen. Natürlich haben wir zuhause deutsch gesprochen. Nach dem Krieg bin ich weg und nach Frankreich gegangen, ich wollte unter den Kommunisten dort nicht leben! Hier habe ich meinen Mann kennen gelernt, der ist aber leider vor einigen Jahren gestorben. So habe ich nur noch eine Schwester, die lebt aber noch in Deutschland, ich habe sie seit 20 Jahren nicht mehr gesehen!“ „Und wo wohnt Ihre Schwester jetzt?“ „In Nürnberg, gleich hinterm Bahnhof wohnt sie.“ Mir bleibt vor Staunen der Mund offen stehen: „In Nürnberg? Ich komme auch aus Nürnberg!“ Jetzt staunt sie ebenfalls, wir lachen beide über solch einen Zufall. Ich kann sie ja einmal von ihrer Schwester grüßen, wenn ich wieder zurück bin. Lachend verspreche ich es.

Neben dem Dom hat Cahors noch eine andere Sehenswürdigkeit, es ist die alte BrückeBrücke in Cahors über den Fluss. Die beiden Türme an den Enden waren während des Mittelalters durch Truppen besetzt, die Reisende anhielten und so nach Feinden spähten. Ich mache noch ein paar Aufnahmen. Auf einmal kommt ein Radler auf mich zu und fragt: „Soll ich Sie vor der Brücke aufnehmen?“ Nein danke, denn vor der Kamera komme ich mir immer blöd vor. Ich bin lieber dahinter. Aber so kommen wir ins Gespräch, mein Gegenüber ist ein Deutscher, der vor über 30 Jahren in die USA auswanderte und mit seinem Freund jetzt den Jakobsweg befährt. Beide haben Rennräder mit wenig Gepäck, sie übernachten immer in Hotels oder Gasthöfen und kommen flott voran. Mindestens 120 km am Tag müssen es schon sein, meint mein Gesprächspartner, ihre Zeit ist knapp. Ich versuche, einige Kilometer mit ihnen mitzuhalten, aber am ersten Berg sind sie weg. Das waren die ersten Jakobspilger, die ich auf meinem Weg traf! 

Am Spätnachmittag erreiche ich Moissac. Der Campingplatz auf einer Insel im Fluss ist Spitze, ich will aber noch den Kreuzgang und die Kirche ansehen, deshalb zu Fuß in die Stadt, es ist nicht weit. Leider ist der Kreuzgang nur bis 18.00 Uhr geöffnet, das muss ich also morgen nachholen. Pizzerias gibt es hier auch, ich kann günstig essen, ich muss mein Geld etwas zusammen halten. Satt und zufrieden sitze ich dann vor meinem Zelt, leise summend umkreisen mich Stechmücken, das Klatschen, mit dem ich sie erschlage, hallt laut über den Platz, andere Klatschgeräusche dringen durch die Stille. Die anderen Camper sitzen auch draußen! Der Canal de Midi, der an Moissac vorbei führt, ist wie ausgestorben, kein Schiff oder Boot zu sehen.

Moissac - Condome

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
 87,4 km  14,9 std./km  1.707 km

Der erste Eindruck des Kreuzganges ist überwältigend. Man kommt – natürlich nachKreuzgang Moissac dem man den Eintritt gezahlt hat – durch eine breite Tür aus der Finsternis des Vorraumes in den Innenhof des ehemaligen Klosters. Das Gegenlicht bringt die Säulen zum Leuchten. Ich sitze mindestens 10 Minuten auf einer kleinen Bank in der Ecke und lasse den Eindruck auf mich wirken. Ich bin so dankbar, dass ich gestern zu spät dran war. Das Licht, die tiefstehende Morgensonne und die Säulen im Gegenlicht! Einfach traumhaft! Langsam schlendere ich durch den Kreuzgang, studiere die Kapitelle, die auch heute noch nach so vielen Jahren winzige Details zeigen. Jede Säule ist anders, die 4 Ecksäulen sind figürlichKapitell im Kreuzgang Moissac ausgearbeitet, sie zeigen Propheten des alten Testaments. Ich kann zwar die Schrift nicht entziffern, aber das Bild von Moses ist nicht zu verwechseln. Die Strahlen am Kopf, wie an den Statuen von Michelangelo. Erst nach einer guten Stunde geht es weiter. Das Wetter ist richtig heiß, keine Wolke am Himmel, kaum Wind, ich muss trinken ohne Unterlass, zuerst Grapefruitsaft, als mir dieser zu bitter wird, Apfelsaft, insgesamt 2 Liter. Ich hätte besser mehr Wasser und weniger Saft trinken sollen, meine Innereien rebellieren, alle paar Minuten muss ich hinter einige Büsche, es stehen netterweise auch noch Maisfelder, in denen ich Deckung suchen kann. Ich habeStrasse ohne Ende übrigens die Boys aus USA heute morgen noch einmal in der Stadt getroffen, so schnell waren sie offensichtlich doch nicht unterwegs! Oder lag es an meiner Wegeplanung? Sie erzählen, dass sie gestern weit über 100 km gefahren sind. Bei mir war es wesentlich weniger. Wahrscheinlich gehen wir von verschiedenen Startpunkten aus. Jetzt jedenfalls sind sie weg und ich treffe sie nicht mehr. Mittags frischt der Wind auf, er bläst mir voll entgegen. Die Landschaft wird hügelig, ich bin den Pyrenäen und ihren Vorbergen schon nahe gekommen. Die Straßen sind nun recht gerade, man sieht also, wo es hingeht, den einen Hügel runter, den nächsten wieder hinauf. Als ich am Abend zusammenrechne, habe ich laut meiner Planung rund 83 km gefahren, es sollten aber nur 65 sein. Irgendwo hat sich wieder ein Umweg eingeschlichen.

Condome - Hagetmau

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
 106,7 km  16,8 std./km  1.813 km

Morgens bei Hochnebel vom Platz gefahren, mittags löst er sich auf, es wird wieder sehr warm. Ein sogenannter 3-Liter-Tag. Hügel folgt auf Hügel, ein stetiges Auf und Ab. Bei der Vorbereitung war schon klar, in dieser Gegend wird es hart. Die Täler streben weg von den Bergen nach Norden, ich muss aber noch weiter nach Westen, also muss ich die Täler queren. Das ganze Jammern nützt nichts, sing ich eben noch ein paar Mal mein Lied „Je ne regrette“, schließlich bin ich selbst schuld! In der Nähe von Aire sur l’adoure sehe ich zum ersten Mal hier in Frankreich den Hinweis auf den Jakobsweg. Der Weg zweigt rechts von der Straße ab, ist mit dem Symbol markiert und verschwindet hinter dem nächsten Hügel. Kein Weg zum Radfahren! Nur Geröll und dicke Steine. In der Stadt, die ich eben durchquerte, sah ich einen Touristen mit Rucksack, leider konnte ich ihm nur ein „Bon jour“ zurufen, ich hätte ihn gerne nach dem Woher und Wohin gefragt. Aber er bog eben ab und ich konnte die Hauptstraße nicht überqueren. Der Mittelstreifen war im Weg. Jetzt fahre ich auf Hagetmau zu, sehe erst jetzt, dass der Ort ein Kurort ist, hätte ich das vorher gewusst, wäre ich anders gefahren. Aber nun ist es zu spät, ob ich will oder nicht, hier muss ich übernachten. Im Ort ist ein Zirkus zu Gast, außerdem ist es Freitag Abend. Da wird einiges los sein! Endlich finde ich den Campingplatz. Nanu? Schranke unten, kein Mensch zu sehen? So spät ist es noch nicht, aber möglicherweise hat der Platz bereits geschlossen? Ich sehe kein Zelt, keinen Wohnwagen, nichts. Die Preistafel verkündet, dass die Übernachtung 80 FF kosten soll, egal, mit wasBerg und Tal man übernachtet. Die Plätze sind wie vierblätterige Kleeblätter angelegt, in der Mitte steht jeweils ein kleines Sanitärgebäude, hat für jede Seite separate Zugänge und Waschplätze. Leider alles abgesperrt. Ich traue mich nicht, sozusagen „schwarz“ zu campen. Wenn einer in der Nacht kommt und mir eine überbrät, ist es zu spät für die Vorsicht. Also schauen wir einmal nach einem Zimmer. Natürlich sind alle preiswerten Häuser ausgebucht, ein Kongress ist in der Stadt, aber das teuerste Haus am Platz hat noch ein Zimmer frei, ich zahle 240 FF und genieße den Luxus einer heißen Dusche in einem gekachelten Bad und den Schlaf im schönen weichen Bett. Vorher aber, um die Verschwendung voll zu machen, ein Menü im Restaurant, erstklassig, aber auch vom Preis her! Am Abend hatte ich noch versucht, meine liebe Frau am Telefon zu erreichen, aber leider war sie nicht da, sehr schade. Ich hatte mich so auf das Gespräch gefreut.

Hagetmau – St.Jean Pied de Port

Tagesetappe Durchschnitt Kumulierte Strecke
 93,6 km  16,2 std./km  1.907 km

 Schon wieder Nebel, er löst sich gegen 11.00 Uhr auf, dann wird es heiß, sehr heiß. Ein leichterJakobsweg Rückenwind hilft beim Vorwärtskommen, leider fährt man da zeitweise in der eigenen Wolke. Immer noch ein stetiges Auf und Ab, es wird wieder ein 3-Liter-Tag. Meine Schaltung macht Probleme, das ständige Rauf und Runter zwingt dazu, auch die Gänge ständig zu wechseln. Im Moment kann ich nicht mehr auf die höchsten und niedrigsten Gänge schalten, ich behelfe mich damit, dass ich mehr mit dem vorderen Kettenblatt schalte. Diese Schaltung geht noch. Heute Abend werde ich das Fahrrad abschmieren, Öl habe ich ja dank dem netten Mechaniker in St. Etienne dabei. Mittags habe ich es eben noch geschafft, in einen Supermarkt „Hinein zu rutschen“, im letzten Moment, die Dame wollte schon die Tür abschließen. So geht es mir häufig. Vor 12 Uhr will ich noch nichts kaufen, sonst fahre ich das Zeug zu lange in der Hitze spazieren, wenn ich dann anfange, nach einem Laden auszuschauen, fahre ich oft durch kleine und kleinste Dörfer, wo es so etwas nicht gibt. Aber meistens klappt es ja noch, so wie heute. Mit hängender Zunge komme ich auf dem Platz in St. Jean an, das letzte Stück war wirklich hart. Heiß und das ständige hinauf- und herunterfahren haben mich gefordert. Die Getränke sind mir ausgegangen, keine Geschäfte gefunden, kein Brunnen, also Durst leiden. Mir kommt dabei ein Radtour in den Sinn, wir fuhren an einem ebenso heißen Tag von Nürnberg nach Bamberg, der Weg am neuen Kanal entlang war neu mit Schotter gestreut, wir waren kurz vor dem Verdursten in Bamberg angekommen, an einer Tankstelle zogen wir eine Dose Limonade aus der Kühltruhe, zu unserem Schrecken war sie warm. Vom Tankwart kam der kurze Satz: „Unsere Kühltruhe ist kaputt!“ Also haben wir das warme Limo zu dritt getrunken. Es war nur ein Schluck für jeden, denn das Meiste spritzte beim Öffnen in die Gegend.

Aber jetzt ist das Zelt aufgebaut, die abendliche Dusche vorbei, etwas Wäsche gewaschen, derBrücke in St. Jean Durst mit Wasser aus der Leitung gestillt. Nun brauche ich nur noch etwas zum Essen. Neben mir, etwa 50 Meter entfernt, hat ein junger Mann mit Rucksack sein Zelt aufgebaut. Ich gehe einige Male vorbei, grüße freundlich, aber keine Reaktion. Ich denke, das muss ein Jakobspilger sein. Aber wenn die alle so sind, na, dann Gute Nacht. Ich mache mich auf den Weg in die Stadt, es ist ziemlich weit, Hin- und Rückweg zusammen über eine Stunde, aber mir tut das Laufen gut. Wenn nur die Schmerzen an den Zehen nicht wären! Meine Radschuhe sind entweder geschrumpft, oder meine Füße gewachsen. Jetzt, mit den leichten Sportschuhen, kann ich ohne Schmerzen laufen. Ich erreiche St. Jean, es scheint so eine Art Oberstdorf für Franzosen zu sein, ein Geschäft für Andenken neben dem anderen. In den Auslagen sehe ich wüste Sachen! Nichts geschmackvolles, wirklich nur Tand. Ganz versteckt ein kleiner Markt, der sich aber nach dem Eintreten überraschend groß zeigt. Er geht durch den ganzen Häuserblock hindurch bis zur nächsten Querstraße. Endlich was zu essen und zu trinken. Ich kaufe reichlich ein, denn morgen geht es in die Berge, wer weiß, wo ich da wieder etwas finde. Auf dem Rückweg zieht mir die Plastiktüte den Arm lang, nach ein paar hundert Metern wird es mir fast zu viel. Wäre ich doch mit dem Rad gefahren! Um mich abzulenken, studiere ich die Hänge der Pyrenäen. Hier beginnen sie, die Berge! Ich sehe von hier aus, dass die Baumgrenze nicht allzu weit oben beginnt, darüber nur kahle Hänge, keine Felsen, alles Wiese wie im Allgäu. Wenn ich Glück habe, ist morgen früh wieder Nebel, dann wird es nicht so heiß auf dem Weg nach oben. Ich habe einen Mordsrespekt vor dem Pass, in meiner Zettelsammlung steht:

„Dieser Berg ist so hoch, dass er den Himmel zu berühren scheint; wer ihn besteigt, glaubt mit eigener Hand an den Himmel reichen zu können. Vom Gipfel kann man das Meer der Bretagne und des Westens sehen und auch die drei Länder Kastilien, Aragonien und Frankreich. Der Ort auf der Spitze wird »Karlskreuz« genannt, weil dort Karl der Große, als er mit seinem Heer nach Spanien zog, einen Pfad mit Beilen, Äxten und Hacken bahnte, ein Kreuzzeichen aufstellte, dann das Knie beugte und nach Galicien gewandt Gott und den hl. Jakobus in einem Bittgebet anrief. Deshalb pflegen die Pilger hier niederzuknien, mit Blick auf das Land des hl. Jakobus zu beten und ein Kreuz wie ein Feldzeichen aufzustellen.“

Außerdem weiß ich aus der Literatur, dass alle Fußpilger diesen Abschnitt als „furchtbar anstrengend“ bezeichnen. Es nützt nichts, ich muss da drüber! Ob ich jetzt Angst habe oder nicht, wenn ich die Steigung nicht mehr treten kann, muss ich eben schieben.

Kleines Zwischenspiel: Hunde

Soeben komme ich an einem Hund vorbei. Ausdauernd werde ich verbellt, ich bin derHunde Liebling aller Hunde, aber wenn ich nicht reagiere, sondern einfach weitergehe, stellen sie schnell ihr Gebelle ein und schauen schwanzwedelnd hinter dem Fremden her. Mir fiel bisher auf, dass in der Schweiz die Schäferhunde richtig „viereckig“ waren, d.h. kein abfallender Rücken wie bei uns. In Frankreich, in der Rhonegegend, gab es viele Jagdhundarten, groß, hell und gefleckt, ähnlich unserem Münsterländer. Hinter St.Etienne, in den Bergen des mittleren Frankreichs, waren die Hunde kleiner, wuschelig, meistens apricot-farben. Vom Aussehen her mit langen Schlappohren und der kurzen Schnauze wie der Glückdrache Fuchur aus dem Film „Die unendliche Geschichte“. Es sind sehr schöne Tiere, offensichtlich hellwach und intelligent. In der Nähe des Lot, also um Moissac herum, sehen die Hunde mehr wie Rottweiler aus, aber bei weitem nicht so massig. Und noch eine Besonderheit: An den Hinterläufen haben die Tiere zwei Daumenkrallen, eine davon steht wie eine Sense nach innen. Ich habe das bei einigen Hunden gesehen, die einige 50 km auseinander waren, es war also nicht nur eine zufällige Missbildung.

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