Kirchenmusik in Benediktbeuern

Kurze Geschichte der Katholischen Kirchenmusik

Generelle Probleme mit Musik zu liturgischen Anlässen

Die für die Gestaltung der Messe nach römisch-katholischem Ritus geschriebene Musik ist wohl einer der reichsten Zweige abendländischer Musik. Im engeren Sinne ist Kirchenmusik eine Musik, die für den Kirchenraum, für einen liturgischen Anlaß geschrieben wurde; sie unterscheidet sich somit von der sie einschließenden geistlichen Musik, die zwar auch in der Kirche zu liturgischen und außerliturgischen Anlässen aufgeführt werden kann, den Kirchenraum aber nicht notwendigerweise benötigt.

Exkurs: Struktur und Entwicklung der Messe

Bei der Kirchenmusik der frühen Christen herrschte in den grundsätzlich einstimmigen Gesängen zunächst das Griechische als Kultsprache vor. Erst im 4. Jahrhundert setzte sich im weströmischen Reich Latein durch. Die Verwendung von Musikinstrumenten war im Gottesdienst ursprünglich verboten, um sich von heidnischen Kulten und auch vom jüdischen Tempeldienst abzugrenzen, zumindest war das die Vorgabe des Kirchenvaters Hieronymus und des Bischofs von Cesarea, Eusebios (Ende 3. Jh.). Andererseits gestatteten andere Kirchenvertreter wie Clemens von Alexandria die Verwendung der Harfe oder Khitara, da König David ein derartiges Instrument zum Lobe Gottes benutzt hatte. Andere Instrumente lehnte allerdings auch er ab. Die Heftigkeit der Ablehnung von Instrumenten im Gottesdienst durch hohe Geistliche läßt jedoch vermuten, daß dieser zumindest in den ersten Jahrhunderten eine entsprechend häufige Verwendung zugrunde lag. Ganz generell war die Art und Weise der musikalischen Gestaltung von liturgischen Handlungen nicht unumstritten. Noch im 10. Jahrhundert vertrat Agobard von Lyon (um 769-840) im Liber de Correctione Antiphonarii die Ansicht:

"Niemand möge sich anmaßen, die Melodien von Responsiorien und Antiphonen mit willkürlich dazu gesetzten Texten, die nicht dem Kanon der hl. Schrift entnommen sind, in unserer Kirche zu singen, ja nicht einmal eine solche Möglichkeit in Erwägung zu ziehen oder die Sprache darauf zu bringen"

Der Reichenauer Abt Walahfrid Strabo (808/809-849) entgegnete hierauf in der Schrift De exordiis et incrementis rerum ecclesiasticum:

"Von einigen werden die Hymnen, die bekanntlich zur Verherrlichung Gottes und der Siege der Apostel und Märtyrer gedichtet worden sind [...] deswegen verworfen, weil sie nicht im Kanon der Bibel enthalten sind und auch nicht auf apostolische Tradition zurückgehen; damit verwerfen sie aber auch jenen von Menschen gedichteten Hymnus, den wir täglich ... am Schluß jedes Psalmes singen »Gloria et honor Patri et Filio et Spiritui sancto in saecula saeculorum, amen«..."

Es sei an dieser Stelle angemerkt, daß die Ordinariumstexte alle nicht biblischen Ursprungs sind. Und Augustinus schrieb sechs Jahrhunderte früher zum Thema Musik im Gottesdienst in seinen Confessiones (Bekenntnisse):

"[...]So schwanke ich hin und her zwischen der Gefahr der Ohrenlust und dem Erlebnis heilsamer Wirkung, und neige mehr der, freilich nicht unwiderruflichen Ansicht zu, den üblichen Kirchengesang zu billigen; denn ein wenig kraftvoller Geist könnte doch durch die Freude des Ohres zu frommen Gefühlen entflammt werden."

Eine der Ursachen für diesen Konflikt ist die Tatsache, daß Musik zu liturgischen Anlässen unabhängig von ihrem eigentlichen Zweck, die Andacht zu fördern (so Augustinus), objektiv durchaus auch als autonomes Kunstwerk wahrnehmbar sein kann, ein Umstand, der in diesem Kontext nicht unproblematisch ist. Augustinus hat sich daher intensiv und differenziert mit der Rolle der Musik im Gottesdienst auseinandergesetzt. In vielen seiner Schriften finden sich entsprechende Aussagen. Aus seiner Feder stammt sogar ein in enzyklopädischer Breite angelegtes musiktheoretisches Werk mit dem Titel "De Musica" (von der Musik), von dem sechs Bücher über die Metrik vollendet wurden. Wegen seiner zunehmenden kirchlichen Aufgaben konnte er weitere sechs geplante Bücher über das Melos nicht fertigstellen. Seine Autorität hat maßgeblich mit dazu beigetragen, daß die Musik bis heute einen festen Platz in der Gestaltung der Messe besitzt. Insgesamt lag die Kirchenmusik stets im Spannungsfeld zwischen jenen, die zur feierlichen Gestaltung der Liturgie möglichst den kompletten zur Verfügung stehenden musikalischen Apparat aufgeboten sehen wollten, und jenen, die allenfalls noch einfachen einstimmigen Gesang zulassen wollten. Die Ursache für derartige Auseinandersetzungen beruht auf der unterschiedlichen Wichtung von Ratio und Emotion innerhalb der Religion, von Logos und Mystik. Diese Spaltung, verlief stets durchaus auch innerhalb des Klerus, und somit ist die gesamte Geschichte der Kirchenmusik geprägt von dem wechselweisen Übergewicht der einen oder anderen Fraktion. (Eine ähnliche Auseinandersetzung, ob und in welcher Form Musik im religiösen Kontext Verwendung finden darf, gab und gibt es übrigens auch im Islam.) Im Großen und Ganzen hat die Kirche jedoch die Kirchenmusik in ihrer jeweils zeittypischen künstlerischen Ausprägung stets gefördert, zumindest aber geduldet. Beschränkungen im eigentlichen Sinn wurden in ihrer zweitausendjährigen Geschichte nur bei vier Gelegenheiten ausgesprochen: 1324 mit der Encyclica "Docta sanctorum Patrum", 1562 zum Konzil von Trient, 1749 mit der Enzyclica "Annus qui" und 1903 im Motu proprio "Tra le Sollecetudini" (genaueres wird jeweils weiter unten ausgeführt). Dabei fällt auf, daß diese Reglementierungen jeweils in Zeiten fielen, in denen sich die Kirche selbst in der Krise befand: im 14. Jahrhundert der Beginn des "Französischen Exils" mit Papst Johannes XXII., die Konfrontation mit der Reformation zum Konzil von Trient im 16. Jh., die Auseinandersetzung mit Aufklärung und Rationalismus im 18. Jahrhundert und die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft und die schwindende Bedeutung der Kirche zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Man kann in diesen Fällen die gleichen Tendenzen zum Fundamentalismus beobachten, die stets auftreten, wenn sich eine Gesellschaft oder eine Organisation in einer intern oder extern ausgelösten Krise des eigenen Selbstverständnisses befindet.

Interessanterweise hat sich während des ersten Jahrtausends der katholischen Kirche trotz der offensichtlich sehr unterschiedlichen Auffassungen über die Art und Zulässigkeit von Musik zur Gottesdienstgestaltung kein einziges Konzil mit diesem Thema befaßt: Anscheinend wurden Fragen dogmatischer Art als dringlicher angesehen. Erst im Umfeld der Konzile von Lyon (2. Konzil von Lyon, 1274) und Vienne (1311-1313) entstanden entsprechende Dekrete, jedoch auch da nicht auf dem Konzil selbst, und erst das Konzil von Siena (1423-1424) machte direkte Aussagen zur Musik in der Kirche (nicht: Kirchenmusik!).

Frühchristliche Kirchenmusik

Die frühchristliche Musik ist, abgesehen von wenigen Überresten, bis weit in das erste Jahrtausend hinein nur in literarischen Zeugnissen belegt. Das einzige überlieferte Fragment und das früheste Beispiel überhaupt ist ein griechischer Trinitätshymnus, der sich auf der Rückseite einer Getreiderechnung aus dem Ende des 3. Jahrhunderts erhalten hat. Er wurde in Oxyrhynchos gefunden, einer Grabungsstätte in Ägypten, die ca. 300 km südlich von Alexandria am Bahr Yusuf liegt und in hellenistischer Zeit ein bedeutendes Kultur- und Wirtschaftszentrum darstellte. In den Abfallgruben dieser antiken Stadt fand man in den Jahren nach 1897 große Mengen an "Altpapier", insgesamt über 50000 Alltagsdokumente, die heute als "Papyri Oxyrhynchos" bzw. "POxy" bekannt sind. Der oben erwähnte Hymnus trägt die Bezeichnung POxy 1786. Da er eine Art "Notation" enthält, ist er heute rekonstruiert. Die Melodie kann man sich hier anhören

Ansonsten liegen die eigentlichen Anfänge der Kirchenmusik im Dunkel. Bis in das 4. Jh. existieren so gut wie keine diesbezüglichen Quellen. Für ihre Ursprünge gibt es zwei unterschiedliche Hypothesen, die sich infolge der prekären Quellenlage aber beide nicht direkt beweisen lassen. Die eine führt die gesamte frühchristliche Musik auf die Gesänge des östlichen Mittelmeerraumes zurück - auf die hebräischen, die armenischen, die syrischen - und letztlich auch auf die kultisch Musikpraxis des antiken Judentums. Die andere Hypothese sucht die Anfänge der Kirchenmusik vor allem in der spätantiken hellenistischen Musik.

Für beide Ansätze lassen sich Argumente finden: Das gesamte Mittelalter über war die antike griechische Musiktheorie verbindlich, mit der Verwendung pythagoräischer Intervallschritte und "Kirchentönen" (besser: Modi), wie sie von Boethius (*um 480/485; †zwischen 524 und 526) in seiner Schrift De institutione musica vermittelt worden waren. Dieses Werk war das wichtigste musiktheoretische Traktat des Mittelalters, auch wenn bereits Guido von Arrezo (*um 992; †1050) bemerkte, daß es wegen seines spekulativen Charakters eher für Philosophen tauge, als für Sänger.

Auf der anderen Seite ist von Bedeutung, daß die christliche Eucharistiefeier letztlich auf das jüdische Pessachfest zurückzuführen ist: Das "Letzte Abendmahl", das Jesus mit seinen Jüngern feierte, und an das die Messe erinnern soll, war die Feier eben dieses Pessachfestes. Zu diesem Anlaß war (und ist) es jedoch üblich, die Psalmen des sog. "ägyptischen Hallel" zu singen: Psalm 113 und evtl. 114 vor dem Essen, die Psalmen 115 - 118 danach. ("Hallel" nennt man eine Gruppe von Psalmen zum Lobpreis Gottes; außer dem bereits erwähnten ägyptischen Hallel, der an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten erinnern soll, gehören noch die Psalmen 135, 136 und 146 - 150 dazu, die zum Morgengebet in der Synagoge gesungen werden, sowie die Psalmen 104 - 106.) Die Evangelisten Matthäus (Mt 26:30) und Markus (Mk 14:26) berichten übereinstimmend, daß die Anwesenden nach Beendigung des Mahles einen Hymnus gesungen und sich danach zum Ölberg begeben hätten, und man kann nach dem Vorstehenden als sicher annehmen, daß es sich bei diesem Hymnus um die Psalmen 115 - 118 gehandelt hat.

Die frühchristliche Musik bestand folgerichtig im wesentlichen aus Hymnen zum Lobe Gottes und gesungenen Psalmen, meist nach der 1. Lesung und während der Austeilung der geweihten Brote. Hymnen wurden und werden auf einen nichtbiblischen Text gesungen. Beispiele hierfür sind das Te Deum, der sog. Hymnus Ambrosianus, der nach mittelalterlicher Tradition Ambrosius von Mailand (339–397) zugeschrieben wird, oder auch das Gloria in excelsis Deo. Auch das Sanctus, das spätestens seit dem 4. Jh. allgemeiner Bestandteil des Ordinariums ist, wurde gesungen. Für die Psalmen ist ab dem 4. Jahrhundert auch ein Vortrag im Wechselgesang belegt, der in der Regel bereits durch eine Schola erfolgte, Wechselgesang mit der Gemeinde war dagegen eher die Ausnahme. Dieser Wechselgesang wurde auch theologisch begründet: Es sollten damit die Chöre der Engel nachgeahmt werden, die sich gegenseitig das Lob Gottes zusingen. Fand dieser Wechselgesang zwischen zwei Chören auf einen biblischen Text (z.B. Psalmen) statt, dann nannte man ein derartiges Gesangsstück Antiphon, antwortete der Chor einem Vorsänger so handelte es sich um ein Responsorium. Beide Vortragsweisen waren und sind weltweit in allen Kulturen zu finden und sind ein wichtiges Stilelement vor allem beim einstimmigen Gesang. In der Kirchenmusik waren sie wesentlich für die Entwicklung des Gregorianischen Gesanges und wurden für viele Jahrhunderte bis in die Neuzeit gepflegt.

Mit dem Tod des heiligen Augustinus im Jahr 430 reißen die spärlichen Berichte über die Kirchenmusik wieder ab bis zur Liturgiereform um das Jahr 600 unter Papst Gregor dem Großen, dem später die "Erfindung" des gregorianischen Gesanges zugeschrieben wurde (s. hierzu weiter unten), um dann erneut zu verstummen bis zur Veröffentlichung des Ordo Romanus I (eine Liturgieordnung des Bistums Rom) um das Jahr 700. Selbstverständlich waren die Melodien bis zu diesem Zeitpunkt und auch noch für die nächsten zwei Jahrhunderte mangels einer geeigneten Notenschrift ausschließlich mündlich überliefert

Die Karolingische Kirchenmusik und der Gregorianische Choral

Im achten Jahrhundert wurde römische Liturgie für das gesamte Frankenreich verbindlich übernommen. Dies beinhaltete auch die Übernahme der römischen Kirchenmusik. Mit dieser Reform wurden die seinerzeit in Rom vorherrschenden kirchenmusikalischen Stilelemente auch im übrigen Europa für die folgenden Jahrhunderte im wesentlichen festgeschrieben. Das Fränkische Reich umfaßte in jener Zeit den größten Teil der damaligen römisch-katholischen Welt, denn die Iberische Halbinsel war vom Islam beherrscht, Nordeuropa und das östliche Mitteleuropa waren noch nicht christianisiert und Südosteuropa lag unter dem Einfluß der griechischen Kirche mit ihrem Zentrum in Byzanz. Bis dahin gepflegte lokale Eigenheiten, wie etwa der "gallische" Kirchengesang im heutigen Frankreich, verschwanden mit dieser Reform so vollständig, daß wir heute so gut wie nichts darüber wissen. Nur einige wenige Überreste der vorkarolingischen Kirchenmusik haben sich erhalten, wie z.B. der nach dem heiligen Ambrosius benannte "Ambrosianische Gesang" in Mailand, von dem auch Augustinus berichtet, und Sonderformen in Benevent und der sog. "Sarum Chant") in Salisbury

Die Tilgung lokaler Liturgie- und damit auch Musiktraditionen war politisch durchaus beabsichtigt: Pippin der Jüngere und sein Nachfolger Karl der Große hatten beschlossen, "wegen der Einheit des Reiches und der Einigkeit mit dem Apostolischen Stuhl" im gesamten Frankenreich die römische Liturgie einzuführen. Der unmittelbare Anlaß zu dieser Vereinheitlichung war der für die Karolinger missliche Umstand, daß sie letztlich politische "Emporkömmlinge" waren und sich nicht auf eine königliche Abstammung berufen konnten: In der Auffassung des frühen Mittelalters fehlte ihnen also das "Königsheil" als unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiches Handeln und damit als Garant für die Loyalität ihrer Gefolgsleute. Sie mußten sich daher um eine andere Legitimation für ihre Universalmonarchie bemühen, und diese lieferte ihnen die katholische Kirche, wobei die Krönung Karls zum römischen Kaiser durch Papst Leo III. im Jahre 800 das evidenteste Ereignis war. Im Gegenzug verpflichteten sich die Karolinger, für die Ausbreitung des Christentums in ihrem Herrschaftsbereich und an dessen Rändern zu sorgen und dazu eben auch die römische Liturgie einzuführen. Mit diesem Projekt gewannen Papst Gregor II. (715-795) und seine Nachfolger mehr Kontrolle über die in den einzelnen Regionen gepflegte Liturgie, die zu dieser Zeit keineswegs überall einheitlich war. Was Pippin und Karl von Rom erhielten, war die Liturgie des päpstlichen Hofes mit der dort gepflegten römischen Musik. Auf diese Weise wurde die römische Kirchenmusik (d.h. die des päpstlichen Hofes) für das übrige Europa verbindlich.

Die Quellen über die Durchführung dieses für die damalige Zeit gewaltigen Vorhabens sind spärlich. 753 soll Pippin seinen wichtigsten Berater in Kirchenfragen, Bischof Chrodegang von Metz (um 715-766) nach Rom entsandt haben, damit dieser die dortige Liturgie und die dort übliche Kirchenmusik studiere. In einer Schola Cantorum in Metz soll diese römische Gesangsweise dann den fränkischen Klerikern gelehrt worden sein. In den Gesta Caroli, eine um 888 entstandene anekdotische Sammlung der Taten Karls des Großen, berichtet Notker der Stammler (auch Notker balbulus oder Notker von St. Gallen, 840-912), daß fränkische Sänger nach Rom geschickt wurden und von römischen Sängern, die in das Frankenreich berufen wurden. Es traten jedoch bald erhebliche Unterschiede in der Singweise zutage, da den Franken, insbesondere denen im Norden des Reiches, die römische Art zu singen und damit auch die römische Kirchenmusik völlig fremd war: Die Schwierigkeiten, die bei dieser Übernahme zu bewältigen waren, kann man vergleichen mit denen, die ein moderner Europäer zu meistern hätte, wenn er z.B. arabischen Gesang zu erlernen hätte. Bei der notwendigerweise mündlichen Überlieferung war die geforderte Einheitlichkeit, zumal über weite Entfernungen und längere Zeiträume nicht zu gewährleisten. Notker, ein Mönch, der die Kirchenmusik der damaligen Zeit übrigens entscheidend mitgeprägt hat, hat sich im ersten Buch der Gesta Caroli als Zeitzeuge und als Betroffener zu den aufgetretenen Problemen geäußert. Er berichtet, daß es zum Streit über den "richtigen" Gesang kam, auch wenn seine Ausführungen aus dem historischen Abstand heute eher erheiternd anmuten:

"Hier muß ich, glaube ich, etwas berichten, was jedoch bei den Menschen unserer Zeit schwer Glauben findet. Ich selber, der ich es schreibe, kann es wegen der allzu großen Verschiedenheit zwischen unserer und der römischen Singweise noch kaum recht glauben. Indes muß man der Wahrheitsliebe unserer Väter mehr trauen als der heutigen nichtsnutzigen Unzuverlässigkeit. Unermüdlich im Eifer für den Dienst Gottes freute sich Karl, daß zwar in der Kenntnis der Wissenschaften sein Wunsch soweit als möglich erfüllt war, aber es schmerzte ihn sehr, daß immer noch alle Provinzen oder Bezirke und Städte in den Lobgesängen Gottes, d.h. in den Melodien des Kirchengesangs, voneinander abwichen, und er bemühte sich, aus Rom einige im Kirchengesang erfahrene Geistliche zu bekommen. Der Papst, der seine gute Absicht und seinen von Gott eingegebenen Eifer billigte, schickte entsprechend der Zahl der zwölf Apostel zwölf des Singens kundige Geistliche vom apostolischen Stuhl zu ihm nach Francien. Wenn ich aber bisweilen von Francien rede, so meine ich damit alle Gebiete diesseits der Alpen. Als nun die genannten Geistlichen Rom verließen, berieten sie sich, weil ja immer alle Griechen und Römer vom Neid auf den Ruhm der Franken geplagt wurden, wie sie das Singen so verschieden gestalten könnten, dass sich nie dessen Einheitlichkeit und ein Zusammenhang im Reich und im fremden Bezirk ausbreite. Bei ihrem Eintreffen wurden sie von Karl ehrenvoll aufgenommen und nach den bedeutendsten Orten verteilt. Jeder mühte sich nun an seinem Ort so verschieden und mißtönend sie es nur ausdenken konnten, selbst zu singen und das andern beizubringen."

Tatsächlich wurden die Gesänge in der folgenden Zeit kräftig modifiziert, und das Resultat war jene, eigentlich karolingische Musik, die wir heute "Gregorianischen Choral" nennen. Da die Gesänge als "heilig", als von Gott inspiriert angesehen wurden, waren derartige Veränderungen natürlich unerwünscht: Hier liegt vermutlich eine der wesentlichen Antriebskräfte für die in den folgenden Jahrzehnten liegende Erfindung der Notenschrift, bzw. ihrer Vorläufer, den Neumen.

Bereits im neunten Jahrhundert begann man, diese Gesänge Papst Gregor zuzuschreiben, wobei man wohl zunächst Gregor II. (715-795), den Zeitgenossen Pipins und Karls, und erst später Gregor den Großen (590-604) als unmittelbaren Urheber sah. Es sieht so aus, als habe man sich bewußt die Autorität des Kirchenlehrers zunutze gemacht, um die allgemeine Akzeptanz der neuen Kirchenmusik zu fördern. Diese Absicht gelang so vollkommen, daß in späteren Jahrhunderten in der bildenden Kunst Gregor der Große stets mit dem als Taube versinnbildlichten Heiligen Geist dargestellt wurde, wie ihm dieser die entsprechenden Melodien ins Ohr flüstert, eine Darstellung, die bis in das 9.Jh. zurückreicht und auf den Gregor-Biographen Johannes Diakonus, den Autor der Vita Gregorii zurückgeht. Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jhs. hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß diese Musik in der uns bekannten Form tatsächlich erst im neunten Jahrhundert als Verschmelzung mediterraner und nordeuropäischer Singweisen entstanden ist. Der Begriff "Gregorianischer Gesang" taucht übrigens erstmals im Jahr 1833 im Zusammenhang mit der französischen Choralrestauration auf (siehe weiter unten). Ursprünglich nannte man die entsprechende Singweise Cantus planus (im angelsächsischen Sprachraum wird diese Art Musik auch heute noch als "plain chant" bezeichnet), oder auch einfach nur "Choral".

Tropus und Sequenz

Bereits zu Beginn des 9. Jahrhunderts begann man die Möglichkeiten des Chorals zu erweitern. Notker von St.Gallen berichtet, daß es Schwierigkeiten beim Auswendiglernen der z.T. langen Melismen gab, vor allem des Melismas auf das auslautende "a" des Allelujas, dem Iubilus. Aus diesem Grund wurden diese Melismen zur besseren "Merkbarkeit" mit neuem Text unterlegt, wobei es sich meist um eine Kommentierung der liturgischen Aussage handelte. Die ursprüngliche Melodie und der übrige Text blieben unverändert. Diese Art von Kontrafaktur, bei der üblicherweise jeder Ton mit einer einzelnen Textsilbe unterlegt wurde, nannte man "Tropus". In einer zweiten Variante wurden in einen bestehenden Choral neue Melismen eingefügt, jedoch so, daß stets erkennbar blieb, was ursprüngliche Substanz war und was ausschmückende Hinzufügung.

Dem Tropus verwandt und als logische Weiterentwicklung anzusehen ist eine gleichzeitig entstandene weitere Gattung, die "Sequenz". Auch bei dieser wurde zunächst ein bestehendes Melisma (meist der Iubilus) neu textiert, in der Folge wurden die neu textierten Abschnitte dann aber zu einer vom ursprünglichen Choral losgelösten, selbstständigen musikalischen Form. Auch die Melodien wurden später bearbeitet oder auch neu geschrieben. Die Sequenz war somit im Gegensatz zum Tropus nicht mehr nur Ausschmückung, sondern ein eigenständiges Musikstück. Die vorherrschende Struktur war eine paarweise Wiederholung unterschiedlich langer Melodieabschnitte auf je zwei sich voneinander unterscheidende Textversikel, wobei der erste und letzte Melodieabschnitt jeweils nicht wiederholt wurde. Das musikalische Muster war also A-BB-CC-..-Z, das des dazugehörigen Textes a-bc-de-..-z. Auch bei der Sequenz wurde jede Note mit einer einzelnen Silbe textiert. Da diese Vortragsweise dem volkstümlichen Empfinden näher stand, als die "orientalischen" Melismen, breitete sich die Sequenz nördlich der Alpen - in Frankreich, Deutschland und England - rasch aus. Es wurde eine außerordentlich reichhaltige Literatur mit meist sehr qualitätsvoller Dichtung geschaffen. Einer der fruchtbarsten Sequenzdichter des 9. Jahrhunderts war der bereits mehrfach erwähnte Notker von St. Gallen. Die Sequenz führte zu einer Erweiterung des propriums missae. Ihr Platz war zwischen den beiden Lesungen, im Anschluß an das Alleluja, aus dem sie ja ursprünglich hervorgegangen war. (Daraus leitet sich auch die Bezeichnung ab: die Sequenz (von lat. sequentia = Folge) "folgte" dem Alleluja.) Belegt ist diese Praxis in einer bereits um das Jahr 800 entstandenen Handschrift des Klosters Blandinusberg bei Gent. Wegen ihrer Beliebtheit gab es auch bald Sequenzen mit weltlichem Inhalt. Sie war die Grundlage für den seit dem 11. Jh. in Deutschland entstehenden Leich bzw. den französischen Lai. Bis in das 16.Jh. bildeten sich eine Unmenge von Unterformen und Varianten. Im Rahmen des Konzils von Trient (1545-1563) wurden die bis dahin entstandenen Sequenzen allerdings aus dem Gottesdienst verbannt, mit Ausnahme von vier, an besonders hohen Feiertagen zu singenden: Die Ostersequenz Victimae paschali laudes aus dem 11. Jh., die Pfingstsequenz Veni Sanctae Spiritus (13. Jh.), die Fronleichnamssequenz Lauda Sion (13. Jh.) und das Dies irae der Totenmesse (ebenfalls 13. Jh.). Dazu kam im 18. Jh. eine fünfte: Das Stabat mater.

Frühe Mehrstimmigkeit - das Organum

Der Gregorianische Gesang war auch die Grundlage für die sich gegen Ende des 9. Jahrhunderts entwickelnde frühe Mehrstimmigkeit. Die Voraussetzungen dafür war vermutlich das Vorliegen einer brauchbaren Notation. Auch die Verwendung der Orgel in der Kirchenmusik, deren Einführung ebenfalls in diese Zeit fällt, hat wohl die Experimentierfreudigkeit der damaligen Musiker angeregt.

Die erste Entwicklungsstufe zur Mehrstimmigkeit war das sogenannte "Organum". Hierbei wurde der Cantus firmus (lat., fester, dauerhafter oder besser "fixierter" Gesang), eine bereits existierende Melodie - z.B. des gregorianischen Gesanges - in der Hauptstimme, der vox principalis gesungen. Eine zweite Stimme, die vox organalis, folgte ihr in exakter Parallelbewegung eine Quart tiefer. Beide Stimmen konnten noch in der oberen und unteren Oktave gedoppelt werden. Die dadurch entstehenden leeren Quinten waren in späteren Epochen bis ins 20. Jahrhundert hinein verpönt, in der Musiktheorie des Mittelalters galten jedoch Quarte, Quinte und Oktave als konsonant, während die Terz und die Sext in vielen Traktaten als dissonant beschrieben wird. Dieser Umstand beruht auf den unterschiedlichen Stimmungssystemen der verschiedenen Epochen: Tatsächlich sind bei der quintenreinen Stimmung der frühen Musik die Oktaven, Quinten und Quarten wohltönend, während die Terzen soweit verstimmt sind, daß es gerade noch tolerierbar ist. Bei späteren Stimmungssystemen, besonders jenen der Barockzeit, sind dagegen die Terzen weitgehend rein gestimmt, was der Musik ein festliches Gepränge gibt, andererseits aber die Quinten dissonant werden läßt. Dies ergibt sich zwangsläufig so: Terzen und Quinten lassen sich nicht gleichzeitig rein stimmen; das ist das Grundproblem aller Stimmungen. Bei der modernen, gleichschwebenden Stimmung sind beide verstimmt und der moderne Hörer hat sich daran gewöhnt, es fällt ihm also nicht mehr auf.

Es läßt sich heute nicht mehr nachvollziehen, ob die Musizierweise des Organums aufgrund theoretischer Überlegungen quasi "auf dem Papier" entstanden ist, oder ob es eine entsprechende ausserkirchliche Aufführungspraxis gab, da es Aufzeichnungen über weltliche Musik aus dieser Zeit nicht gibt. In beiden Stimmen wurde "Note gegen Note" gesungen, d.h. jeder Note der vox principalis entsprach eine Note gleicher Länge in der vox organalis. Eines der wichtigsten Notenzeichen der römischen Choralnotation hieß "Punctum", die Ausführung erfolgte also "punctum contra punctum", Punkt gegen Punkt. Aus dieser Bezeichnung sollte sich später der Begriff "Kontrapunkt" entwickeln. In dieser Form war das Organum noch keine eigentliche Neuschöpfung, sondern als Form der Aufführungspraxis eher eine Ausschmückung von Bestehendem, und damit dem Tropus vergleichbar.

In einer zweiten Variante begannen und endeten die Stücke in beiden Stimmen auf dem selben Ton. Im Verlauf der weiteren Melodie bewegte sich die vox principalis nach oben, während die Unterstimme zunächst liegenblieb, bis der Abstand einer Quarte erreicht war, um dann der Oberstimme in diesem Abstand zu folgen. Gegen Ende des Stückes näherten sich die zwei Stimmen wieder, um auf dem selben Ton zu schließen. Die älteste Abhandlung, se beiden Arten des Organums beschreibt, ist die nach 850 in Nordfrankreich verfaßte "Musica Enchiriadis". Als Urheber sah man lange Zeit den nordfranzösischen Benediktiner Hucbald an, doch gilt diese Zuschreibung heute nicht mehr als gesichert. Neben einigen weiteren Traktaten zur Mehrstimmigkeit ist nur eine einzige Handschrift mit praktischen Beispielen erhalten: Das etwa um 1050 entstandene sogenannte "Winchester-Tropar" mit über 150 zweistimmigen Organa.

Im 11. Jahrhundert entstand aus dem "alten Organum" (nach Guido von Arrezo auch als organum durum, als "hartes" Organum bezeichnet) das "neue Organum": Auch in diesem fanden im Wesentlichen nur Prim, Quarte, Quinte und Oktave Verwendung, im Unterschied zur älteren Vortragsweise waren nun allerdings beide Stimmen in ihrer Führung unabhängig, wenn auch vorerst noch Note gegen Note gesetzt wurde. Die vox organalis begleitete hier den Cantus firmus im Wechsel der "zulässigen" Intervalle, sogar Stimmkreuzungen waren erlaubt. Später wurde auch vom streng syllabischen Satz (eine Note je Silbe) abgegangen und die dem Cantus firmus hinzugefügte Stimme mit Melismen verziert. Um 1100 schrieb dann Johannes von Afflingen, daß die Gegenbewegung um vieles schöner sei, als die Parallelbewegung. Die Einführung der Gegenbewegung war eine nicht unwesentliche Innovation, da Stimmen in Gegenbewegung unabhängiger wirken als in Parallelbewegung. (Noch in der Barockzeit wurde eine Begleitung in Gegenbewegung in Traktaten zum Kontrapunkt empfohlen, und auch heute noch gehöhrt dies zur den Standardtechniken der Organisten, wenn sie eine Begleitung zum Gemeindegesang improvisieren.) Damit war die Basis zu echter Mehrstimmigkeit gelegt.

Leider ist die Entwicklung zu diesem entscheidenden Schritt der Musikgeschichte nur sehr lückenhaft dokumentiert, da die Quellen im 10. und 11. Jh. eher dürftig sind. Erst ab 1100 werden sie wieder zahlreicher. Vier Manuskipte aus dem Kloster St.Martial in Limoges und der Codex Calixtinus aus Santiago de Compostela zeigen, wie zunehmend Gegen- und Seitenbewegungen Verwendung finden, wie die vox principalis - der Cantus firmus des ursprünglichen Chorals - in die Unterstimme verlegt und die vox organalis reich verziert wird. Zur Lösung der dabei auftretenden rhythmischen Probleme wurde der in der Unterstimme liegende Cantus firmus z.T. stark gedehnt, manchmal auf einem Ton über viele Dutzend Töne der Gegenstimme. Die Folge war, daß die Aufmerksamkeit des Hörers mehr auf die ausgeschmückte Oberstimme, das duplum gelenkt wurde, während der ursprüngliche Choral in der vox principalis lag, die nun Ténor genannt wurde (mit Betonung auf der ersten Silbe, von lat. tenere = halten, da diese Stimme den Cantus firmus "hielt", oder auch wegen der lang ausgehaltenen Noten. "Tenor" in diesem Sinne ist nicht zu verwechseln mit der hohen Männerstimme, für die sich diese Bezeichnung erst im 15. Jahrhundert eingebürgert hat. Die deutsche Sprache ist in diesem Punkt unpräzise, da sie sowohl die Tonlage, als auch die Partiturstimme als "Stimme" bezeichnet; das Englische dagegen unterscheidet hier zwischen "voice" und "part".) Aufgrund der starken Dehnung war der Cantus firmus sowohl in seinem textlichen als auch seinem musikalischen Zusammenhang nicht mehr erkennbar und diente folglich als Stütze. In der Wahrnehmung wirken die über ganze Abschnitte der vox organalis gehaltenen Töne des Tenors als Bordun. Wenn der Tenor dann schließlich zu einer neuen Note fortschritt, dann ergibt sich für einen modernen Hörer der Eindruck einer Modulation, womit die Komposition an Farbe gewinnt.

Als weiteres Novum des 12. Jahrhunderts findet man besonders in den Handschriften von St. Martial ein- oder auch mehrstimmige lateinische Gesänge, die nicht mehr auf einem bereits bestehenden gregorianischen Cantus firmus basieren, sondern bei denen die Melodie komplett neu komponiert wurde: der Conductus. Der Name leitet sich aus dem Umstand ab, daß er ein Gesang zum "Geleit" war, während einer Prozession z.B., oder beim Auf- und Abtritt des Lektors vor und nach der Lesung bzw. bestimmter Personen in geistlichen Spielen. Der Conductus war der erste Ansatz, sich vom tradierten Kanon gregorianischer Melodien zu lösen. Ebenso wie der Tropus war der Conductus in der Liturgie allerdings nur geduldet, seine Verwendung lag hauptsächlich im klösterlichen Bereich außerhalb des Gottesdienstes.

Die Schule von Notre Dame

Der Höhepunkt und das Ende der Organum-Entwicklung fällt in in das 12. und frühe 13. Jahrhundert. Das führende musikalische Zentrum dieser Zeit war Paris und die umliegende Île de France. Es war die Zeit einer sich neu formierenden Gelehrsamkeit, deren Ausdruck die Entstehung der Universität als prinzipiell neuartige Institution war. Die Universität von Paris war eine der ältesten. Als Propaedeutikum, d.h. als Vorbereitung auf das eigentliche Studium der Theologie wurden hier verpflichtend die artes liberales, die "sieben freien Künste" Rhetorik, Grammatik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und - eben auch - Musik gelehrt. So kam es, daß über mehrere Generationen hinweg musikalisch hochgebildete Kleriker an der Kathedrale von Notre Dame wirkten. Ihr Einfluß auf die weitere Entwicklung der Kirchenmusik war so bedeutend, daß man heute von der Schule bzw. Epoche von Notre Dame (oder Paris) spricht. Diese hohe Wertschätzung der Musik beschränkte sich jedoch nicht nur auf Paris oder gar nur auf die Kantorei von Notre Dame, sondern galt für alle Kirchen der gesamten Region, so daß viele Innovationen, die unter dem Begriff "Schule von Notre Dame" zusammengefaßt werden, tatsächlich an anderen Kirchen der Île de France entstanden sind.

Mit der Abkehr von der Praxis, die Organum-Stimmen "punctum contra punctum" zu singen, bestand nun zunehmend die Notwendigkeit, den zeitlichen Ablauf der einzelnen Stimmen und ihre gegenseitige Abhängigkeit in einer geeigneten Weise zu fixieren. Die erste wesentliche Neuerung der Notre-Dame-Schule bestand daher in der Aufzeichnung des Rhythmus. Mit Sicherheit wurde auch die Musik vor dem 12. Jh. nach metrischen Mustern akzentuiert - wie bereits erwähnt, hatte schon Augustinus mit seinem Werk De Musica eine Lehrschrift zu diesem Thema verfaßt - doch die bis dahin entstandene Quadratnotation enthielt noch keine Hinweise über ihre tatsächliche Ausführung. Nun wurden sechs rhythmische Modi beschrieben, von denen sich die ersten vier jeweils durch eine charakteristische Abfolge von langen und kurzen Tönen auszeichneten, während der fünfte und sechste Modus aus langen bzw. kurzen Noten jeweils gleicher Länge bestand. Anfang und Ende der ersten vier Modi fielen jeweils auf eine Note unterschiedlicher Länge, so bestand z.B. der zweite Modus auf einer Abfolge kurz-lang-kurz-lang, etwa im Sinne eines modernen 6/8-Taktes. Zur graphischen Darstellung wurden zwei oder mehr Noten mit Hilfe von Ligaturen zu einer Einheit zusammengefaßt, die auf eine einzelne Textsilbe zu singen war. Das Notenbild dieser Modalnotation entsprach somit weitgehend der auch heute noch üblichen römischen Choralnotation. Die Art und Abfolge der Ligaturen am Anfang eines Stückes war modustypisch festgelegt, die Sänger konnten also unschwer erkennen, welcher rhythmische Modus zu verwenden war. Da die mittelalterlichen Menschen einen ausgeprägten Hang zur Symbolik hatten, waren die Modi alle streng dreizählig, denn die Drei galt als Ausdruck der Dreifaltigkeit Gottes. Diese Dreizähligkeit wurde daher als "tempus perfectum" bezeichnet, symbolisiert durch einen Kreis als Sinnbild der Vollkommenheit. Abweichungen davon, wozu bei den ersten vier Modi auch bereits zählte, wenn sie auf der gleichen Quantität (auf der gleichen Notenlänge) endeten, mit der sie begonnen hatten, betrachtete man als unvollkommen, als "tempus imperfectum", symbolisiert durch einen Halbkreis. Dieser Halbkreis existiert auch heute noch als Vorzeichnung für den nicht aus einem Dreierrhythmus ableitbaren (und daher "imperfekten") 4/4-Takt.

Die Epoche von Notre Dame wurde wesentlich von zwei Musikern geprägt: Der erste war Leonin ("Magister Leoninus"), der in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts wirkte. Sein Beitrag bestand in der Schaffung des Magnus Liber organi, einer Sammlung zweistimmiger Organa für Messe und Offizium, die sich auch noch im 13. Jh. großer Beliebtheit erfreuten. Bei diesen Organa waren die Chorpartien einstimmig gehalten, während die Solostellen der Responsorien mehrstimmig ausgeführt. waren.

Leonins Nachfolger war Perotin, genannt "Perotinus magnus" (der "Große"), der bedeutendste Vertreter der Epoche, dessen Schaffenszeit in die Jahrzehnte um die Wende vom 12. zum 13. Jh. fällt. Zwei Autoren aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, Johannes de Garlandia und Anonymus IV beschreiben ihn als Meister des "Discantus". Unter dem Discantus-Stil versteht man eine gegen Ende des 12. Jahrhunderts neu aufkommende Kompositionsweise, bei der nicht nur die Oberstimme modal durchkomponiert wurde - sie also einem der sechs rythmischen Modi folgte, sondern auch der zuvor auf lange Notenwerte gedehnte Tenor. (Diese ältere Manier bezeichnet man auch als "organalen Stil") Es waren also als Neuerung nun beide Stimmen rhythmisch akzentuiert. Damit waren Organa im Discantus-Stil die unmittelbaren Vorläufer der in der Folge daraus entstehenden Motette. Während Leonin noch lange Abschnitte im organalen Stil ausführte, traten derartige Partien bei Perotin zurück. Bei einer von ihm durchgeführten Bearbeitung des Magnus Liber ersetzte er zahlreiche organalen Stellen Leonins durch neue Partien im Discantus-Stil, sog. Klauseln oder (lat.) Clausulae, wodurch insgesamt eine (auch liturgisch erwünschte) Straffung des musikalischen Ablaufes bewirkt wurde. Neben dieser Revision werden ihm zahlreiche weitere Kompositionen zugeschrieben. Dabei erweiterte er den Stimmumfang von bisher zwei auch auf drei und vier Stimmen: Zum Tenor und dem Duplum traten Triplum und Quadruplum als zusätzliche melodische Linien. Die berühmtesten Beispiele hierfür sind das Viderunt omnes für den Weihnachtstag und das Sederunt principes für die Liturgie des 26. Dezember.

Die Motette

Zu Beginn 13. Jahrhunderts entstand aus den Discantusabschnitten des späten Notre-Dame-Organums die Motette. Die Entwicklung verlief ähnlich wie bei Tropus und Sequenz drei bis vier Jahrhunderte früher: Die Discantuspartien bildeten eigenständige Musikstücke, bei denen der ursprüngliche Text im (nun rhythmisch akzentuierten) Tenor lag, während das ebenfalls rhythmisierte, aber melodisch reichere Duplum einen neuen Text enthielt, der von dem des Tenors vollkommen unabhängig war. Die Motette war also somit keine satztechnische Innovation, sondern beruhte auf der Erfindung der Polytextur, das gleichzeitige Singen unterschiedlicher Texte in verschiedenen Stimmen - oder mit anderen Worten: Das gleichzeitige Vortragen verschiedener Gesänge. Dies drückt sich auch in der Bezeichnung aus: Der Begriff leitet sich ab von franz. mot = Wort. Die Entwicklung der Mottete ging rasant vonstatten: Bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts gab es kaum noch Verbindungen zu den ursprünglichen Klauseln, statt dessen entstand eine Fülle neuer Werke der neuen Gattung, auch zahlreiche mit weltlichem Inhalt. Die Motette war die vorherrschende Gattung der Kunstmusik, nicht nur in der Kirchenmusik, sondern auch in der Musik an den Adelshöfen. Die Texte mußten nicht einmal in der gleichen Sprache geschrieben sein. Während sie anfangs noch beide lateinisch waren, gab es auch bald Motetten mit lateinischen Tenor und französischem Duplum. Besonders bei den weltlichen Motetten fand man natürlich auch solche, bei denen beide Stimmen französisch waren. Selbstverständlich entstanden auch drei- und vierstimmige Motetten. Sind bei diesen die Oberstimmen selbst wieder mit zwei verschiedenen Texten unterlegt (d.h. drei Texte incl. Tenor), dann bezeichnet man solche Werke als Doppelmotette.

Mit diesen neuen Vortrags- und Kompositionstechniken klafften liturgischer Anspruch und kirchenmusikalische Realität schließlich immer weiter auseinander. Das Problem wurde im 13. Jahrhundert zunächst pragmatisch mit der Vorschrift gelöst, daß der Priester die liturgischen Texte grundsätzlich (u.U. still) sprechen mußte, auch wenn sie gleichzeitig vom Chor oder der Schola Cantorum gesungen wurden. Der Vollzug der Texte war somit gesichert, auch wenn der Chor etwas anderes sang. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil brauchten Liturgie und katholische Kirchenmusik nicht mehr notwendigerweise übereinstimmen, was man auch noch in den Messkompositionen des 18. und 19. Jahrhunderts nachvollziehen kann. Genaugenommen musste nicht einmal das gesamte Ordinarium vom Chor gesungen werden, mehr noch: Es mußten nicht einmal die liturgische Texte gesungen werden. Nur so erklärt sich die spätere Alternatim-Praxis der sog. Orgelmesse, bei der Teile der Messvertonung nur von der Orgel rein instrumental vorgetragen wurde oder die Praxis am Hofe Ludwig XIV., Motetten während der gesamten Messe aufzuführen, auch solche zur Verherrlichung des Königs, wie z.B. eine Anmerkung des Librettisten Pierre Perrin in einer Sammlung lateinischer Motetten aus dem Jahr 1665 belegt:

Für die Messe des Königs werden gewöhnlich drei Mottetten gesungen: eine große [grand], eine kleine [petite] für die Elevation und ein Domine salvum fac regnum ["Herr, schütze den König"]. Ich habe die [Texte für die] grands lang genug gemacht, daß sie [...] vom Beginn der Messe bis zur Elevation dauern. Diejenigen der Elevation sind kürzer und können bis nach der Kommunion dauern, wenn das Domine beginnt.

Um 1300 findet sich übrigens auch erstmals der Begriff "Musica ecclesiastica", "Kirchenmusik" bei Johannes de Grocheo in seiner Schrift De Musica als Begriff für die ranghöchste Musik, im Gegensatz zur Musica simplex, vulgaris oder civilis, der einstimmigen weltlichen Musik aller Schichten. Zwischen der Musica ecclesiastica und der Musica simplex findet sich bei ihm auch noch die Musica composita, "regularis vel canonica" oder Musica mensurata: die nach festen Regeln komponierte mehrstimmige mensurale Musik, aber ohne Bindung an die Kirche.

Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Texte in der Motette führte natürlich zu neuen differenzierten rhythmisch Beziehungen zwischen den Stimmen. Zur Darstellung dieser Beziehungen war die Modalnotation nur noch eingeschränkt tauglich. Im besonderen war es nicht möglich, mit einer Ligatur zwei oder mehr Textsilben zu vertonen. Es gab also bereits ab dem zweiten Viertel des 13. Jhs. Versuche, die Länge der Töne in der Form der Noten zu kodieren, die schließlich zu einer ausgereiften neuen Notationweise führte. Um 1280 verfasste Franco von Köln eine Lehrschrift mit dem Titel "Ars cantus mensurabilis", die diese Notation beschreibt. In verschiedenen Varianten und einigen Verbesserungen war diese Notenschrift, die "Mensuralnotation" bis in das 17. Jh. in Gebrauch, um dann in die moderne Notenschrift überzugehen.

Um 1320 erschienen zwei wichtige musiktheoretische Traktate, die einerseits eine Weiterentwicklung der Motette behandelten, zum anderen aber verschiedene prinzipielle Probleme bei der Notation und beim Vortrag der zeitgenössischen polyphonen Musik beschrieben. Es handelte sich um die Schrift Ars nove Musice des Parisers Johannes de Muris und um die berühmte Ars nova von Phillip de Vitry. Diese Traktate waren so zukunftsweisend, daß man die gesamte Musik des 14. Jahrhunderts danach benannte: Ars nova. Zur Lösung der erwähnten Notations- und Vortragsprobleme schlug Phillip de Vitry eine Abkehr von der bis dahin gepflegten strengen Dreizähligkeit des Metrums vor, was die Möglichkeiten der Komposition stark erweiterte. Zur Abgrenzung der Musik früherer Epochen wurde letztere als Ars antiqua bezeichnet, was seit 1904 auch gelegentlich als Epochenbegriff verwendet wird.

Aufführungspraxis und Kirchliche Kritik im 14. bis 16.Jh.

Aus verschiedenen Gründen gab es in der Kirche Widerstände gegen die neuen Stilrichtungen, und deshalb gab es auf dem Konzil von Vienne (1311-1312) Bestrebungen, die Motette im Gottesdienst zu verbieten. Da dieser Punkt nicht abgehandelt wurde, erließ Papst Johannes XXII. 1324/25 ein entsprechendes Dekret ("Docta sanctorum Patrum"), in der er sich gegen "gewisse Neuerer" in der Kirchenmusik wandte und in dem bestimmte Satztechniken verboten wurden, Texte in der Volkssprache oder die Verwendung anderer Intervalle als Prim, Quarte, Quinte und Oktave. Auch ansonsten hatte der Papst einiges an der zeitgenössischen Kirchenmusik auszusetzen:

[...] aber etliche Anhänger einer jungen Schule [Anm.: der Ars nova] wollen, indem sie eifrig die Tempora mensurieren und neue Noten einführen, lieber ihre eigenen [Gesänge] produzieren als die alten vortragen; in Semibreven und Minimen gesungen, durch kleine Notenwerte wird es verunstaltet. Sie eilen, und sie ruhen nicht; sie machen die Ohren trunken, statt sie zu heilen; mit Körperverrenkungen ahmen sie nach, was sie [aus den Noten] hervorbringen - wodurch die zu suchende Andacht verächtlich und die zu meidende Laszivität offenbar gemacht wird.

Allerdings ist der Text so diffus abgefaßt, daß man heute trotz intensiver Forschung nicht weiß, welche satztechnischen Praktiken tatsächlich inkriminiert werden sollten. Dieses Dokument hatte allerdings bei den Zeitgenossen auch keine größere Wirkung (zur vermuteten Ausnahme s. weiter unten), wobei eventuell beigetragen hat, daß es nicht Bestandteil der damaligen offiziellen kirchlichen Rechtssammlungen war. Noch 1404, fast ein Jahrhundert später, kommentierte Aegidius de Bellamera (1392 - 1409 Bischof von Avignon):

Hier trifft Johannes XXII. eine Verordnung über den kirchlichen Gesang, aber sie wird nicht beachtet, und daher sieh für dich selbst. (Hic ordinat Johannes XXII de cantu ecclesistico sed non servatur et ideo vide per te ipsum)

Erst im Rahmen der kirchenmusikalischen Debatte des Konzils von Trient Mitte des 16. Jhs. wurde Docta sanctorum Patrum intensiv und kontrovers diskutiert.

Um die Intention zu verstehen, die hinter der erwähnten Kritik steht, muß man sich allerdings die Akustik der romanischen und gotischen Kirchen vergegenwärtigen, zumindest jener, die groß genug für einen eigenen Chor waren. Nachhallzeiten von erheblicher Dauer sind darin keine Seltenheit: Die in Docta sanctorum Patrum kritisierten kurzen Notenwerte Minima und Semibrevis können dabei relativ rasch zu einem undifferenzierten Toncluster führen, der jede musikalische und textliche Aussage verschluckt. Was die Verrenkungen betrifft, so erklärte der englische Philosoph Roger Bacon (* um 1214, gest. um 1292), daß instrumentale und vokale Musik erst dann zur vollen sinnlichen Ausdruckswirkung gelangt, wenn sie von mimischen Gebärden und körperlichen Bewegungen begleitet wird. Diese Aussage beruhte seinerzeit offenbar auf einer allgemein akzeptierten Einstellung zum Musizieren, auch Carl Phillip Emanuel Bach forderte noch ein halbes Jahrtausend später in seinem Traktat Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen genau diese Darstellung der musikalischen Affekte durch die Ausführenden. Der englische Anonymus OFM (möglicherweise der 1369 verstorbene Franziskaner und Musiktheoretiker Simon Tunstede) berichtet 1359 im Traktat Quatuor Principalia Musicae allerdings kritisch darüber daß

[...] manche beim Singen bald emporschnellen, bald sich zusammenkrümmen, gleichsam als seien sie vom Fieber geschüttelt; sie drehen sich während des Singens herum und achten darauf, ob sie wohl gesehen würden, um möglichst viel Lob [...] einzuheimsen.

Bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts beklagt sich Aelred (auch Ailred oder Ethelred, 1110 - 1167), der Abt der Zisterzienserabtei von Rievaulx (Yorkshire) darüber, daß die Musik unter religiösem Vorwand eine rein sinnliche Angelegenheit geworden sei, er fragt, was die vielen Glockenspiele und anderen Instrumente an der heiligen Stätte zu suchen hätten, das Orgelspiel, das eher Donnergebrüll als sanfter Musik entspreche, er rügt die Verzerrungen beim Gesang, der bald langgezogen, bald zerhackt dem Gewieher der Pferde ähnlich erklinge. Und er rügt, daß die Sänger gelegentlich nicht singen, sondern nur noch mit offenem Munde hauchen, als sei ihnen der Atem abgeschnitten, daß sie die Agonie Sterbender und die Ekstase Leidender nachahmen, und dazu

[...] die Lippen verzerren, die Schultern herumwerfen, den ganzen Körper in gauklerischen Gesten bewegen, jede Note von der Bewegung ihrer Hände begleiten [...] Je übertriebener solche Äußerlichkeiten Anwendung finden, desto ehrfürchtiger glaubt man Gott zu dienen.

Wenn man die verschiedenen Äußerungen zusammenfaßt, ergeben sich im Wesentlichen drei Gründe für die klerikale Ablehnung der Ars Nova:

  • Die Verwendung kurzer Notenwerte. Hier können sowohl ernstzunehmende akustische Überlegungen eine Rolle gespielt haben (s.oben) als auch ein
  • konservativer Musikgeschmack bzw. mangelnde Akzeptanz "neuer" Musik. In diese Kategorie fällt auch die Ablehnung "unreiner" Intervalle, die Art der Begleitung und spezielle Satztechniken wie Motette und Hoquetus. Ein konservativer Musikgeschmack ist in diesem Zusammenhang nicht weiter überraschend, denn in allen Religionen wird das, was bereits seit langem etabliert ist, als "heilig" angesehen, während Neuerungen stets als Menschenwerk, und daher als abzulehnen betrachtet werden. Darüber hinaus ist mangelnde Akzeptanz neuer Musik nicht ungewöhnlich und ein Phänomen bis in unsere Tage.
  • Die mimische Untermalung des Gesungenen. Auch wenn sich heute Art und Umfang nicht mehr objektivieren läßt, kann man aus den verschiedenen zeitgenössischen Äußerungen vermuten, daß die beschriebene exaltierte Affektiertheit beim niederen Volk durchaus Anlaß zur Heiterkeit gegeben haben könnte, wodurch die zu suchende Andacht tatsächlich verächtlich gemacht worden sein könnte.

Von diesen drei Punkten ist der erste eine Frage der Umgebung, nicht der Musik als solcher und der zweite ist stets nur von vorübergehender Bedeutung, da Musikgeschmack ganz allgemein nicht unwandelbar ist: Die Erfahrung zeigt, daß Musikstile, die zunächst auf teilweise Ablehnung stoßen, von späteren Generationen durchaus als "klassisch" angesehen werden können. Die Polyphonie des 16. Jahrhunderts ist hierfür ein schönes Beispiel: Von den Zeitgenossen als Musik für die Kirche keineswegs unumstritten, wurde sie im 19. Jahrhundert zum Inbegriff kirchlichen Musizierens.

Man kann also feststellen, daß sich die Kritik, dort wo sie ernstzunehmen ist, sich eher auf die Aufführungspraxis bezieht, als auf den musikalischen Gehalt. Dementsprechend hatte das Dekret Johannes XXII. auch de facto keinen größeren Einfluß auf die weitere kirchenmusikalische Entwicklung: Die Motette der Ars nova blieb die im 14. Jh. vorherrschende Form in der Kirchenmusik.

Von großem Interesse sind dagegen die Ausführungen Aelreds in anderer Hinsicht: Er spricht neben der Orgel auch von Glockenspielen und "anderen" Instrumenten, ein Hinweis darauf, daß die Kirchenmusik der damaligen Zeit entgegen späterer Lehrmeinung keineswegs ausschließlich a cappella aufgeführt wurde. Dies wird auch durch bildliche Darstellungen gestützt: zeitgenössische Abbildungen der Orgel zeigen diese oft in Kombination mit einem Glockenspiel, so daß man annehmen kann, daß zumindest dieses weite Verbreitung in der Kirche hatte. Andere Instrumente, vor allem Harfe und Fiedel lassen sich dagegen mit wenigen Ausnahmen nur indirekt belegen, durch Darstellungen des "himmlischen Orchesters" der Engel und Heiligen, die nach Aelred durchaus eine reale Entsprechung in der mittelalterlichen Kirchenmusik vermuten lassen. Daß Aelred in dieser Hinsicht ein verläßlicher Zeuge ist, belegt seine Kritik am "Donnergebrüll" der Orgel: Die Orgeln des 14. Jahrhunderts bestanden aus einem "Blockwerk"; im Englischen wird dieser Orgeltypus treffender als "full organ" bezeichnet. Sie hatten ein einzelnes Manual von etwa 3 1/2 Oktaven Umfang, dem alle Pfeifenchöre ohne jede Registereinteilung zugeordnet waren. Auf jeder Taste erklangen daher in der Regel bis zu 32 Pfeifen gleichzeitig, in der berühmten Domorgel von Halberstadt (1361) waren es sogar 56. Dadurch ließ sich ohne Zweifel ein gewaltiger Klang erzeugen, die ästhetische Wirkung war dagegen möglicherweise nicht immer befriedigend. Weitere Belege für die Verwendung von Instrumenten während der Messe finden sich 1316 beim Abt von Moissac, Alvery de Peyrac, der schreibt, daß die Melodie des Chorals nichts an ihrer Süße verliert, wenn sie nicht gesungen, sondern auf der Fiedel gespielt wird. Auch Trompeten sind belegt 1386 in Gent und 1424 in Notre Dame in Paris anläßlich des Besuchs des englischen Königs, und Schalmeien fanden Verwendung bei der Hochzeit von Charles the Bold mit Margarete von York.

Während des 14. Jahrhunderts entwickelte sich auch die Praxis, den Tenor oder auch einzelne andere Stimmen nicht mehr mit Text zu unterlegen. Statt dessen notierte man lediglich die ersten Worte an den Anfang der Notenlinie. Man vermutet, daß derartige Stimmen ad libitum nicht mehr gesungen, sondern instrumental ausgeführt wurden. Nach Rudolf Ficker (Music in the Gothic Period, Musical Quarterly 15, S. 494 (1929)) war es bis in das 16. Jh. hinein allgemeine Praxis, je nach den verfügbaren Resourcen alle Stimmen vokal a cappella, einzelne Stimmen instrumental oder auch einzelne oder alle Vokalstimmen instrumental begleitet aufzuführen, wobei die Begleitung darin bestand, die Singstimmen colla parte zu verdoppeln. Möglicherweise war diese Praxis eine Reaktion auf die klerikale Kritik an der Motette, wie sie z.B. im Dekret Docta sanctorum Patrum Johannes XXII. zum Ausdruck kam (s. weiter oben) und es läßt sich nicht ausschließen, daß eben jene Kritik eine der Ursachen für den endgültigen Einzug der Orgel in die Kirche darstellte. Während des gesamten ersten Jahrtausends war die Orgel von kirchlicher Seite als Luxusgegenstand und als Instrument des Theaters und des Kaiserkultes verpönt gewesen. Auch heute noch ist daher in allen östlichen Liturgien der Gebrauch der Orgel untersagt. In der Westkirche sind zwar seit der Karolingerzeit immer wieder auch Orgeln in der Kirche anzutreffen (z.B. im Kloster Canusium/Canosa, Apulien 915, in Winchester 990, in Reims 1003, in St. Ulrich und Afra/Augsburg 1060, in Weltenburg an der Donau 1077, in Salerno 1092), doch bis zum Ende des 13. Jhs. war der Gebrauch der Orgel in der Kirche umstritten und uneinheitlich. Im Jahre 1287 ließ die Synode von Mailand die Orgel als einziges Instrument für den Gottesdienst zu, während das Generalkapitel von Ferrara 1290 jegliches Orgelspiel in der Kirche verbot. Spätestens zu Beginn des 14. Jh. wurde die Orgel aber allgemein als adäquates Instrument für die Liturgie akzeptiert. Auf ihr ließen sich alle Stimmen eines polyphonen Satzes intavolieren, was die Möglichkeit bot, nur eine Stimme vokal auszuführen. Dies erhöhte u.a. die Textverständlichkeit. Letztes war allerdings noch im 16. Jh., zum Konzil von Trient, einer der wichtigsten Punkte in der Kirchenmusikdebatte, da in der Praxis die Einführung der Orgel die musikalischen Möglichkeiten selbstverständlich stark erweiterte, die übliche mehrstimmige Vokalmusik aber keinesfalls ersetzte.

Seit etwa der Mitte des vierzehnten Jahrhundert entwickelte sich eine zyklische musikalische Form des Ordinariums, wobei Guillaume de Machaut, Guillaume Dufay und John Dunstable Wegbereiter waren. Machauts "Messe de Nostre Dame" ist eine der frühesten geschlossenen polyphonen Vertonungen des Ordinarium Missae. Vom 14. bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts gab es im wesentlichen drei verschiedene Typen von Messkompositionen. Der erste Typus war die Parodiemesse, bei der der Komponist eigene oder auch fremde mehrstimmige Kompositionen geistlichen oder weltlichen Inhalts nochmals bearbeitete und ihnen gegebenenfalls einen neuen geistlichen Text unterlegte. An zweiter Stelle folgte ein Messtyp auf der Grundlage eines liturgischen Cantus firmus oder einer weltliche Melodie, die mit einem neuen Text versehen und mehrstimmig umkomponiert wurde. Diese Art wird Chanson- oder Cantus firmus-Messe genannt. Und schließlich folgte die frei komponierte Messe ohne Vorlage. Allerdings waren die komplett "in einem Stück" durchkomponierten Messen an der Schwelle vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert noch eher die Ausnahme. In der Regel waren die mehrstimmigen Ordinariumssätze, mit denen die einzelnen Teile gestaltet wurden, unabhängig voneinander oder aus verschiedenen Messen zusammengestellt. In den Notenhandschriften waren die Sätze nach liturgischer Funktion geordnet, d.h. erst wurden alle Kyrie-Sätze notiert, dann alle Gloria-Sätze und so fort. Allenfalls gab es Kyrie-Gloria- und Sanctus-Agnus Dei-Satzpaare. Die Auswahl und Zusammenstellung traf der Chorregent.

Nun wurde die Hauptstimme als Tenor bezeichnet, der Contratenor altus trat als obere und der Contratenor bassus als untere Begleitstimme hinzu, sie "hielten dagegen", d.h. sie sangen eine andere Melodie. Aus naheliegenden Gründen wurden die Bezeichnungen für diese Stimmen in der Folgezeit auf die zugeordneten Singstimmen übertragen: So entstanden neben dem Tenor auch der Bass und der Alt beziehungsweise Contralto oder Contratenor (oder heute englisch Countertenor) für die hohe Männerstimme im Altregister oder darüber (Die Mitwirkung von Frauen bei der Kirchenmusik war mit Ausnahme der Frauenklöster zu dieser Zeit noch unüblich bzw. sogar untersagt). Bereits bei Machaut und seinen Zeitgenossen gab es noch eine vierte Stimme über - "sopra" - diesen drei Stimmen: den Sopran. Da dieser in späteren Jahrhunderten die Melodieführung übernahm, findet man besonders in Renaissance- oder Barocksätzen für den Sopran (als Partiturstimme) auch die Bezeichnung "Cantus".

Allgemein war in dieser Zeit die Erfindung einer neuen Melodie nicht - wie in späteren Epochen - das höchste Ziel der damaligen Komponisten. So ist es zu verstehen, daß stets die gleichen Vorlagen auch für die Vertonungen des Ordinariums verwendet wurden, wie z.B. das gern bearbeitete Soldatenlied "L'homme armé", das sich in zahlreichen Messen erhalten hat. Das Bestreben ging viel mehr in Richtung einer möglichst kunstvollen mehrstimmigen Bearbeitung. Die Vielfalt der Formen, die sich auf diese Weise bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelt hatte, wurde allerdings durch das Konzil von Trient (1545-1563) stark beschnitten. Es durften keine außerkirchlicher Elemente mehr in der Messenkomposition enthalten sein, und es durften keine "anstößigen" Melodien verarbeitet werden. Tatsächlich war es bis dato an Fürstenhöfen durchaus üblich, das Eintreffen der hohen Herrschaften in der Kirche durch eine feierliche Intrada anzukündigen, oder allgemein bekannte Sauf- und Trinklieder mit geistlichem Text zu unterlegen. Was die Verwendung ausserkirchlicher Elemente in der Kirchenmusik betrifft, wurden die Anordnungen aber nicht immer und überall nachhaltig befolgt, da der Vollzug der liturgischen Texte nach wie vor dem Zelebranten oblag. Das entsprechende Beispiel der Kirchenmusik am Hofe Ludwig XIV wurde bereits erwähnt. Da es zudem Auslegungssache ist, was unter derartigen Elementen verstanden werden soll, war dieser Punkt bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil im 20 Jh. ein Anlaß ständiger Auseinandersetzungen und neuer kirchlicher Regularien.

Nichtsdestoweniger blieb die Kirche wie auch schon in den vorangegangenen Jahrhunderten der Hauptarbeitgeber für professionelle Musiker. Alle großen Komponisten der Zeit standen mindestens zeitweise in Diensten der Kirche, die meisten waren sogar selbst Kleriker. Die Nachfrage an entsprechenden Talenten war gewaltig. Der aus Venedig stammende zweite Papst nach der Kirchenspaltung, Eugen IV. (*1383; †1447), dem das erfolgreiche Wirken der Schola cantorum am Markusdom als Vorbild vorschwebte, förderte auch in anderen Städten derartige Institutionen zur Deckung des Bedarfs. Er war der festen Überzeugung, daß sich bei richtiger Organisation des Latein- und Musikunterrichts an den Domschulen die Größe und Qualität der Chöre ganz entscheidend verbessern würde - ein für die damalige Zeit durchaus fortschrittlicher Ansatz und auch noch aus heutiger Sicht nachvollziehbar. Andere hohe Würdenträger der Kirche waren selbst ausgezeichnete Musiker: Georg von Slatkonia, der 1513 erster Bischof von Wien wurde, leitet mehr als zwei Jahrzehnte die berühmte Hofkapelle Kaiser Maximilians.

Palestrina und und der stile antico

In der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts entwickelten sich in der Kirchenmusik im wesentlich zwei Strömungen. Der wichtigste Vertreter der "konservativen" Richtung war der in Rom tätige Giovanni Pierluigi da Palestrina (1514–1594), der Hauptvertreter der sog. "Römischen Schule". Sein vollstimmiger - auch mehrchöriger - polyphoner Satz vermied dramatische Kontraste sowie emotionale Extreme und behandelte Dissonanzen sehr zurückhaltend, gleichzeitig ließ er aber das gesungene Wort deutlich verstehen, zumindest in den textlastigen Stellen des Gloria und des Credo. Diese Textverständlichkeit wurde vom Konzil von Trient (1545 bis 1563) ausdrücklich eingefordert. Dort trug man sich mit heftigen Bedenken, daß die zeitgenössische Kirchenmusik mit ihrer Komplexität den Text unverständlich werden lassen könnte. Andere Vorbehalte betrafen das Eindringen weltlicher Melodien als Cantus firmus, wie z.B. in den zahlreichen Mesen auf "L'homme armé". Der Streit zwischen den Fraktionen, deren eine die Mehrstimmigkeit zugunsten des gregorianischen Chorals völlig aus der Kirche verbannt sehen wollte, wurde erbittert und mit Leidenschaft geführt, so daß sich der Papst selbst genötigt sah, in die Diskussion einzugreifen. Da das Konzil hauptsächlich zusammengetreten war, um Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Reformation zu erarbeiten, wollte man sich letztlich den aktuellen Strömungen nicht gänzlich verschließen - auch nicht in der Musik. Außerdem bot sich hier die Möglichkeit, sich gegen die bei manchen reformierten Kirchen oder Sekten außerordentlich asketische Gottesdienstgestaltung abzugrenzen. Man kam daher in der 22. Sitzung am 17. September 1562 zu dem gemäßigten Schluß, auch die Polyphonie zuzulassen, sofern "die Worte von allen klar verstanden werden können". Mit der Umsetzung der Beschlüsse am päpstlichen Hof wurde 1564 eine achtköpfige Kommission unter der Leitung der Kardinäle Carlo Borromeo (1538-1584; 1610 wegen seiner Verdienste um die trientinischen Reformen heiliggesprochen) und Vitellozzo Vitelli (1531–1568) betraut, die zu diesem Zweck von mehreren Komponisten Messen bestellten, mit der ausdrücklichen Auflage, daß "die Worte so gut verständlich sein mögen, wie möglich". Am 28. April 1565 wurden diese Messen im Hause von Vitelli gesungen, damit die Kardinäle überprüfen konnten, ob die Worte tatsächlich gut zu verstehen waren. Palestrinas berühmte Missa Papae Marcelli soll der Legende nach zu diesem Vorsingen entstanden sein. Die von der franko-flämischen Schule beeinflußte Satztechnik Palestrinas vermeidet zumindest bei den textreichen Sätzen Gloria und Credo Mehrtextigkeit zugunsten einer Gleichtextigkeit; außerdem werden Partien mit dichtem Text weitgehend homophon deklamiert, während in textarmen Teilen der polyphone Stil beibehalten wird. Dadurch konnte eine klare Verständlichkeit des Textes gewährleistet werden; Palestrinas Musik wurde deshalb in der Folgezeit diejenige Musik, die dem offiziellen Verständnis der päpstlichen Kurie von Kirchenmusik am nächsten kam - ebenbürtig dem Gregorianischen Choral. Man erachtete seine Musik als erfüllt mit "pia gravitas", mit "frommer Würde" und "fern allem Unreinen und Lasziven". Allerdings kann bei der Auswahl Palestrinas auch ein nicht von der Hand zu weisender römischer "Kulturchauvinismus" eine gewisse Rolle gespielte haben - er war immerhin zu verschiedenen Zeiten Kapellmeister an den römischen Hauptkirchen St. Peter, St. Giovanni in Laterano und an St. Maria Maggiore. Die Überlieferung, daß Palestrina mit der oben erwähnten Messe die Kirchenmusik "gerettet" hätte, die anderenfalls "verboten" worden wäre, ist allerdings eine Legende, die erst im 19. Jahrhundert im Zuge des Cäcilianismus entstanden ist. Andere bedeutende Vertreter der Römischen Schule waren F. Anerio, F. Soriano, G.Ingenieri und die Spanier Lois de Victoria (Ludovico de Vittoria) und Christobal Morales.

Die Musik der Römischen Schule, von Monteverdi später als stile antico bezeichnet, stand weitgehend in einer a cappella-Tradition, die sich im Laufe der Renaissance herangebildet hatte und am päpstlichen Hof heute noch gültig ist. Es ist jedoch falsch, anzunehmen, daß die gesamte Kirchenmusik der Epoche unbegleitet gewesen wäre. Dies ist ein Mißverständnis, das während der Barockzeit entstand und besonders im 19.Jh. weit verbreitet war. Zwar gab es in der Folge des Konzils von Trient auf dem Konzil von Mailand (1565) auf Betreiben Kardinal Borromeos den Beschluß, nur noch die Orgel zuzulassen, doch wurde diese Bestimmung bereits drei Jahre später (1568) auf einer Synode in Ravenna wieder relativiert: Nach Maßgabe des zuständigen Bischofs waren nun auch andere Instrumente wieder zulässig. Es war eher die Regel, daß einzelne Stimmen instrumental begleitet wurden, schon allein aus Gründen der Intonationshilfe. So wurde z.B. im Jahr 1594 an St. Antonio in Padua verfügt, daß

"[...] die gewöhnliche Anzahl der Sänger 16 nicht überschreiten soll, 4 in jeder Stimme, und dem Bass soll eine Posaune hinzugefügt werden, und dem Sopran ein Cornetto [Anm.: ein Zink] [...] und die außergewöhnlichen Musiker sollen nicht mehr als 5 sein, das ist: 4 Posaunen und eine Violine, und wenn genügend Soprane anwesend sind, wird das besagte Cornetto den außerordentlichen Musikern zugezählt, das macht 6 und nicht mehr."

Hinzu kam selbstverständlich die Orgel, die nicht gesondert erwähnt wurde.

Giovanni Gabrieli: Mehrchörigkeit und das konzertierende Prinzip

Neben der weitgehend konservativ geprägten Römischen Schule entstand eine "progressive" Richtung, die sog. "Venezianische Schule", deren Hauptvertreter der Venezianer Giovanni Gabrieli (ca. 1555 - 1612) war, ein Neffe von Andrea Gabrieli. Von 1575 bis 79 war Giovanni Gabrieli Mitglied der von Orlando di Lasso geleiteten und weit berühmten Münchner Hofkapelle und versah anschließend in seiner Heimatstadt das Amt des ersten Organisten an San Marco. Er bevorzugte eine akkordische Satzweise, erhöhte die Anzahl der Chöre bis auf vier und den gesamten gesungenen Tonumfang auf bis zu vier Oktaven. Seine Kompositionen sind von hoher Emotionalität, eine Eigenschaft, die der Gegenreformation nicht unerwünscht war. Er erreichte dies durch teilweise schroffe rhythmische Akzentuierung, der Ausprägung einer entwickelten Dynamik und den Einsatz chromatischer oder sogar dissonanter Harmoniefolgen, was zur damaligen Zeit ausgesprochen revolutionär gewirkt haben muß. Außerdem führte er ein selbständiges Instrumentarium aus Blas- und Streichinstrumenten ein, das sich je nach den musikalischen Erfordernissen mit den Sängern abwechselte oder auch zusammenwirkte. Auch dies war eine Neuerung, denn in der Praxis des 16. Jahrhunderts bestand die übliche Begleitung (unabhängig von einer gegebenenfalls vorhandenen instrumentalen colla parte-Unterstützung der Vokalstimmen) lediglich in einer Orgelstimme, die über die unterste Vokalstimme improvisierte, dem sogenannten basso sequente, dem "folgenden Baß". Die Weiterentwicklung des basso sequente sah so aus , daß die Begleitung schließlich von der untersten Gesangsstimme unabhängig wurde und so eine Funktion als Harmonieträger übernehmen konnte. Hieraus entstand schließlich der basso continuo (Generalbaß), ohne den die gesamte Musik der folgenden eineinhalb Jahrhunderte nicht denkbar ist. Man glaubte lange, daß das erste Beispiel dieser neuen Art der Begleitung in einer Motettensammlung von Grossi da Viadana zu finden sei, die 1602 in Venedig mit dem Titel Cento concerti ecclesiastici (Einhundert Kirchenkonzerte) veröffentlicht wurde. Allerdings hatte bereits im Jahr 1599 Asprillo Pacelli unter dem Titel Corici psalmi et motecta eine Sammlung von geistlichen Stücken veröffentlicht, die alle wichtigen stilistischen Neuerungen aufwies. Pacelli war zur damaligen Zeit in Rom tätig und hatte neben anderen Stellen auch zeitweilig das Amt des Kapellmeisters am Petersdom inne.

Die von der Venezianischen Schule zur Vollkommenheit entwickelte neue Form war die des Concertos, bei dem unterschiedlichste Klangkörper zusammenwirkten. Möglicherweise hat sich diese Form direkt aus der damaligen Musizierpraxis heraus entwickelt: Viele Chöre hatten nicht genügend Sänger, um die besonders bei mehrchörigen Werken geforderte Anzahl der Stimmen ausreichend zu besetzen. Man behalf sich daher pragmatisch dadurch, daß ein Teil der Stimmen einfach nicht gesungen, sondern von der Orgel oder anderen Instrumenten übernommen wurde. Manche Stimmen waren auch nur gering besetzt, so daß deren Partien mehr oder weniger solistisch ausgeführt wurden. Auf diese Weise kam es zwangsläufig zu "Lücken" in den Gesangspartien, die instrumental gefüllt wurden, Stellen mit chorischem oder solistischem Gesang wechselten somit mit Orgelsoli und Instrumentaleinlagen ab. Das Ergebnis war, wie das Zeugnis einiger Zeitgenossen belegt, nicht immer ästhetisch befriedigend. Es ist der Verdienst der Venezianischen Schule, zu der auch Claudio Monteverdi und Heinrich Schütz zählen, hier aus der Not eine Tugend gemacht zu haben, und dieses konzertierende Musizieren von vorne herein als Stilelement verwirklicht zu haben. Dieser "Venezianische Kirchenstil" mit allen seinen charakteristischen Aspekten, wie den Gebrauch mehrerer Chöre, Solisten und einem von den Singstimmen unabhängigen Instrumentarium war bis zum Ende des 17. Jahrhunderts stilbildend. Dazu kam eine "vertikale" Satzstruktur mit Betonung der akkordischen Beziehung der einzelnen Stimmen, die sich von der "horizontalen" Kompositionsweise der früheren Polyphonie deutlich unterschied. Das Modell hierfür war das italienische Madrigal, nicht mehr die französischen Motette. Monteverdi bezeichnete diese "neue" Manier als seconda prattica, als zweite Praxis, neben dem nach wie vor existierenden stile antico der Römischen Schule. Diese seconda prattica war die Basis für die Musik der Barockzeit

Auch die Vertreter des stilo antico erhöhten ab Ende des 16. Jahrhunderts die Anzahl der Chöre. Die Komponisten des ausgehenden 16. Jahrhunderts hatten entdeckt, daß durch entsprechende räumliche Verteilung der Klangkörper die Wirkung gesteigert werden konnte, und zwar um so mehr, je höher der räumliche und klangliche Aufwand war. Der musikalische Höhepunkt dieser Entwicklung war zweifellos Thomas Tallis' 40-stimmiges Spem in alium von ca.1570 8 für Chöre zu je 5 Stimmen. Werden die Chöre im Kreis um das Publikum angeordnet, dann ergeben sich aussergewöhnliche Raumeffekte, zum Teil "rotiert" die Musik sogar um die Zuhörer. Gefördert wurde diese Entwicklung zumindest teilweise durch den Umstand, daß die Kirchenmusik bis in die Zeit der Wiener Klassik oft den Charakter höfischer Repräsentationsmusik hatte. Die Anzahl der Stimmen wurde daher zum Teil bis ins Absurde gesteigert. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Missa Salisburgensis, auch "Salzburger Festmesse" oder "Salzburger Domweihmesse" genannt, ein 53-stimmiges Monumentalwerk, das lange Zeit dem in Rom geborenen Orazio Benevolio zugeschrieben wurde, einem der Hauptvertreter des sogenannten "römischen Kolossalbarocks". Vermutlich ist jedoch Heinrich Ignaz Franz Biber als Schöpfer anzusehen, der vermutlich auch der Komponist des ebenfalls 53-stimmiger Hymnus "Plaudite Tympana" ist. Trotz des imposanten Klangeindruckes derartiger Werke war ihr Bau im Grunde oft einfach, die wichtigsten formalen Elemente waren Echoeffekte, Wiederholungen und andere imitative Wendungen.

Der Josephinismus und die Kirchenmusik

Unter dem Einfluß der ab 1594 als neuer Kunstgattung entstandenen Oper wich der bis dahin in der Kirchenmusik gepflegte Stil im siebzehnten Jahrhundert einer neuen konzertanten Großform. Die Messkompositionen des 17. und 18. Jahrhunderts verwendeten nun allgemein die Form des Concertos mit seinem Wechsel von vokalen und instrumentalen Passagen, und innerhalb dieser auch noch zwischen Soloteilen bzw. Concertino und Tutti. Bachs h-moll Messe ist ein exemplarisches Beispiel für diesen neuen Stil. Ergänzt wurden die zur Verfügung stehenden Stilelemente später noch durch die neuen Formen des Rondos und des Sonatenhauptsatzes. Während des 17. Jahrhunderts wurde die Oper die wichtigste Musikgattung, und als solche stilprägend, besonders in Italien. Der Einfluß der Oper, besonders der neapolitanischen, setzte sich im achtzehnten Jahrhundert verstärkt fort, so daß auch noch die Messen Haydns, Mozarts und anderer Komponisten dieser Zeit mit ihrem Wechsel von Chor- und Soliteilen der Oper stilistisch nahe stehen. Das Hauptaugenmerk der Barockmusik, und speziell der barocken Oper, lag auf dem Ausdruck von Affekten. Dies galt auch in der Kirchenmusik. Grundlage der in Musik auszudrückenden Affekten war der zu vertonende Text. Der Komponist hatte dabei alle stilistischen Freiheiten, die mit einzelnen Worten oder Phrasen des liturgischen Textes verkünpften Emotionen in Musik umzusetzen. Dadurch wurde der Text als solcher oft zum Anlaß für eine künstlerisch zwar höchsten Ansprüchen genügenden Komposition, aber gerade daduch auch zum autonomen Kunstwerk.

Diese musikalische Nähe der Kirchenmusik zur Oper, wie berechtigt oder unberechtigt dieser Vorwurf auch immer war, war wiederum Anlaß für kirchliche Kritik (s. hierzu auch die Einträge über Mozart und Michael Haydn): In diesem Sinne erließ Papst Benedikt XIV. zur Vorbereitung des Heiligen Jahres 1750 am 19. Februar 1749 die Enzyclica "Annus qui" ad episcopos per ditionem constitutis um eine vorbildliche und andachtsfördernde Gottesdienstgestaltung für die zahlreich erwarteten Pilger zu gewährleisten. Wie bereits zum Konzil von Trient wurde die Pflege des gregorianischen Chorals empfohlen, dort, wo die Musik zum Gottesdienst figuraliter - also begleitet und mehrstimmig - gepflegt wurde, war das Prinzip "nihil profanum", nichts Profanes, auf das Strengste zu befolgen. Im Besonderen wurden alle Stilelement verpönt, die in irgendeiner Weise an die Oper oder an sonstige weltliche Musik erinnern hätten können. Neben der Orgel war offiziell nur die Verwendung von Streichern und Fagotten zulässig, "soweit sie zur Unterstützung und Verstärkung der Chorstimmen erforderlich" waren. Auch die "Zither" bzw. der(das) Psalter(ion) - gezupft (Zither oder Spitzharfe) oder geschlagen (Hackbrett), die auch heute noch in der liturgischen Musik Italiens eine gewisse Rolle spielen, waren erlaubt. Während der Advents- und Passionszeit wurde der Gebrauch von Instrumenten grundsätzlich abgelehnt. Ausdrücklich verboten waren Instrumente, die der "Theatermusik" dienten; besonders erwähnt wurden Pauken, Hörner, Trompeten Oboen, Flöten, Harfen, Mandolinen und "ähnliche Instrumente". Auch der Zink (das Cornetto), der noch bis Ende des Jahrhunderts besonders nördlich der Alpen zur Chorunterstützung verwendet wurde, befand sich unter den geächteten Instrumenten.

Interessant ist die Gegenüberstellung der in dieser Enzyclica verbotenen Instrumente mit dem Psalm 150:

Halleluja!
Lobt Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn in seiner mächtigen Feste!
Lobt ihn für seine großen Taten, lobt ihn in seiner gewaltigen Größe!
Lobt ihn mit dem Schall der Hörner, lobt ihn mit Harfe und Zither!
Lobt ihn mit Pauken und Tanz, lobt ihn mit Flöten und Saitenspiel!
Lobt ihn mit hellen Zimbeln, lobt ihn mit klingenden Zymbeln!
Alles was atmet, lobe den Herrn!
Halleluja!

Von den sieben im Psalm aufgeführten Instrumenten, waren nun mindestens vier verboten! Ein Widerspruch zum kanonisierten Text? Tatsächlich wurde hier eine Tradition wirksam, die sich auf Augustinus zurückführen läßt: Wie oben erwähnt, war es in der frühen Christenheit grundsätzlich unerwünscht, Instrumente während der Liturgie einzusetzen. Um diese Praxis gegenüber dem Psalm 150 zu rechtfertigen, deutete Augustinus die dort aufgeführten Instrumente als Symbole für die Heiligen, die das Lob Gottes singen. Die Autorität des Kirchenvaters erlaubte es daher, den Text nicht wörtlich auslegen zu müssen. Darüber hinaus scheint es zumindest in Italien tatsächlich erhebliche Mißstände bei der Gottesdienstgestaltung gegeben zu haben. Noch 20 Jahre später konnten Leopold und Wolfgang A. Mozart entsprechende Zustände beobachten, zwei Zeitzeugen, die in Musikangelegenheiten der voreingenommenen Berichterstattung sicher unverdächtig sind. Am 10. Februar 1770 schrieb Leopold aus Mailand an seine Frau:

"[...]Unterdessen haben wir hier verschiedene Kirchenmusiken zu hören Gelegenheit gehabt; und unter anderen gestern das Seelenamt oder Requiem für den alten Marquese Litta [...] Das Dies irae von diesem Requiem dauerte gegen 3 viertelstund [...] Du mußt dir nicht einbilden, daß ich dir eine Beschreibung der hiesigen Andachten machen werde; ich könnte es für ärgerniss nicht thun: alles besteht in der Musik und im kirchenputz; das übrige ist abscheulichste Ausgelassenheit [...] Nun komme ich eben von einer Vesper so über 2 Stunden gedauert [...]"

Offensichtlich war die Observanz der päpstlichen Weisungen in Italien nicht sonderlich ausgeprägt. Zusammen mit den unzweifelhaft vorhandenen Fehlentwicklungen in der Gottesdienstgestaltung kam auch die Kirchenmusik in Verruf. Italien war als Musiknation jedoch viel zu sehr der Oper verschrieben, als daß hier wesentliche Änderungen herbeizuführen gewesen wären. Es entstanden daher nach wie vor bis weit in das 19. Jahrhundert hinein Messkompositionen, die eine stilistische Nähe zur übrigen italienischen Musik der Zeit nicht verleugnen konnten, nicht unbedingt immer zu deren Nachteil.

Auf fruchtbareren Boden fielen die Anordnungen dagegen nördlich der Alpen. Dort deckten sie sich vollständig mit den aufklärerischen (und nationalkirchlichen!) Bestrebungen Kaiser Josef II. Das 18. Jahrhundert war geprägt vom Übergang des Barock zur Aufklärung und zum Klassizismus. In der Barockzeit herrschte eine überschwengliche, emotional betonte Religiosität vor. Ihr kultischer Ausdruck war eine, der Majestas Domini angemessene Entfaltung größten Prunkes und höchster Kunst. Demgegenüber waren die Ziele der Aufklärung eine vernunftmäßig begründete Sittlichkeit und Tugend, auch in der Religion. Diesen Zielen entsprechend sollte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Liturgiefeier der sittlichen Volkserziehung dienen. Es fand also ein Wandel statt von einer emotionalen Gläubigkeit hin zu einer rational geprägten Religiosität. Die Mittel hierzu wurden in einer rationalen Einfachheit der Gottesdienstgestaltung gesehen, wozu auch die Verwendung der Volkssprache und die aktive Einbindung der Gemeinde gehörte, Maßnahmen, die auch 2 Jahrhunderte später im Zweiten Vatikanischen Konzil (wieder) aufgegriffen wurden. Mit Hofrestrikt vom 26. Januar 1754 erging daher in Österreich ein ausdrückliches Verbot der Verwendung von Pauken und Trompeten während des Gottesdienstes:

"Nach Gesinnung und Rath. Sr. päpstl. Heiligkeit werden in allen großen und kleinen Kirchen der Residenzstadt Wien, sowohl in als auch vor der Stadt die Pauken und Trompeten bei der zu haltenden Kirchenmusik, ingleichen auch bei den Prozessionen eingestellt und ein gleiches in den gesamten Erbländern zu beobachten verordnet."

Nach einer zwischenzeitlichen Lockerung des Verbotes ab 1767 wurden die Bestimmungen 1783 nochmals verschärft (und u.a. mit Einsparungen bei den Musikerhonoraren begründet). Für etwa 13 Jahre kam das kirchenmusikalische Schaffen in Österreich zumindest in Wien und einigen anderen großen Städten weitgehend zum Erliegen: Auch Mozart und Josef Haydn haben in diesen Jahren keine Messe mehr geschrieben. Anordnungen wie diese waren kein Einzelfall. Überall im katholischen Deutschland gingen die Bestrebungen in die gleiche Richtung, zum Teil sogar mit Unterstützung des hohen Klerus: Es wurde eine rationale Vereinfachung des Gottesdienstes angestrebt, eine Verminderung der Anzahl der Feiertage, des äußeren Schmuckes der Gotteshäuser, des Kerzengebrauches und natürlich auch eine Einschränkung der überkommenen Kirchenmusik, die mancherortes nicht einmal vor dem Choral haltmachte. Die Reformen gingen also weit über das von Benedikt XIV. geforderte Maß hinaus. Die Orchestermesse sollte dem deutschsprachigen Gemeindegesang weichen. 1777 erschien in Landshut zu diesem Zweck ein deutsches Kirchenliederbuch mit dem Titel "Der Heilige Gesang zum Gottesdienst in der römisch-katholischen Kirche", das textlich vom Münchner Hofkammerrat Franz Seraph von Kohlbrenner zusammengestellt und vom Herrenchiemseer Chorherren Norbert Hauner vertont worden war. Es war einer der ersten Versuche, ein einheitliches, bistumübergreifendes Liederbuch zu schaffen, es war somit der unmittelbare Vorfahr des "Gotteslobes". Mit Unterstützung des bayerischen Hofes fand es in Deutschland einige Verbreitung. 1790 wurde es von Michael Haydn neu editiert und mit eigenen Kompositionen "vermehret und verbessert". 1781 wurde es auch in Salzburg eingeführt. Im Hirtenbrief zur 1200-Jahrfeier des Bistums verkündete Mozarts ehemaliger Dienstherr, Erzbischof Hieronimus Graf Colloredo am 29. Juni 1782:

"Wir verordnen demnach und befehlen hiermit gemessenst, daß mit Anfange künftigen 1783ten Jahres in allen Kirchen unseres Fürstlichen Erzstiftes, wo kein ordentlichr Chor gehalten wird [Anm.: also in allen, außer den Stifts- und Klosterkirchen] bey allen Lob- und Seelenämtern, bey Litaneyen, vor und nach der Predigt, bey Processionen, vor und nach den Christenlehren, vor und nach der Schule und bey jeder anderer schicklichen Gelegenheit diese Liedersammlung [Anm.: gemeint ist die von Kohlbrenner/Hauner] fleißig und nirgends eine andere Musik oder Gesang mehr gebraucht werden solle; gleichwie auch Wir, wenn Wir in eine der obgedachten Kirchen kommen, nichts anders als Gesänge aus nur gedachter Sammlung hören wollen [...]"

Das vordergründige Ziel der Reformen war die Förderung des deutschen Gemeindegesanges im Sinne aufklärerischer Volkserziehung zu Tugend und Moral. Hinter diese erzieherische Aufgabe hatte das emotional betonte Erlebnis des Mysteriums der Liturgie zurückzutreten. Damit traten die Reformbestrebungen in schärfsten Gegensatz zu der durchaus sinnenfreudigen Volksfrömmigkeit des späten 18. Jahrhunderts. Für die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts war es keine Frage, daß die Entfaltung kunstvollsten Prunkes, die der Huldigung ihrer absolutistischen Feudalherren, Fürsten und Herrscher selbstverständlich war, in noch weitaus höherem Maße Gott zukam. Fast überall wurden die Neuerungen (die sich natürlich nicht nur auf die Kirchenmusik beschränkten) gegen den offenen Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt, in Rüdesheim 1787 sogar mit militärischer Gewalt. An anderen Orten, wie etwa in Tirol wurden die entsprechenden Dekrete schlichtweg ignoriert. Man muß hierbei auch bedenken, daß die Kirchenmusik für weiteste Teile der Bevölkerung seinerzeit die einzige Gelegenheit war, qualitativ hochwertige Musik zu hören, das, was man heute unter "E-Musik" subsummiert, und das auch noch kostenlos. Insofern hatte dieser "Kunstgenuß" durchaus auch seine "volkserzieherischen" Qualitäten, auch wenn dies von den Reformbefürwortern nicht gesehen wurde. Allmählich formierte sich daher Widerstand gegen diesen Rigorismus, auch und besonders innerhalb der Kirche. 1783 erschien in Salzburg eine Streitschrift mit dem Titel "Gründliche Anmerkungen in bedenklichen Fragen über den Erzbischöflichen Salzburgischen Hirtenbrief", darin wird angemerkt:

"Die Katholische Kirche hat jederzeit für die Zierde des Hauses Gottes größte Sorge und Aufmerksamkeit verwendet. Und dieses ist bis auf unsere Zeiten als eine gegen die allerhöchste göttliche Majestät anständigst-allerschuldigste Pflicht von den Rechtgläubigen angesehen und gepriesen worden."

und weiter:

"Die Mißbräuche können ja abgestellt werden, ohne daß ein nackender Gottesdienst eingeleitet werde"

Der Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Bartholomäus Anton Migazzi, Graf zu Wall und Sonnenthurm (1714-1803) , opponierte über Jahrzehnte hinweg heftig gegen die kaiserlichen Beschlüsse, die an vielen Orten mit Wissen und Billigung der Geistlichkeit übertreten wurden. Ihm haben wir die Lockerung der Beschränkungen zwischen 1767 und 1783 zu verdanken, und damit vermutlich auch das kirchenmusikalische Werk Mozarts und einen Großteil der Messen Josef Haydns, die in dieser Zeit entstanden sind. Tatsächlich liefen die Reformbestrebungen (von denen die Kirchenmusik nur ein Teil war) im deutschsprachigen Raum nämlich im Grunde genommen auf eine Beschränkung kirchlicher Einflußmöglichkeiten im Sinne einer Säkularisierung hinaus - die ja dann 1803/1804 auch mit äußerster Härte durchgeführt wurde. Auf dem Gebiet der Kirchenmusik zumindest hatten die Beschränkungen auf Dauer keine Breitenwirkung und wurden in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts wieder nach und nach aufgehoben. Das Ziel der Erbauung des Volkes hatte dort, wo es tatsächlich realisiert worden war, entgegen den hehren ursprünglichen Absichten zu mehr Trivialitäten als zu qualitätsvollem Gesang geführt. Der Ersatz der Orchestermesse bei den Hochämtern zugunsten des "Absingens der Normalschullieder" hatte jedoch den positiven Seiteneffekt, daß in der Folge ein neues Genre der Messkomposition entstand: Die deutsche Singmesse, von der die Deutsche Messe von Schubert, die Singmesse "Hier liegt vor deiner Majestät im Staub die Christenheit" von Michael Haydn oder auch Brahms' Deutsches Requiem die prominentesten Vertreter sind.

Die Kirchenmusik war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und zum großen Teil noch weit in das 19. Jahrhundert hinein weitgehend für den Tag komponiert. Aus diesem Grund ist der Fundus erhaltener Kompositionen nahezu unübersehbar und es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß noch so manches heute vergessene Meisterwerk ein Dornröschendasein in den Archiven fristet (s. hierzu den Eintrag über Franz Xaver Schnizer, sowie den externen Link zur Musikedition Tirol des Instituts für Tiroler Musikforschung).

Das 19. Jahrhundert: die cäcilianistische Reform

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts löste die Sinfonie die Oper als Motor der musikalischen Entwicklung ab. Dieser Trend zeichnete sich schon mit den späten Sinfonien Joseph Haydns und Wolfgang Amadeus Mozarts ab und erreichte im 19. Jahrhundert mit den großen Sinfonien von Mahler, Bruckner, Brahms und anderen ihren Höhepunkt. Auch in der Kirchenmusik hatte diese Entwicklung ihre Entsprechung. Bereits die Messen der späten Wiener Klassik waren vom Umfang her nur noch bedingt für den liturgischen Gebrauch tauglich. Mozarts c-moll-Messe KV 427 aus dem Jahr 1883 ist vermutlich deshalb unvollendet geblieben, weil ein Werk dieser Größenordnung seinerzeit keine Chance gehabt hätte, während des Gottesdienstes aufgeführt zu werden - ihre Entstehung fiel in die Zeit erneut verschärfter Beschränkung der Kirchenmusik in Österreich - und ein Konzertbetrieb, wie er im 19. Jahrhundert entstehen sollte, existierte noch nicht. Und sogar wenn es einen solchen Konzertbetrieb gegeben hätte, ist es ausgeschlossen, daß in diesem Rahmen ein liturgisches Werk aufgeführt worden wäre: Bis in die zwanziger Jahre war in Wien eine Aufführung einer Messe außerhalb der Kirche verboten.

Nichtsdestoweniger wurde die Messe als musikalische Gattung im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr säkularisiert und zog schließlich doch aus der Kirche in den Konzertsaal: Beethovens Missa Solemnis, Berlioz' und Verdis Requiem, Gounods Cäcilienmesse, Liszts Ungarische Krönungsmesse und seine Graner Missa Solemnis, Bruckners f-moll-Messe oder Rossinis oder Puccinis Missa di Gloria sind prominente Vertreter dieser konzertanten Messen, die aufgrund ihres zeitlichen Umfanges, der Größe des benötigten Orchester- und Chorapparates und des dafür erforderlichen Raumes in der Kirche für den liturgischen Gebrauch nicht mehr oder nur noch eingeschränkt tauglich sind. Auch die drei "großen" Messen Schuberts (C-Dur, As-Dur, Es-Dur) fallen in diese Kategorie. Berlioz' Requiem, ein Staatsauftrag für eine grandiose Trauerfeier für die Gefallenen der Julirevolution 1830, erforderte neben einem riesigem Chor und einem riesigem Orchester von 130 Instrumentalisten einschließlich 16 Pauken noch vier mit Blechbläsern besetzte Nebenorchester, die in den vier Himmelsrichtungen aufgestellt waren und im Tuba mirum die Posaunen des Jüngsten Gerichtes symbolisieren sollten. Übertroffen wurde dieser Gigantismus nur noch vom Te Deum des selben Komponisten: Es benötigte etwa tausend Mitwirkende, davon allein einen 600-köpfigen Kinderchor, sicher das gewaltigste Dokument der katholischen Kirchenmusik, das je geschaffen wurde, aber für praktische liturgische Zwecke völlig unbrauchbar. Rossinis "Petite messe solenelle" ist der Endpunkt dieser Entwicklung. Es handelt sich hier um ein Kammerstück, das bereits von vorneherein nicht für den Gebrauch in der Kirche konzipiert war. Auch Leonhard Bernsteins "Mass" als Beispiel aus dem 20. Jahrhundert zählt zu diesem Typus. Hier wird sogar der Text des Ordinariums nur noch als Inspiration genommen und zusammen mit anderen lateinischen und griechischen Texten verarbeitet. Tragischerweise wurden viele dieser Messen, die heute meist außerhalb der Liturgie aufgeführt werden, von Komponisten geschrieben, die der Kirche sehr nahe standen: Liszt wurde selbst Priester, Gounod trug sich lange ebenfalls mit diesem Gedanken, und der Katholizismus von Anton Bruckner ist unbestritten.

Bereits zu Beginn des neunzehnten Jahrhundert zeichnete sich jedoch auch schon eine Gegenbewegung zu diesen Tendenzen ab. Unter dem Einfluß der im Zeichen des Historismus beginnenden "Choralreform" propagierte man in Deutschland und Frankreich die Rückkehr zum sog. "Palestrinastil", dem vermeintlichen a-cappella-Stil des 16. Jahrhunderts, dem allein man neben dem Gregorianischen Choral die Eignung zu "wahrer" Kirchenmusik zubilligte. Dieser Stil wurde auch von Literaten wie Herder, Wackenroder oder Tieck propagiert. In Paris wurde 1817 von Alexander-Ètienne Choron die Institution Royale de Musique classique et religieuse zur Förderung des Verständnisses alter Kirchenmusik gegründet, 1828 veröffentlichte Guiseppe Baini seine große und die weitere Entwicklung stark beeinflussende, aus heutiger Sicht allerdings ziemlich unkritische Biographie Palestrinas, und 1825 erschien eine Streitschrift des deutschen juristn Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840) mit dem Titel Über die Reinheit der Tonkunst, die in scharfer Form für die Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts und gegen die des vergangenen Jahrhunderts (also des 18. und frühen 19.) Partei nahm. Parallelen findet dieser rückwärtsgerichtete "romantische" Purismus in der bildenden Kunst, in der die Gruppe der "Nazarener" die Entwicklung der letzten Jahrhunderte verwarfen und zum Stil Raffaels und seiner Vorgänger zurückzukehren versuchten, sowie in der Architektur: Bis in das frühe 20.Jarhundert hinein wurden Kirchen im neoromanischen und neogotischen "Stile" errichtet. Allerdings verhielten sich die Musiker zunächst uneinheitlich: Kaspar Ett und Johann Kaspar Aiblinger, beide Protagonisten der süddeutschen Kirchenmusik, schrieben sowohl mehr oder weniger archaisierende Imitationen im "Palestrinastil" als auch herkömmliche Orchestermessen, während z.B. der in Berlin tätige Eduard August Grell die Verwendung von Instrumenten generell als "Verfallserscheinung" ansah.

Die Erneuerungsbewegungen des neunzehnten Jahrhunderts hatten vorerst durchaus positive Seiten. Mit der Säkularisierung und der Trennung von Kirche und Staat zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam das reiche kirchliche Musikleben vielerorts zunächst abrupt zum Stillstand, da die bisherigen von der Kirche unterhaltenen Kantoreien, Orchester, Singschulen etc. aufgelöst wurden. Eine Wiederbelebung erfolgte durch die nun entstehenden Kirchenchöre, deren Mitglieder meist ehrenamtlich tätige Laien waren und sind. (s. hierzu exemplarisch den Artikel über die Kirchenmusik in Benediktbeuern im 19. Jh.) Die Bildung eben dieser Chöre wurde nun aktiv und mit großen Engagement durch die Kräfte der Erneuerungsbewegung unterstützt und gefördert. Im 19. Jahrhundert entstand aus diesem Grund eine außerordentlich große Anzahl kirchenmusikalischer Werke, die besonders die Leistungsfähigkeit dieser Laienchöre berücksichtigen. Ein weiterer positiver Effekt war die Rückbesinnung auf den großen Fundus vorklassischer Musik. Die vielbeachtete Wiederaufführung der Matthäuspassion von Bach durch Mendelssohn-Bartholdy oder des Miserere von Gregorio Allegri durch den Münchner Hoforganisten Kaspar Ett und die Herausgabe der Werke Palestrinas oder Orlando di Lassos sollen hier nur stellvertretend als Beispiele genannt werden. Besonders großen Verdienst erwarben sich auch die Mitglieder der Abtei Solesmes in Frankreich, die mit großer Kompetenz den Gregorianischen Choral restaurierten.

Diese Erneuerungs- oder richtiger Restaurationsbestrebungen in der Kirchenmusik werden heute als Cäcilianismus zusammengefaßt. In Deutschland lag das Zentrum dieser Bewegung in Regensburg und wurde dort vor allem durch die Bischöfe Johann Michael Sailer (1751-1832) und dessen Nachfolger Valentin v. Riedel (1802-1557) gefördert. 1868 wurden die Bestrebungen durch die Gründung des "Allgemeinen Cäcilien Verein" (ACV) zur Förderung der kirchlichen Chormusik organisiert. Gründer war Franz Xaver Witt, ein Chorallehrer am Regensburger Priesterseminar, der zur Verbreitung der Regensburger Ideen bereits seit 1866 die "fliegenden Blätter für katholische Kirchenmusik" herausgegeben hatte. 1868 wurde diese Zeitschrift dann zum Vereinsorgan des ACV und erscheint seither unter dem Titel "Musica Sacra". Der ACV, der am 16. Dezember 1870 mit dem Breve "Multum ad movendos animos" durch Pius IX. die Approbation als Körperschaft päpstlichen Rechtes erlangte, verstand sich damals als Institution zur "Reinerhaltung" der Kirchenmusik und gab zu diesem Zweck einen Katalog mit "geeigneten" Kompositionen heraus. Die bedeutenden Meister sakraler Musik des 19. Jahrhunderts, wie A. Bruckner, F. Liszt oder C. Franck entsprachen nicht den Vorstellungen des ACV, der seinerzeit auch heftig gegen die Kirchenmusik der Wiener Klassik polemisierte: Man verglich die Kirchenmusik des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit dem bekannten Repertoire außerkirchlicher Musik der selben Epoche und kam zu dem Schluß, daß jene "zu weltlich" und vor allem "zu opernhaft" sei. Mozart, Haydn und Beethvoen wurde der Vorwurf gemacht, ihr unzweifelhaftes Talent an weltliche Werke verschwendet zu haben. Ein typisches Zeitdokument, wie viele Intellektuelle damals darüber dachten, sind E.T.A. Hoffmanns Schriften Rezension von Beethovens C-Dur-Messe sowie Alte und neue Kirchenmusik, die im Juni 1813 bzw. August/September 1814 in der Allgemeine Musikalische Zeitung, die später im 2. Band der Serapionsbrüder erneut aufgegriffen wurden. Bei dieser Kritik wurde allerdings übersehen, daß jede Zeit ihre eigenen Stilmittel auch in der Kirchenmusik entwickelt, und die jeweiligen Zeitgenossen den Unterschied zwischen sakraler und säkularer Musik durchaus zu erkennen vermögen. Darüber hinaus waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts überwiegend nur sakrale Werke aus dem 16. und 17. Jh. bekannt, und auch davon nur die bedeutendsten; der Vergleich mit der übrigen Musik der Epoche war im Gegensatz zur Musik der Wiener Klassik nicht möglich, da die musikwissenschaftliche Quellenforschung noch in den Kinderschuhen steckte und ganz allgemein die Aufführung von Werken früherer Epochen ziemlich ungebräuchlich war. Dies hat ebenfalls dazu geführt, die "fromme Würde der altklassischen Polyphonie" gegenüber der Kirchenmusik der Wiener Klassik oder auch der Frühromantik überzubewerten. Dazu kam oft auch ein sehr formales Verständnis der frühbarocken Kirchenmusik: Es entstand eine große Anzahl epigonaler Werke minderer Qualität. Anläßlich einer Aufführung der d-moll-Messe Anton Bruckners schrieb dessen Gönner Moritz von Mayfeld am 20. Dezember 1864 im Linzer Abendboten zu diesem Thema:

"[...] In keinem Zweige der Kunst haben so viele Flachköpfe gesündigt, als gerade im kirchlichen. Jeder Schulmeister, mit dem Generalbaß behaftet, glaubt im musikalischen Weinberge des Herrn arbeiten zu dürfen und wählt die Kirche, wo die an anderen Orten herrschende Gefahr eines lauten Fiasko's nicht existiert, zu seinem Tummelplatze. So kommt es, daß die ohnehin schon zum Überdruß breitgetretenen, stereotypen Geleise der Kirchenmusik tunlichst noch mehr ausgefahren werden [...]"

Pius X. und die Kirchenmusik: der verlorene Anschluß an die musikalische Entwicklung

Der Cäcilianismus erhielten am 22. November 1903 höchsten päpstlichen Segen, als Pius X. im Motu proprio "Tra le Sollecetudini" Gregorianik und "altklassische" Vokalpolyphonie als eigentliche und verbindliche Kirchenmusik vorschrieb, wobei besonders diejenige Palestrinas als vorbildlich hingestellt wurde. Das "Motu proprio" wurde als "kirchenmusikalisches Gesetzbuch für die ganze Kirche" interpretiert und hatte dementsprechend weitreichende Auswirkungen. Da der Chor mit dem Vollzug der liturgischen Texte eigentlich Klerikerdienst verrichtet, wurde die Mitwirkung von Frauen untersagt. Zur Begleitung war nur noch die Orgel zulässig, andere Instrumente nur in Ausnahmen und nach besonderer Genehmigung. Die entsprechende Ausführungsbestimmung für das Bistum Rom vom 2. Februar 1912 lautete:

"Ohne ausdrückliche Genehmigung, einzuholen zu jedem einzelnem Anlaß beim Apostolischen Vikar, darf kein Instrument außer der Orgel oder dem Harmonium [sic!] in der Kirche gespielt werden, und es wird hiermit verfügt, daß es nicht Unsere Absicht ist, eine derartige Genehmigung zu erteilen, außer in außergewöhnlichen und speziellen Umständen"
(zitiert nach Gregory Sunol, Text Book of Gregorian Chant, Tournai: Desclee & Co., 1930, S. 186.)

Doch auch die Orgel hatte nur stützende Funktion für den Gesang, längere Präludien, Intermezzi und Soli waren untersagt. Gesang in der Volkssprache (also Gemeindelied!) bei besonders feierlichen liturgischen Handlungen wurde ebenfalls verboten. Im wesentlichen wurde damit die katholische Kirchenmusik auf dem Entwicklungsstand des 16. Jahrhunderts festgelegt, was aus künstlerischer Sicht selbstverständlich sehr einengend war, ungeachtet der wunderbaren Musik Palaestrinas und seiner Zeitgenossen. Eine der großen Verdienste der der Choralreform war jedoch die Restaurierung des Gregorianischen Chorals, der über Jahrhunderte nur noch in verstümmelter Form überliefert worden war, zumindest seit der Editio Medicaea, die Ende des 16. Jahrhunderts in Folge des Konzils von Trient entstanden war. Nach 1903 wurde daher auf Basis des Motu proprio eine Neuausgabe beschlossen, die später so genannte Editio Vaticana. Allerdings lehnten die Mönche von Solemnes, die hierfür unschätzbare Vorarbeiten geleistet hatten, relativ bald eine Mitarbeit ab, da es zu Auseinandersetzungen bezüglich der wissenschaftlichen Methode kam.

Trotz der hinter dem päpstlichen Dekret stehenden Autorität waren die Auswirkungen des Motu prorio von 1903 allerdings nur von vorübergehender Natur, was die kirchliche Aufführungspraxis bestehender Werke anbelangte, z.B. der Messen von Mozart oder Joseph Haydn. Den Anschluß neuer Kirchenmusik (im engeren Sinne als Musik für die Gestaltung der Liturgiefeier) an den Stand der allgemeinen musikalischen Entwicklung hat dieses Papier allerdings nachhaltig behindert. Die nach wie vor außerhalb des eigentlichen kirchlichen Rahmens entstandenen Messen renomierter moderner Komponisten, wie z.B. Hindemith, Strawinski, Kódaly, Janácek, Poulenc, Penderecki haben kaum Eingang in die kirchenmusikalische Praxis gefunden. Genaugenommen existiert seit über einem Jahrhundert so gut wie kein nennenswerter Austausch mehr zwischen der Kirchenmusik und der zeitgenössischen außerkirchlichen Musik. Die Orientierung der Kirchenmusik an "mißverstandenen Traditionen sowie an leichter Auffass- und Realisierbarkeit" (Joachim Herten, Musica Sacra, Heft 5, 2002) auf der einen Seite und die allgemeine Musikentwicklung hin zu höherer struktureller Komplexität andererseits haben dazu geführt, daß die schon immer bestehende Kluft im 20. Jahrhundert fast unüberbrückbar geworden ist: Die zum Teil hohen technischen Anforderungen an Chöre und Orchester bzw. mangelnde Übung in der Aufführung zeitgenössischer Werke sowie ein eher konservativ geprägtes Musikverständnis von Klerus und Kirchenbesucher spielen nun eine prohibitive Rolle, Hörgewohnheiten zum Verständnis zeitgenössischer Kirchenmusik konnten sich nicht heranbilden. Dies ist allerdings um so unverständlicher, als die Erfahrungen mit "Neuer" Musik außerhalb der Kirche zeigen, daß die emotionale, spirituelle und meditative Kraft dieser Kompositionen meist weit höher ist, als die von "traditionell" geprägten modernen Tonschöpfungen. Auf einem Workshop, der 2002 auf Schloß Hirschberg in Oberbayern zu diesem Spannungsfeld zwischen Kirche und Gegenwartsmusik stattfand, brachte der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann in seinem Einführungsreferat das Problem auf den Punkt:

"Seit mindestens hundert Jahren findet kaum mehr ein dauerhaft fruchtbarer Dialog zwischen der katholischen Kirche und der autonomen Musik der jeweiligen Gegenwart statt. Denn zu einem Zeitpunkt, der in der säkularen Musikgeschichte den Übergang von der Spätromantik zur Klassischen Moderne markiert, bekannte sich die katholische Kirche ausdrücklich und nachhaltig zum musikalischen Historismus. Im Jahr 1903 ließ Papst Pius X. in seinem Motu proprio 'Tra le Sollecetudini' verlauten: Eine musikalische Komposition '... ist um so heiliger und liturgischer, je mehr sie sich in Verlauf, Eingebung und Geschmack der gregorianischen Melodik nähert; und sie ist um so weniger des Gotteshauses würdig, als sie sich von diesem höchsten Vorbild entfernt.' Damit ist die lange, fast bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dauernde Stille zwischen Kirche und moderner Musik kurz und bündig erklärt"

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Neuausrichtung: Kirchenmusik nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil

Eine offizielle Neubewertung der Kirchenmusik erfolgte mit dem 2. Vatikanischen Konzil. Die Konstitution über die heilige Liturgie ("Sacrosanctum Concilium") widmet ihr ein eigenes Kapitel. Die überlieferte Kirchenmusik gilt nunmehr als "Reichtum von unschätzbarem Wert", den es zu "bewahren und zu mehren" gilt, die Kirchenchöre sollen nachhaltige Förderung erfahren. Die Bistümer sind gehalten, eine Kommission für Kirchenmusik einzusetzen. Der Gregorianische Gesang wird zwar nach wie vor als der "der römischen Liturgie eigene Gesang" herausgestellt, es wird aber nicht mehr - wie im motu proprio - ein mehr oder weniger verbindliches historisches Vorbild zum Maßstab gesetzt, sondern entscheidend ist nunmehr die Funktion der Musik innerhalb der liturgischen Handlung. Die stilistischen Mittel, mit denen dieser Zweck erreicht wird, sind dabei nebensächlich, wenn sie dem Geist der Liturgie entsprechen. Dieser Wandel wurde verursacht durch die Abkehr von einer ethnozentrisch europäischen Sichtweise, die einer global operierenden Weltkirche nicht mehr angemessen erschien. Dies wird besonders deutlich im Artikel 119 der erwähnten Konstitution:

"Da die Völker mancher Länder, besonders in der Mission, eine eigene Musiküberlieferung besitzen, die in ihrem religiösen und sozialen Leben große Bedeutung hat, soll dieser Musik gebührende Wertschätzung entgegengebracht und angemessener Raum gewährt werden [...] Deshalb soll bei der musikalischen Ausbildung der Missionare sorgfältig darauf geachtet werden, daß sie im Rahmen des Möglichen imstande sind, die überlieferte Musik der betreffenden Völker sowohl in den Schulen als auch im Gottesdienst zu fördern."

Durch die Zulassung der Volkssprache wurde die katholische Kirchenmusik nun auch offiziell geöffnet für die evangelische und die zeitgenössische Musik. Weitere Stilelemente kamen aus dem amerikanischen Kulturkreis hinzu: Spirituals, Gospelsongs, Folksongs und Lieder der Erweckungsbewegungen der 50er Jahre und der Bürgerrechtsbewegung waren Vorbilder für Musiker, die einen neuen Ansatz in der Gestaltung der Eucharistiefeier suchten. Auch direkte afrikanische Einflüsse (ohne Umweg über Amerika) haben steigende Bedeutung. Der Typus der Messe, der auf diese Weise entstand, wurde einige Zeit als "Rhythmusmesse" bezeichnet, heute hat sich die Bezeichnung "Neues geistliches Lied" (NGL) eingebürgert. In den letzten Jahren hat die Abtei von Taizé hier eine gewisse Führungsposition eingenommen, auch über die katholische Kirche hinaus. Unter traditionell "akademisch" geprägten Kirchenmusikern und von Teilen des Klerus ist diese Entwicklung nicht überall vorbehaltlos begrüßt worden. Sie verweisen auf eine Forderung des 2. Vaticanums, daß die Kirchenmusik der Liturgie würdig und angemessen sein muß. Diese Forderung wurde in einem Rundschreiben Papst Johannes Pauls II. vom 22.11.2003 zum 100. Jahrestages des Motu propriu "Tra le Sollecetudini" erneut unterstrichen. Keiner, der sich ernsthaft mit der musikalischen Gottesdienstgestaltung auseinandersetzt, wird dies in Frage stellen. Über die Form, in der dies zu geschehen hat, ist man sich jedoch schon seit zwei Jahrtausenden uneins, wie dieser Essay vielleicht deutlich gemacht hat. Beim Neuen geistlichen Lied ist zu berücksichtigen, daß es lediglich eine moderne Form des Gemeindegesanges darstellt, sein Qualitätsanspruch ist daher auch nur von dort zu beurteilen, Vergleiche mit anspruchsvolleren Sparten der Kirchenmusik sind demnach unzulässig. In der Konstitution Liturgicae instaurationes von 1970 wird sogar ausdrücklich festgelegt, daß sich die Kirchenmusik auch neuerer Formen bedienen soll, die "... der Eigenart der Völker und dem Empfinden des modernen Menschen entsprechen". Wie schwierig es ist, mit der Frage der "Würdigkeit" umzugehen, mag ein kleines Beispiel beleuchten: Als in der Christmette 1818 in Oberndorf zum ersten Mal "Stille Nacht, Heilige Nacht" als Duett für Tenor und Bass mit Gitarrenbegleitung erklang, war es dem Geist der Weihnachtsliturgie fraglos angemessen. Gesetzt den Fall, es wäre bisher nicht in der Kirche gesungen worden: Im Zeichen einer permanenten vorweihnachtlichen Profanierung, Kommerzialisierung, Verkitschung und Wiederholung bis zum Überdruß - wäre es heute noch "würdig", neu in den Kanon kirchlicher Gemeindelieder aufgenommen zu werden? Die Antwort sei jedem selbst überlassen. Letzten Endes gibt es keine "schlechte" Musik, allenfalls unangemessene Texte und schlechte Interpreten...